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Tagesmail

Montag, 12. März 2012 – Präses Schneider

Hello, Freunde Afghanistans,

wenn sonst nichts mehr half, um den Krieg am Hindukusch zu rechtfertigen, kam das Frauen-Argument. Wenigstens den Frauen ginge es erheblich besser als unter den früheren Taliban.

Nun hat Karsai, Freund des Westens, ein Gesetz unterschrieben, wonach Frauen geschlagen werden dürfen. Streng nach Regeln der Scharia. Karsai will den Taliban wohl eine Tür öffnen. Alles wie gehabt im Land der Unbesiegbaren.

10 Jahre Krieg des vereinten Westens sind ein erneuter Markstein in der fortlaufenden Chronologie westlich-moralischer Überlegenheit. Amerikanische Boys sind derart zerrüttet, dass sie den Koran öffentlich verbrennen, wehrlose Familien kollektiv über den Haufen schießen. Die Selbstmordrate der GIs ist in den letzten Jahren um 80% gestiegen.

Michael Stürmer, Historiker und ehemaliger Kohl-Berater, hält den Iran für ein „apokalyptisches Regime, das sich im Vorhof zum Jenseits verortet“. Damit sei der Ajatolla-Staat kein „rationaler Staat im westlichen Sinn.“

Hier würden nicht die Regeln der Eindämmung gelten, welche die Logik des Kalten Krieges bestimmten. Der Iran drohe Israel mit Vernichtung, um arabische Ängste vor seinem Dominanzstreben zu dämpfen und die Araber mundtot zu machen.

Tatsächlich wollten sie die Vorherrschaft am Golf und einen

Zugriff auf Öl und Dollars. Teherans Politik sei so gefahrvoll, am meisten für den Iran selbst, „dass man sich nicht vorstellen kann, es handele sich allein um Manöver.“ Deshalb die Schlussfolgerung: der Iran wolle Atomwaffen, um über sie souverän zu verfügen.

Nun wissen wir, dass westliche Staaten rational und berechenbar sind. An die Apokalypse glauben christliche Politiker nur, wenn sie unter der Kanzelpredigt zuhören. In der täglichen Politik aber sind sie völlig frei von solchem Aberglauben.

Da kann es nur Zufall oder Erfindung der Umfrageinstitute sein, dass drei Viertel aller Amerikaner überzeugt sind, die Wiederkehr des Messias persönlich zu erleben.

Wenn die Iraner nach Vorherrschaft in Öl und Dollars gieren, unterscheiden sie sich himmelweit von westlichen Staaten, denen solche Dinge nicht im Traume einfielen.

Deshalb sei die persische Politik so gefährlich, am meisten für Teheran selbst, dass sie Atomwaffen haben wollten, um mit Sicherheit – wenn sie tatsächlich Israel angreifen würden – von den USA von der Landkarte gelöscht zu werden. Womit sie ihr Ziel voll erreicht hätten, die führende Macht an der Straße von Hormus zu werden.

Zu einem Kalten Krieg wie in den guten alten Zeiten sind diese Endzeit-Selbstmörder gar nicht fähig. Damals war es möglich, mit vielen Atomwaffen auf deutschem Boden das Reich des Bösen sauber in die Knie zu zwingen.

Stürmer spricht gar von Regeln der Eindämmung. Deshalb muss die Welt wohl mehrere Male den Atem angehalten haben, weil sie nicht genau wusste, ob die beiden Hauptkontrahenten alle Regeln des planetarischen Schachspiels immer parat hätten.

Wenn amerikanische Präsidenten die Welt in Reiche des Guten und des Bösen einteilen, hat das selbstverständlich nichts mit dem christlichen Glauben zu tun, dass wir schon seit 2000 Jahren in der Endzeit stehen und langsam die Geduld mit dem säumigen himmlischen Wiederkehrer verlieren.

Dass der Kalte Krieg von Washington als finale Auseinandersetzung geführt wurde, die vermutlich nur dank des gesunden Menschenverstandes der Russen verhindert wurde, scheint dem Gelehrten, der seinem Namen alle Ehre macht, entgangen zu sein.

Dass auch Israel nicht frei von apokalyptischen Einschätzungen ist, ist nur eine belanglose Petitesse. Wozu sonst würde Netanjahu ständig Holocaust-Vergleiche bringen, wenn nicht, um seinen Staat kurz vor dem Zugriff des Satans zu sehen? Aus dieser Optik könnte man Schwierigkeiten haben, Wortegerassel von ernstzunehmenden Drohungen zu unterscheiden.

 

Im Dreierreigen der abrahamitischen Religionen sind Judentum & Christentum zurzeit ein Herz und eine Seele und wollen mit dem Islam nur zu tun haben, wenn dieser sich an die rationalen Regeln des Westens hält.

Das bestätigt auch der oberste Protestant, Präses Schneider, in einem WELT-Interview: „Der Islam ist deutlich unterschieden von Judentum und Christentum, keine Frage.“

In düsteren abendländischen Pogromzeiten sah das noch ein wenig anders aus. Da flohen die von Christen drangsalierten Juden regelmäßig in islamische Länder, wo sie zumindest sicher waren und ihren Handel und Wandel treiben konnten, wenn sie nur eine bestimmte Sondersteuer zahlten.

Der Islam sei nicht die Wurzel des Christentums wie das Judentum, so Schneider.

Auch das klang vor 70 Jahren anders. Gerade die jüdische Wurzel sollte ausgerottet werden, weil sie imstande war, die ethisch hochstehende christliche Agape mit alttestamentarischen Rachephantasien zu kontaminieren.

Entstand die Lehre des Galiläers nicht aus schärfstem Protest gegen die heuchelnde Brut der Pharisäer? Das ganze 23. Kapitel bei Matthäus ist eine einzige Verfluchungs- und Vernichtungsrede des Messias über sein eigenes Volk. Sie würden nur reden, aber nicht tun, was sie sagten. Sie nennen sich Lehrer der göttlichen Gebote, dabei gebe es nur einen Lehrer und das ist Christus. Dann kommt der große Hagelschlag mit Blitz und Donner, das Gegenteil der Seligpreisungen, die Wehe- und Scheltreden über die: Heuchler, blinden Führer, Toren und Blinden, Schlangen, Natterngezücht. „Wie wollt ihr dem Gericht der Hölle entrinnen?“ (

Schneider erhielt gestern die Buber-Rosenzweig-Medaille vom Deutschen Koordinierungsrat der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit.

Frage: Warum ist unter Kirchenmitgliedern der Antisemitismus stärker ausgeprägt als unter der normalen Bevölkerung? Antwort: Das alarmiere ihn, aber er nehme das in den Gemeinden so nicht wahr.

Irrt die Umfrage? Oder will er diese Tatsache nicht sehen? Könnte dieser Faktor mit dem ausgeprägteren Glauben der Kirchenschäfchen zusammenhängen, die noch mehr unter der Dauerberieselung der Hirten stehen?

In einem Artikel des Deutschen Pfarrerblattes habe der Satz gestanden: „Die Landnahme ist das oberste Ziel israelischer Politik“. Nicht nur die extremistische Gush Emunim, schon Ben Gurion wollte von vorneherein ein Groß-Israel und hielt die Araber für friedensunfähig. Natürlich sei das Land den Juden von Gott versprochen, doch was sollte das die Araber beeindrucken? „Unser Gott ist nicht der ihre.“ – Soviel zur säkularen Grundlage des atheistischen Zionismus.

Der Artikel im Pfarrerblatt bestätigt die grundsätzliche Unvereinbarkeit zwischen „jüdischer Werkgerechtigkeit“ und der lutherischen Lehre von der Rechtfertigung allein durch Gnade. Diese „antijudaistische“ Lehre habe das Judentum verleumdet und theologisch negiert, „lange bevor es zur physischen Vernichtung des europäischen Judentums kommen konnte.“

Dann wäre das Luthertum im Kern seiner Verkündigung judenfeindlich und könnte sich nur durch Generalrevision seiner eigenen Lehre vom Antisemitismus befreien und sich den Juden annähern. – Soviel zur Kompatibilität der verschiedenen Dogmen.

Luthers Lehre bezieht sich auf Paulus, nicht auf Jesus. Seine Absage an die Werkgerechtigkeit ist Absage an den „Hochmut“, sich durch eigene Taten die Seligkeit erkaufen zu können. Bei Luther kann man fröhlich schweinigeln, wenn man nur glaubt.

Genau diesen Widerspruch zwischen Reden und Tun geißelt Jesus als Heuchelei der Pharisäer. „Sie sagen es und tun es nicht.“ (Matth. 23,3) Der Jünger Jesu hingegen darf tun, was er will, Hauptsache, er glaubt (pecca fortiter, sed fide).

Was unterscheidet nun die jüdische von der lutherischen Heuchelei? Aus lutherischer Sicht heucheln die Juden, weil sie sich darauf versteifen, die Gebote Gottes einhalten zu können. Aus der Sicht der Welt heucheln die Christen, wenn sie die Gesetze der Welt predigen, aber nicht halten. Dass Christus diesen Mangel stellvertretend vor Gott ausgleicht, ist kein Glaubwürdigkeitsfaktor für die Welt.

Was sagt der Präses zu dem Aufsatz? Er sei „erschrocken“.

So genau wollten wir’s gar nicht wissen. Deutsche Interviews zeichnen sich dadurch aus, dass die wichtigsten Fragen nicht gestellt werden. Man lässt christliche Lindigkeit walten, wenn’s um Heikles und Brisantes geht. Wer wird denn seinen geliebten Elitenfreund in Bedrängnis bringen?

Wie sieht Schneider den Iran-Israel-Konflikt? Da wolle er gar nicht im Konjunktiv sprechen: seine Position werde von der „ganz konkreten Situation“ abhängen. Er hoffe, dass Militärschläge verhindert werden könnten. (Wer hofft das nicht?)

Das aber ist ein Konjunktiv, der sich von einer konkreten Situation abhängig macht: Für den Fall, dass Y einträte, würde ich Position X einnehmen.

Man könnte auch von einem Optativ, einem Konjunktiv der Hoffnung, sprechen, auf jeden Fall von einer Kairos-Moral, die keine generalisierbaren Prinzipien kennt, sondern sich auf das jeweilige Erleuchtungserlebnis eines bestimmten Augenblicks verlässt.

Popper würde von einer Immunisierung reden, denn „dezisionistische“ Entscheidungen – das sind Entscheidungen aus dem Bauch ohne rationale Grundsätze – sind nicht überprüfbar.

Der Soziologe Walter würde von Instinkt sprechen, man könne nicht alles aus einer abstrakten Logik entwickeln. Womit wir sehen, dass Lutheraner genau so der Zeitgeist-Philosophie verfallen sind wie säkulare Politologen.

Frage: Ist die Abendmahlsformel „Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blut“ nicht antijudaistisch? Antwort: Früher sah man das tatsächlich so. Deshalb habe die Kirche antijudaistische Formeln aus der Liturgie entfernt. (In kirchlichen Dingen spricht man nicht gern von Antisemitismus, lieber von Antijudaismus, das klingt weniger anrüchig.) Doch hier im Abendmahl wolle man das „Besondere und Einzigartige“ des Glaubens an den Juden Jesus sagen und bekennen.

Das heißt, die anrüchige Formel bleibt, weil das Abendmahl zu den Essentials der Christen gehört. Dem einzigartigen Holocaust der Juden stellen die Christen die Einzigartigkeit ihres Christus gegenüber, der im Übrigen ein Jude war. Welcher Jude dürfte sich hier nicht geehrt fühlen?

Frage: Darf man Juden missionieren? Antwort: Nein, das sollen die Christen Gott persönlich überlassen. Der hat im Römerbrief dem Paulus in die Feder diktiert, dass am Ende der Zeiten der Rest Israels hinzukommen werde. Man könnte – könnte, müsste? – das auch so interpretieren, dass „das jüdische Volk am Ende der Zeiten nicht an Jesus vorbeikommen wird.“

Genau so denken amerikanische Fundamentalisten, deren bedingungslose Israel-Unterstützung mit solcher Prophetie zusammenhängt. Der Messias wird erst dann in Jerusalem eintreffen, wenn Juden ihre bisherige Verstocktheit aufgeben und sich zu dem Zimmermannssohn aus Nazareth bekehren.

Was aber, wenn das nicht geschieht, eschatologische Erwartungen zu sieden beginnen und die Juden von Konversion nichts wissen wollen?

Dann kommt die nächste kollektive Antisemitismus-Welle. Sie wird von Amerika ausgehen und nach Deutschland überschwappen.

Darüber kein Wort. In der tabulosesten Zeit, die wir je hatten (Broder), dürfen Tabus nicht mal als solche kenntlich gemacht werden.

Frage: Also keine Missionierung der Juden hier und jetzt? Antwort: Nein, das wäre Juden und Jüdinnen gegenüber nicht angebracht. Sie glauben ja an denselben Gott Israels, an den Christen auch glaubten. Zusammen mit Israel würden Christen ihren gemeinsamen Glauben vor der Welt bekennen.

Eben mussten die Juden sich noch am Ende der Tage von ihrem alten Glauben lösen und zum neuen übergehen, jetzt ist plötzlich alles paletti: Christen und Juden sind schon hier und jetzt ein Herz und eine Seele.

Frage: Teilt Schneider die Meinung des Papstes, dass Naziverbrechen die Taten Gottloser waren? Antwort: Jein. Einerseits waren viele christlich „geprägte“ – also nicht wirklich christliche? – Menschen unter den Mördern. Andererseits war Auschwitz auch eine „Zivilisationskatastrophe“, die „allem Gottesglauben Hohn sprach“.

Womit er fast schon wieder auf der Linie des Papstes wäre. Welchem Gottesglauben das vorweggenommene höllische Feuer über Verworfene Hohn sprechen soll, lässt der Präses vorsichtshalber im Dunklen.

Fazit: warum gibt es zu einem solch eminenten Thema keine öffentliche Debatte zwischen Christen und Juden? Bischöfen und Rabbinern? Agnostikern und Imamen?

Das WELT-Gespräch ist Durchschnittsware des deutschen Feuilletons: alle Fragen nur flüchtig berührt, nie insistiert, nie auf eklatante Widersprüche hingewiesen.

Dienstfertig haben sich die Kirchen einiger allzu anstößiger antisemitischer Glaubensformeln entledigt, um ihre Bußfertigkeit vor der Geschichte zu zelebrieren.

Unverändert bleibt im Kern ihres Credos der dogmatisierte Hass auf die Juden, der das theologische Gehäuse jederzeit verlassen und erneut politisch werden könnte.