Kategorien
Tagesmail

Montag, 15. Oktober 2012 – Was ist ein Intellektueller?

Hello, Freunde der Dichter,

„Endlos ist die Welt der Menschen,

zartgrün das Gras auf den Gräbern,

Mutter, was nutzt dein Klagen?“

„Der westliche Kapitalismus muss auseinanderbrechen für den Frieden und die Seelenruhe der ganzen Menschheit. Immer mehr Nichteuropäer werden feststellen, dass es auch im demokratischen Westen weder Gerechtigkeit noch Gleichheit gibt und auch dort habgierige Funktionäre und andere Profitgeier sich schamlos nach dem Muster verhalten: dem Sieger gehört die Beute.“ Von wem?

Deutschland liebt scharfe Kritiker, wenn sie – aus dem Ausland kommen. Deutschland zeichnet gern kritische Künstler aus, wenn sie – ausländische Künstler sind, denen man gönnerhaft einen xenophilen Gutmenschenbonus verleiht: ihr da draußen braucht noch die Empörung, diesen Kinderkram haben wir hinter uns.

Inländische Künstler müssen dem „Tugendterrorismus“ absagen und bei der unbeirrbaren Betrachtung des Bösen in allen Variationen einen Orgasmus bekommen. Giovanni di Lorenzo setzt inländische Netz-Kritik an Politikern dem Schafott des Robespierre gleich. Konsequenterweise müsste er die Preisverleihung an Liao Yiwu als Schafott-Attacke gegen die chinesische Führung begreifen.

Es gibt Fremdschämen und Fremdpreisen. Wäre Liao Yiwu Günter Grass, würden sie über ihn herfallen. So bewundern sie den Ausländer, weil sie alle inländischen Intellektuellen schon lange beseitigt haben. Welcher Binnenmoralist würde noch für Gleichheit eintreten? Für solche Blümchenpolitik werden Ausländer

eingeflogen, damit das schlechte Gewissen hiesiger Laudatoren nicht überhand nimmt.

Das obige Zitat von Yiwu ist gefälscht.

Richtig müsste es heißen: „Dieses Großreich – das chinesische – muss auseinanderbrechen“, weil das „Wertesystem des chinesischen Imperiums längst in sich kollabiert ist und nur noch vom Profitdenken zusammengehalten wird. Gleichwohl ist diese üble Fessel des Profits so weitreichend und verschlungen, dass sich die freie Welt der wirtschaftlichen Globalisierung noch ausweglos in ihr verheddern wird.“

Welche Werte Yiwu meint, kann man einer Textpassage entnehmen, die hier nicht abgedruckt wurde. Im Testament des 27-jährigen Tibetaners Jampa Yeshi, der sich aus Protest gegen die chinesische Besatzungspolitik selbst verbrannte, stehen die Sätze:

Würde ist die Seele eines Volkes, ist der Mut, die Wahrheit zu suchen und die Richtschnur für zukünftiges Glück Freiheit ist der Ort des Glücks für alle Lebewesen. … Wir fordern grundlegende Menschenrechte und hoffen auf die Unterstützung der ganzen Welt.“

Da gibt es Westler, die die Menschenrechte als Erfindungen Europas betrachten, die für den Rest der Welt nicht gelten sollen. Nach Meinung des Westens gibt es Menschen, die geschaffen sind für Freiheit, unter der sie wirtschaftlichen Erfolg verstehen – und Menschen, die Freiheit nicht verdient haben, weil sie sie nicht zur Geldvermehrung nutzen. Die meisten Menschen würden sich in Freiheit gar nicht wohl fühlen und fühlten sich von ihr überfordert. (Auszüge der Rede des chinesischen Schriftstellers Liao Yiwuin in der TAZ)

Was wissen wir von China? Zwischen 1959 und 1962 verhungerten in China unter Mao Tse-Tung und Deng Xiaoping beinahe 40 Millionen Menschen. Zwischen 1966 und 1976 wurden 20 bis 40 Millionen zu Tode gefoltert. Das sind etwa so viele Tote wie alle Opfer des Zweiten Weltkrieges zusammen. Ein Riesenreich hat einen Weltkrieg gegen sich selbst geführt.

Noch immer sei man weltweit der Ansicht, so der Dichter, dass China durch wirtschaftlichen Erfolg geradezu zwangsläufig Reformen durchführen müsste. Noch immer aber, so der Redner, seien dieselben Henker an der Macht, die Menschen inhaftieren und umbringen würden.

Unter dem Deckmantel des freien Handels würde der Westen mit den Henkern gemeinsame Sache machen. Westliche Konsortien häuften Dreck an. Der Einfluss des Drecks, der sich als Wert ausgebe, nehme weltweit überhand. Den Dreck muss man sich ganz konkret vorstellen. Der industrielle Aufschwung verwandelt das Riesenreich in eine große Müllkippe.

Kommentare zur Rede des chinesischen Preisträgers sind so gut wie nicht zu finden. Niemand will sich an dieser moralterroristisch reduzierten Komplexität die Finger beschmutzen. Die Moralisten der Redaktion winken ab, seit vor Tagen ein Karl-Heinz Bohrer die verbohrte Tugendlastigkeit der Linken verdammt hat.

Auffällig, dass bei solchen Feiern kein DGB-Sommer, keine linke Sarah Wagenknecht anwesend sind. Ja, so gut wie keine aktiven Politiker, die keine Lust haben, sich von einem dahergelaufenen Dichter die Meinung geigen zu lassen. Fast nur die Moraltrompeter der Berliner Renommierpolitiker waren zu sehen. Herta Müller umarmte ihren Freund Yiwu. Hat man von ihr jemals eine Philippika gegen den westlichen Dreck gehört?

Deutschland ist eine große Exportnation. Wir exportieren sogar unsere moralischen Vorstellungen, weil sie in fremden Zungen so anrührend pittoresque wirken.

Dasselbe Phänomen lässt sich an Kirchentagen beobachten, wenn die obligate schwarze Musikgruppe aus dem Kongo eingeflogen wird, um das weltweite Christentum eindrucksvoll zu präsentieren. Selbst altgediente Kirchgänger beginnen sich im Takt des Heiligen Geistes zu wiegen, wenn niedere Kolonialvölker für Stimmung sorgen. Zu diesem Zweck hat Gott sie auch erschaffen. Go down Moses.

Wenn Helmut Schmidt, Chef des Giovanni di Lorenzo, mit Rührung von seiner Begegnung mit Mao oder Deng spricht, verliert er nie ein Wörtchen über die Millionen Toten, die jene als notwendige Opfer betrachteten, um den Zug der Geschichte ins Reich der Freiheit zu beschleunigen.

Man stelle sich vor, China werde sich in den nächsten Jahren nicht demokratisieren, sondern das Unterdrückungssystem perfektionieren. Wie würde der Westen reagieren? Schon heute interessiert er sich nur für seine Geschäfte im Land der Mitte und dass China bei den westlichen Finanzkrisen aushilft.

Noch schlimmer wäre es, wenn das Riesenreich sich humanisieren würde. Dann wäre die baldige Nr. 1 der Weltmächte eine selbsterarbeitete Demokratie und es gäbe keine Gründe mehr für Westzyniker, das demokratische Modell für den Westen als überholt zu empfinden. In diesem Fall drohte die ganze Welt, demokratisch zu werden, vermutlich sogar kapitalkritisch. Alpträume für hiesige Weltökonomen und Tycoons.

Der Westen ist mitnichten daran interessiert, dass China sich den Menschenrechten öffnet. Wie das Land gerade ist, so soll es bleiben.

Wir sahen gestern eine Kuriosenfeier, wo in der besten deutschen Stube – einem Gotteshaus – ein seltsamer Mensch aus dem fernen Osten mit Gong und Gesang Sätze fürs Poesiealbum emittierte. Niedlich, gell?

Da werden deutsche Buchhändler nicht müde, einen jährlichen Intellektuellen aus dem Ärmel zu ziehen, um ihre Geschäfte zu beflügeln. Inzwischen sind es nur noch Importe aus Algerien, China, Türkei und sonstigen Ländern, die hier niemand kennt.

Nicht, weil die deutschen Reiseweltmeister diese Länder nicht kennen würden. Ganz im Gegenteil, gerade weil die Deutschen dort schon massenhaft in Urlaub waren. Tourist sein und Land und Leute kennen ist für deutsche Weltenbummler unvereinbar. Kommen sie nach Hause, hegen sie Antipathien gegen dieselben Leute, von denen sie sich im Urlaub bedienen ließen.

Kant war noch das genaue Gegenteil. Er war nirgendwo, außer in seinem ollen Königsberg, hielt geografische Vorlesungen über die ganze Welt und nannte den Menschen ein „Wesen, dessen Anlagen sich vollkommen nur in der Gattung entfalten können.“ Was bedeutet, ein Mensch braucht alle Menschen, ein Volk braucht alle Völker, um sich zu entfalten.

Auf diese Idee käme kein deutscher Weltenbummler, der gerade wohlig-angewidert durch die Favelas von Rio de Janeiro pflichtpilgert. Würde er noch hören, dass der Mensch nach Kant ein Wesen ist, der die Menschheit nie bloß als Mittel, sondern immer auch als Zweck behandeln soll, verstünde er nur Bahnhof. Er hat nur gelernt, den Mitmenschen als nützliches Objekt seiner Interessen zu benutzen.

Der Mensch als Zweck ist der Mensch. Der Mensch als Mittel zum Zweck ist das auf zwei Beinen gehende Tier, das ich so geschickt manipuliere, dass es meinen Interessen dient. Ob es will oder nicht.

Womit wir die beiden möglichen Arten des Intellektuellen schon vorgestellt hätten. Hat der Intelligenzler – Schriftsteller, Dichter, Maler, Dirigent – einen unabhängigen Standpunkt oder ist er Sprachrohr und Lobbyist einer Interessengruppe?

Sartre erbrachte das Kunststück, eine Philosophie der unbegrenzten Freiheit zu entwerfen und sich gleichzeitig den Interessen des stalinistischen Moskau zu unterwerfen, weshalb sein Freund Camus ihm bekanntlich die rote Karte zeigte.

Während der Gefährte der schönen Simone durch seinen Kotau eine weltweite Karriere bei den Linken machte, erlebte Camus das Geschick des einsamen, sinnlos steinewälzenden Sisyphos, von dem er behauptete, er müsse dennoch als glücklicher Mensch angesehen werden.

Na ja, da muss einer ganz schön trotzig gewesen sein, um zu glauben, was er glauben wollte. Auch der französische Mensch ist im Prinzip ein zoon politicon und kein ewig bestraftes Lasttier, das dem sinn-überladenen Abendland beweisen muss, dass Sinnlosigkeit noch sinnvoller sei als die autoritären Zwecke einer göttlichen Geschichte.

Sartre hat der Idee des Intellektuellen keinen Gefallen getan, als er sich an die Rockschöße einer dialektischen Heilsgeschichte heftete. Doch was war diese Idee?

In der Aufklärung gab‘s noch keine Intellektuellen, sondern nur philosophes. Ein philosophe ist bei Diderot ein normal scheinender Mensch, der die Kühnheit aufbringt, der Menschheit einen Dienst zu tun, den sie sich selber nicht antun kann. Nämlich seinen Mitmenschen „wie mit einer Fackel in der Hand“ voranzugehen. (Hier sieht man den typischen Unterschied zwischen Frankreich und Deutschland: der vorangehende deutsche Herr mit Zipfelmütze und dem Leuchter in der Hand wurde zum legendären Propagandisten für ein probates Abführmittel.) Deshalb nannten die Aufklärer ihre Epoche das Zeitalter des Lichts.

Erst 100 Jahre später wurden aus Philosophen Intellektuelle. Offenbar war der Anspruch der „Freunde der Wahrheit“ oder „Wahrheitssucher“ nicht mehr aufrecht zu erhalten, weil die Wahrheit schon erheblich angekränkelt war.

Heute hat sich der Spieß wieder gedreht. Es macht sich gut, sich in einer Talkshow als Philosoph vorstellen zu lassen. Doch kein Mensch fragt, wie man Wahrheit suchen kann, wenn man das peinliche Phänomen gerade abgeschafft hat.

Bei Philosophen bestand noch der Anspruch, die ungelösten Probleme der Gesellschaft in Abgeschiedenheit durchdacht zu haben, um sie dann der Gesellschaft vorzulegen, damit sie auch in der Praxis gelöst werden können.

Sire, sagten Sie: Probleme lösen? Oder habe ich mich verhört? Heute werden keine Probleme mehr gelöst. Im Gegenteil, wer den Anspruch erhebt, Probleme zu lösen, ist ein terrible simplificateur oder ein schrecklicher Vereinfacher.

Politisch müsste man von Populist reden. Das Wort kommt von populus. Populist ist demnach ein dreister Bursche, der sich anmaßt, dem Volk Nützliches zu bringen – oder das Nützliche an die Wand zu malen und das Volk an der Nase herumzuführen. Dass beides durch ein einziges Wort dargestellt werden kann, wirft kein gutes Licht auf die deutsche Denkernation.

Es soll schon Populisten zweiter und höherer Art geben, die zum Zwecke des Stimmenfangs das Gegenteil von schönen Versprechungen machen.

Kennedys berühmtes Motto becircte nicht wenige Jugendliche: Fragt nicht, was der Staat für euch tun kann, fragt euch, was ihr für den Staat tun könnt. Wenn man will, könnte man von einem bewusst antipopulistisch eingesetzten Populismus sprechen.

Auch ein gewisser Führer ließ bei seinem auserwählten Volk keinerlei Zweifel aufkommen, dass Gott vor das Paradies noch etliche kleinere Schlächtereien gesetzt hatte.

Poppers Auffassung von Philosophie war noch ganz im Sinn von Sokrates und Kant: wenn sie keine Probleme lösen will, soll sie ihm gestohlen bleiben.

Bei diesem Kriterium könnte man heute fast die ganze Klasse der Intellektuellen, Feuilletonisten und Edelschreiber einsparen, denn diese „Beobachter“ der Zeit denken gar nicht dran, Probleme zu lösen.

Denn es wäre anmaßend, die Komplexität derart zu reduzieren, dass jeder Mann auf der Straße den Durchblick kriegen könnte. Was macht der nämlich, wenn er glaubt, etwas verstanden zu haben? Im Netz entfacht er einen shitstorm, dass den Leistungsträgern die Ohren wackeln.

Auch di Lorenzo mag nicht, dass der Souverän bei jeder Frage das Maul aufreißt und sich in Dinge einmischt, für die sein Gehirn ungeeignet ist. Dies würde dem „Souverän“ die Möglichkeit nehmen, einmal in vier Jahren per Wahl Entscheidungen zu treffen. Ist es das Vorrecht medialer Eliten, täglich die eigene Meinung zu verbreiten?

Die ganze Zeit hieß es, die Gesellschaft sei apathisch und politikverdrossen. Zeigt sich das Gegenteil, werden die Rädelsführer der öffentlichen Meinung rabiat. Nach Gumbrecht hat der Intellektuelle nicht die Aufgabe, das Leben durch Problemlösen zu erleichtern, sondern es im Gegenteil zu erschweren. In einem FAZ-Artikel weist er dem Intellektuellen die Pflicht des Komplexitätsstiftens zu. Beim „breiten Konsenshorizont“ in der platt gewalzten Gesellschaft müsse es doch eine kleine Schar von Menschen geben, die den Einheitsbrei mit Alternativen durchsäuern.

Die einen halten ihr politisches Programm für alternativlos, die andern wollen selbst bei „eins und eins ist zwei“ noch Alternativen hören. Die Alternativen zur Wahrheit sind Lügen. Nur wenn man die Wahrheit nicht kennt, sind Wahrscheinlichkeiten als Alternativen die zweitbeste Lösung.

Was wäre die Alternative zum Lernen? Dummbleiben. Sloterdijks Vorschlag, die Steuern zugunsten freier Charity abzuschaffen, sollte eine sinnvolle Alternative gewesen sein?

Allmählich kommen wir dem Geheimnis der Komplexität auf die Spur. Die Gesellschaft will gar nicht ihre Probleme lösen. Nur wenn sie unlösbar sind, ist der Mensch, die kleine doofe Sau, aus dem Schneider.

Wer Lösungen für unmöglich hält, der ist auf Erlöser angewiesen. Die verwirrungs-stiftenden Intellektuellen, die kein Licht mehr in der Dunkelheit sein wollen, sind die Türöffner religiöser Erlöser.

Im SPIEGEL wurde ein Wiener Philosoph noch rabiater. Kritik ließe sich sowieso nicht in Macht transformieren. In der Öffentlichkeit gebe es ohnehin nur „penetrante Moralisten“ und mediale Selbstdarsteller, die sich in der Rolle des Intellektuellen gefielen, ohne je verstanden zu haben, was sie selber wollten. „Diese zumindest könnten auch schweigen.“

Folgte man diesem uneitlen Professor, müsste man unserem Friedenspreisträger zurufen: Halts Maul, penetranter China-Kritiker. Du bist ja nur sauer auf deinen berühmten Kollegen Mo Yan, dass er den Nobelpreis für Literatur erhalten hat und nicht Du.

Was ist ein Intellektueller anderes als ein Demokrat, der seine Meinung sagt und vielleicht ein bisschen berühmter ist als seine Zeitgenossen? Was nicht bedeutet, er müsse dank seines Namens auch intelligenter sein. Dies zu beurteilen ist nicht die Sache anderer Intellektueller, die sich anmaßen, die Vierte Gewalt zu sein, sondern ist die Angelegenheit des ganzen populus.

Ein Intellektueller ist kein Priester der Wahrheit, kein Gewissen der Nation, kein Deuter von Sein und Zeit. Sondern ein Bürger, der seine Position vertritt. Insofern ist jeder Demokrat ein Intellektueller, weshalb wir auf eine intellektuelle Klasse verzichten können.

Ein denkender Mensch ist ein unabhängiges Wesen, das dem täglichen Versuch widerstrebt, dem Gang der Evolution, der Logik des Marktes oder angeblichen Grundtendenzen der Geschichte zu folgen, als hätten überirdische Mächte die Wahrheit gepachtet.