Kategorien
Tagesmail

Montag, 07. Mai 2012 – Schriftsteller und Demokratie

Hello, Freunde der Beobachtung,

die meisten Zeitgenossen haben das Leben zugunsten der Beobachtung eingestellt. Selbst das stimmt nicht. Sie lassen nur beobachten. Von geeigneten Maschinen, die sie ständig mit sich herumführen.

Passiert etwas oder nicht, wird der Fotoapparat, zugleich ein Sprechapparat, vors Auge gehalten, dass es selbst nichts mehr sieht. Es lässt sehen. Das Auge soll aufpassen, dass richtig gesehen wird, obgleich das Auge gar nicht kontrollieren kann, denn es sieht das Original selber nicht.

Gesehen wird dann zu Hause, was der Apparat gesehen hat. Hat man auf den Bildern erkannt, wo man überall gewesen war und was man alles gesehen hat, pardon, hat sehen lassen, kommt Freude und Begeisterung auf, gelegentlich auch Mitgefühl.

Schaut mal, heißt es dann zu Freunden, die an der Beobachtung teilnehmen dürfen, wie es da und dort zugeht. Da liegen Sterbende auf der Straße und kein Mensch kümmert sich um sie. Gibt es nicht schreckliche Zustände auf der Welt?

Beobachten hat den Vorteil, dass man nicht eingreifen muss, wenn etwas passiert, was nicht passieren sollte. Oder nicht passiert, was passieren sollte.

In einem südafrikanischen Tierpark wird eine Frau von einem sonst handzahmen Geparden angegriffen. Da kein Interview mit dem Tier geführt wurde, wissen wir nicht, warum es ausflippte. Vielleicht fühlte es sich zu aufdringlich beobachtet? Vielleicht stimmte die Chemie im Nahbereich nicht? Vielleicht ging ihm

das ganze eingesperrte Angeglotztwerden plötzlich auf den Wecker? Wir werden es nie erfahren.

Was macht der Mann der Frau? Er denkt gar nicht daran, einzugreifen, sondern zückt seine Kamera, damit er zu Hause nachgucken kann, was da passierte, damit er seiner Frau genau erzählen konnte, was mit ihr geschah. Ein ganz normales mitteleuropäisches Paarverhalten zur Touristenzeit.

Keine Gazette, die diesen angeblich skandalösen Vorgang nicht abgedruckt hätte. Darunter Magazine, die so genannte Kriegsreporter oder Auslandskorrespondenten in alle Welt schicken. Auch dahin, wo es schrecklich zugeht. Auch sie greifen nicht ein. Sie können das Elend nur filmen, ablichten oder darüber berichten, indem sie etwaige Gefühle auf Knopfdruck ausschalten. Sie sind ja Profis.

Geschieht das Ausschalten der Gefühle bei uns – in Ländern, wo das Elend weniger auf der Straße, sondern auf den Gesichtern zu sehen ist, besonders bei solchen, auf denen nichts gesehen werden soll – wird darüber debattiert, ob man ins Gefängnis muss oder in die Psychiatrie.

Es hätte noch viel schlimmer kommen können. Dass nämlich was passiert wäre und niemand hätte es mit Hilfe einer Maschine beobachtet, damit man zu Hause nachschauen könnte, was wirklich passiert ist. Das wäre schrecklich gewesen.

Jetzt unterschlagen wir, obgleich es uns schwer fällt, hochtrabende Bemerkungen über den Unterschied von Platons und Berkeleys Ästhetik, über die Differenz zwischen passiv-imitatorischer Fotografie und apriorischer Konzeptkunst und bleiben bei dem obigen, dickgedruckten Wecker.

 

Der heißt mit Vornamen Konstantin und ist ein demütiger Rebell. Kein Mensch weiß, wogegen er rebelliert, denn ihm geht’s blendend. Stopp, jetzt fällt‘s mir ein: gegen die Verhältnisse.

Vermutlich sind jene Verhältnisse gemeint, die sich schon dran gewöhnt haben, dass man gegen sie rebelliert. Anfänglich waren sie noch feinfühlig und schnell verschnupft, wenn man sie angriff, wo sie sich doch keiner Schuld bewusst waren. Schließlich sind auch sie nur Opfer weiterer Verhältnisse oder von Verhältnissen höheren Grades.

Warum also gerade sie immer dran glauben müssen, von Konstantin anrebelliert zu werden, hat ihnen noch niemand erklärt. Dann noch in verschärfter singender Form.

Doch inzwischen stecken sie alle hysterischen Empörungen weg. Sie haben sich eine dicke Haut wachsen lassen.

Was sie aber jetzt völlig aus der Haut fahren lässt, ist die allerneuste Quälform, die sich Konstantin hat einfallen lassen: die demütige Rebellion.

Da möchten die Verhältnisse doch am liebsten an die Decke gehen, wenn man ihnen nicht mal die gesetzlich vorgeschriebene Mindestwut zollt, dass sie nämlich mit einer gehörigen Portion Zorn, meinetwegen auch heiligem Zorn, anzuklagen, zu attackieren und zu beschimpfen sind.

Verhältnisse, die den ganzen Tag angepflaumt und angespuckt werden, leben von solchen ehrlichen Gefühlsausbrüchen. Abends, wenn die aufmüpfigen Wichtigtuer verzogen sind, um sich in Biergärten vom anstrengenden Empören zu erholen, erzählen sich die verlassenen Verhältnisse – nicht selten ohne eine gewisse Eitelkeit – einander, in welchem Maß sie heute ganz unverwechselbare, wunderbar authentische, hinreißend zornige Rebellengefühle auf sich ziehen konnten.

In solchen Momenten wissen sie, wozu sie der Schöpfer geschaffen hat. Gelegentlich kann man auch ein ganz leichtes Lächeln auf ihren verhärmten Mienen erkennen.

 

Addiert man Rebellieren und Beobachten, landet man bei den Piraten. Sie legen keinen Wert auf Äußerlichkeiten. Das heißt, sie legen sehr viel Wert auf andere Äußerlichkeiten als die normaler Krawatten-, Socken- und Schuhträger.

Selbst wenn sie wichtige Akteure sind, zum Beispiel Mitredner bei Jauch, agieren und beobachten sie parallel und teilen ihre inneren Gedanken, die sie bei Jauch nicht äußern dürfen, per kleiner Teufelsmaschine allen mit, die sich für ihre Gefühle und Eindrücke interessieren. Das ist ein Beitrag zur weiteren Transparenz der ohnehin sehr transparenten Medien.

Wenn aber mal ein Mensch ausflippt, nicht mehr nur beobachten will, sondern tatsächlich aufbegehrt und dem smarten Wowi zuschreit, dass er Berlin den Reichen für 30 Goldtaler verkauft, dann wird er sofort aus dem Publikum entfernt. Bei Jauch kommt niemand rein, wenn er nicht zuvor unterschrieben hat, dass er sich mit Beobachten und Schnauzehalten begnügt.

Aber noch schlimmer, der Hinausbeförderte wird auf ausdrückliches Geheiß des demokratischen Hausherrn wieder zurückgeholt. „Wir sind doch nicht in der Ukraine“, sagt Jauch, um seinen pflichtgemäßen Anteil am Ukraine-Bashing so nebenbei aller Welt kund zu tun.

Da hat er Recht. In der Ukraine werden Rebellinnen als Heldinnen gefeiert, werden, wie es sich bei Heldinnentaten gebührt, ordnungsgemäß abgeführt und eingekerkert. Bei Jauch musste der namen- und demutslose Rebell wieder Platz nehmen und sich ganz ohne Heldenpose dem teilnahmslosen Beobachten widmen.

In freien Gesellschaften ist es nicht einfach, zum Helden zu werden. Ganz im Gegensatz zum heldengünstigen Umfeld in der Ukraine.

 

Hollande ist da, Sarko weg. Vermutlich auch bald die Bruni. Ihre Gene haben Dawkins Buch: „Das egoistische Gen“ gelesen, nun dürfen sie sich nicht mehr mit kleinwüchsigen, frühpensionierten Loser-Genen paaren. Hier haben wir es nicht mit zwanghaftem Beobachten zu tun, sondern mit zwanghaftem Beobachtetwerden.

Apropos Abschalten von Gefühlen. Wenn Jan Fleischhauer vom rabenschwarzen Kanal fröhlich und nur an seine nächste Kolumne denkend durch Straßen flaniert, die ihre besten Tage schon gesehen haben und dabei überraschend auf dubiose Gestalten stößt, die man anderswo Obdachlose, Bettler oder Verwahrloste zu nennen pflegt, weiß er nicht, welchen Gefühlsknopf er drücken muss, um authentisch zu sein.

Stets ist er in der Gefahr, haltlos zwischen wahrem Mitleid und falscher Sentimentalität hin und her zu schwanken. Das merken diese Hyänen sofort und luchsen ihm seinen letzten Groschen aus dem Geldbeutel.

Um sich gegen diese schwer erträglichen und leicht erpressbaren Situationen zu wappnen, ist Jan auf die geniale Idee einer radikalen emotionalen Selbstüberprüfung gekommen. Er lässt sich die Kindheitsgeschichten und Biografien der habgierigen Meute erzählen, ob sie freiwillig-schuldfähig oder unschuldig-gezwungen in die missliche Situation geschliddert sind.

Wenn letzteres, drückt er Mitleid, dann öffnet sich sein Beutel. Bei freiwillig-bösartigem Verschulden drückt er auf Sentimentalität, dann leuchtet ein Signal auf, verbunden mit einer Warnsirene. Und mit überlegenem Machtwissen zeigt er den verkommenen Typen seinen Mittelfinger: Nicht mit mir, Freundchen, diese Mitleidstour. Ich bin ein gefühlsechter, aber cleverer Hamburger Jung!

Auch Obama ist ein echt authentisch fühlender und denkender Chikago-Boy. In seiner ersten Wahlkampagne bevorzugte er die damals welterschütternden Slogans: Yes, we can. Oder Hope und Change.

Nun kann er nicht mehr, hat alle Hoffnung auf Wandel sausen lassen und den Knopf: Vorwärts gedrückt. Bloß gut, dass die Amis sich im europäischen Proletenwesen nicht so auskennen. Die gleich lautende SPD-Postille weiß nicht, ob sie weinen oder heulen soll.

Ist das nun der ultimative Durchbruch proletarischer Zukunftshoffnung in der Weltpolitik oder nur ein billiges Plagiat, das nach Gebrauch – spätestens nach der Wiederwahl des netten Oberhemdenboys – geschändet und nicht mehr benutzbar zurückgegeben wird?

Am besten Walser fragen, der gibt auch keine Antwort.

 

Ein ausgezeichnetes Interview mit der amerikanischen Physikerin Lisa Randall über Naturwissenschaft und Religion.

Religion habe mit Wissenschaft nichts zu tun, sie sei Privatsache der Wissenschaftler, sagt die kühle Blonde, die zu den Besten ihres Fachs gehört. Wissenschaft betreibe man nicht, um Gott zu suchen. Das Gottesgetue des englischen Kollegen Hawkins hält sie für eine PR-Masche.

In der Tat vermittelte man uns in den letzten 10 bis 15 Jahren – rein zufällig identisch mit der Hochzeit des Neoliberalismus –, dass es bei Naturwissenschaften um eine Art Junior-Theologie geht. Besonders bei den hiesigen Sensationskaschperl aus der wissenschaftlichen Schmuddelecke von SPIEGEL über ARD bis ZDF.

Hat Gott einen Urknall? Lassen sich Gottesteilchen im Quantenbereich nachweisen? Kann ein Universum mit wunderbarer Ordnung das Produkt des Zufalls sein?

Glauben in wissenschaftlichem Sinn sei nur eine vorläufige Hypothese, kein Glaubensartikel, der unüberprüft bleiben dürfe. Wissenschaft betreiben, heiße, methodisch miteinander streiten. Was man nicht beweisen könne, dürfe nicht als gesicherte Erkenntnis durchgehen. Auch gesicherte Erkenntnisse seien vor neuen Erkenntnissen und Überprüfungen nicht gefeit.

Diese hervorragende Frau muss ihren Popper gelesen haben. Solche Sätze hat man in deutschen glaubensanfälligen Zeitungen schon eine Ewigkeit nicht mehr gelesen.

Was hierzulande als wissenschaftlich unfehlbar gilt, lässt sich bereits mit der scholastisch-unwiderlegbaren Aussage vergleichen, dass auf einem Stecknadelkopf maximal 33,3 Engel Platz haben. Wenigstens aber zweimal die Hälfte.

Was an unseren ehrwürdigen Hochschulen inzwischen als knallharte Wissenschaft verkauft wird, zeigt ein Artikel über die Viadrina: Zeitreise, Telepathie und Kontakt zu Außerirdischen. Fehlt nur noch die Fakultät für empirischen Kreationismus.

 

In einem ZEIT-Interview wirft der algerische Schriftsteller Boualem Sansal mit blutendem Herzen einen düsteren Blick auf die arabischen Revolutionen. In religiösen Staaten könne es keine Demokratien geben.

Revolutionen seien notwendig, doch die Völker wollten letztlich nur Ruhe und materielle Sicherheit, keine Demokratien westlichen Musters. Natürlich sollten die Frauen frei sein, aber bitte nicht meine Frau und nicht meine Tochter, würden die meisten Araber sagen, selbst die fortschrittlichsten. Die Militärapparate in allen Ländern scheinen momentan unbezwinglich.

 

Vor wenigen Wochen gab es einen ziemlichen Krach um einen Schriftsteller namens Kracht. Georg Diez vom SPIEGEL warf ihm rechte Tendenzen vor.

Alle Kritiker warfen sich fast unisono auf den Aggressor: Kunst sei frei und nicht mit der Messlatte politischer Korrektheit zu messen.

Das muss nur im Allgemeinen zutreffen und nicht im Besonderen. Für Grass galt es komischerweise nicht, der wurde derart mit der Messlatte verprügelt, weil er ein politisch unkorrektes Gedicht schrieb, dass er mit Herzproblemen im Krankenhaus landete.

Kunst darf alles. Aber nicht politisch sein. Wenn aber doch politisch, darf Kunst nicht an politisch-korrekten Kriterien gemessen werden. Versteht sich, dass die Definition des Korrekten von Dekade zu Dekade wechselt.

Wer den Wechsel bestimmt, bleibt ominös. Die Medien sind‘s bestimmt nicht. Denn sie sind im Zweifel an allem schuld sein, was bedeuten soll: nie sind sie schuld, woran sie schuld sind. Hier genügt der dialektische Dreisatz, um auf das richtige Ergebnis zu kommen, das von vorneherein feststand.

Der ehrwürdige Dramatiker Rolf Hochhuth hat nun seinen Hut hingeworfen, weil er nicht wollte, dass die Akademie den Erzschelm Grass nachträglich exkulpierte. Seltsamerweise schien er völlig in der Minderheit zu sein, die Mehrheit der Mitglieder war auf der Seite des Nobelpreisträgers. In der Öffentlichkeit war der Eindruck genau umgekehrt.

Haben die Künstler sich in der Öffentlichkeit nicht zu Worte gemeldet, weil sie sich nicht trauten? Hat man sie nicht zu Worte kommen lassen?

Zu Kracht. Volker Weidermann von der FAZ hat sich in gebührlicher Distanz noch mal die Akte Kracht vorgelegt und einige Fragen gestellt.

Krachts Apologeten hätten nirgendwo in seinen Werken „einen Zusammenhang zu Rassismus und totalitärem Denken gefunden“. Obgleich in dem Roman, so Weidermann, auf jeder Seite „Rassismus und totalitäres Denken“ thematisiert würden.

Warum schreibe Kracht immer wieder über totalitäres Denken und totalitäre Systeme? Und über das Glück, das sie bedeuten könnten. Und die Schönheit, die man in ihnen erkenne?

Mit einem Kollegen habe er oft Bilder von SS-Obersturmbannführern ausgetauscht. Jener habe mal geschrieben, dass die urdeutsche Kolonie „Nueva Guermania“ ein „arisches Zentrum“ sei, das „elementar ist für die wünschenswerteste Richtung der Welt.“ Kracht habe nicht widersprochen, im Gegenteil, er wollte, dass der Briefwechsel veröffentlicht werde.

Kracht habe eine dunkle Seite, die im ganzen Streit ignoriert wurde, meint Weidermann. Zu dieser dunklen Seite gehöre seine Kriegssehnsucht, die Bewunderung für die Ästhetik von Kim-Jong-ils Nordkorea oder der Respekt für den Führer der Taliban Mullah Omar. „Mullah Omar hat meinen vollen Respekt“, sagte er frank und frei, wiewohl er sonst „doppelt ironisch kodierte Scheinaussagen“ bevorzuge.

Kracht beurteile die Welt immer nach Bildern. Auf den Einwand, es könne doch nicht immer nur um Bilder gehen, sondern auch um Inhalte, Politik und Moral, erwiderte er: „Ich glaube, schlechte Form ist an vielem schuld. Ein gutes Buch ist immer moralisch.“ Was nur bedeuten kann, ein gut geschriebenes Buch kann niemals unmoralisch sein.

Form steht für Inhalt, Form ersetzt Inhalt. An dieser Stelle würde man gern einige Worte über den Unterschied zwischen der Ästhetik des Faschismus – der Ähnliches sagte – und der Ästhetik Krachts erfahren.

Auch die iranische Ajatolla-Revolution bewundert er über den grünen Klee und verhöhnt Jimmy Carter, der an dem „Bild eines bärtigen und gottesfürchtigen Mannes“ zerbrochen sei. Kracht lebe in Bildern und verteile immer neue Bilder von sich – „und lacht“.

Seine Schönheitsliebe und Hässlichkeitserfahrung habe in Berlin in einem Supermarkt die Entdeckung gemacht, dass die Kassiererinnen keine Zähne mehr hätten. „Die Physiognomien dieser Menschen sind so verkommen“, schrieb er darüber. Da kann man ja froh sein, dass er nur verkommen und nicht entartet schrieb.

Bestand die NS-Ideologie nicht aus der Bewunderung einer perfekten nordischen Schönheit, in deren Namen man alles, was diesem Gesunden, Wahren und Schönen nicht entsprach, kurzerhand ins Reich des Toten, Unwahren und Hässlichen schickte? Seltsam, dass Weidermann die Ästhetik des Faschismus mit keinem Wort erwähnt.

Der jüdische Historiker George L. Mosse macht in einem seiner Bücher die griechische Bewunderung für das Schöne, die von den Nazis übernommen wurde, für das Unheil der Judenermordung mitverantwortlich.

Die Aufklärung habe die antike Bewunderung für das Schöne übernommen, das als „Maßstab aller menschlichen Werte“ gelten sollte. „Die Menschen konnten die Klischees des Schönen und des Hässlichen ebenso sehen wie die Nationalflaggen und die nationalen Denkmäler“.

Schönheit und Hässlichkeit konnte also jeder mit eigenen Augen erkennen, diese körperlichen Dinge waren nicht zu verstecken. Auf dem Boden selektiver Schönheit konnte der verhängnisvolle Rassismus der Deutschen entstehen. (George L. Mosse: „Die Geschichte des Rassismus in Europa“)

Niemand, nicht mal seine Freunde wüssten, was Kracht wolle. Was er heute sage, könne er morgen mit leichter Hand widerrufen. Man stoße bei ihm auf keinen festen Grund.

Wieder ein Fall Walser, der nicht zu erkennen gibt, was er denkt. Oder denkt er vorsichtshalber so, dass er nicht festgenagelt werden kann?

Für einen Schriftsteller ist es unerheblich, was er denkt, wenn er die Welt nur präzis einfängt, wie sie ist. Ob Tolstoi Zarist war, Sozialist oder Christ, ist für seine schriftstellerischen Qualitäten belanglos. Doch was der politische Mensch Tolstoi denkt und vertritt, ist alles andere als belanglos.

Die meisten deutschen Dichter haben keinen Widerstand gegen Hitler geleistet. Waren ihre Werke völlig unabhängig von ihrer politischen Position?

Wenn ein Schriftsteller in seinem Werk einen Nazi porträtiert, wäre es absurd, die Äußerungen seiner Figur dem Schreiber anzuhängen. Wie aber, wenn man den Eindruck hätte, dass aus seinen Zeilen seine eigene Meinung spräche?

Warum redet Kracht immer in doppelt-verschlüsselter Codierung? Warum nur in Bildern? Warum heute so und morgen anders?

Gegenfrage: Ist das nicht sein gutes Recht? Kracht scheint die postmoderne Beliebigkeit zur Religion gemacht zu haben. In einem postmodernen Kollektivgeist hat das bislang noch niemanden gestört. Auf einmal stört es Herrn Weidermann? Warum?

Das Unbehagen an Krachts Position könnte man nur auf die Reihe kriegen, wenn man postmoderne Beliebigkeit mit demokratischer Eindeutigkeit konfrontierte und sagte: alles, was der Demokratie nicht widerspricht, ist frei (nicht in juristischem Sinn). Alles, was mit Demokratie unvereinbar ist, muss als gefährlich betrachtet werden.

Für islamistische Fundamentalisten sind solche Sätze inzwischen unbestritten. Jede Demokratie muss wehrhaft sein und darf vor ihren Feinden nicht kuschen. Was wäre der Unterschied zwischen einem Salafisten und einem Schriftsteller, der salafistische Überzeugungen transportierte? Der Schriftsteller darf alles beschreiben, als Citoyen darf er nicht alles vertreten.

Offensichtlich scheint es unter Intellektuellen allmählich in Vergessenheit geraten zu sein, dass man als guter und verlässlicher Demokrat keine Freiheit der Meinungsverweigerung hat.

Falsch, anzunehmen, dass, wer nichts sagt, keine Position hat. Was würden wir heute über einen Zeitgenossen des Dritten Reiches sagen, der seine Mitläuferschaft damit begründete, er hätte keinen klaren Standpunkt gehabt?

Es grassiert ein Virus in Deutschland. Der Virus des mutwilligen, feigen oder erleuchtet sein wollenden Mutismus. Befallen sind die Schriftsteller Walser und Kracht – und nicht zuletzt die Partei der Piraten, denen zu Israel partout nichts einfallen will. Sie folgen dem Motto: wer nichts sagt, hat nichts Falsches gesagt.

Gegen das allgemeine Geschwätz kann man in der Tat allergisch sein. Doch die Allergie berechtigt niemanden zur hochtrabenden, demokratiegefährdenden Stummheit.

Wenn du geschwiegen hättest, hätte ich dich für einen Philosophen gehalten? Aber nicht für einen, der sich für freie, humane Verhältnisse einsetzt.

Wer nicht für den Menschen ist, der ist gegen ihn. Ein Drittes gibt es nicht.