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Montag, 06. Februar 2012 – Ursachen des Antisemitismus

 

Hello, Freunde der Russen,

die Russen scheinen Kälte zu benötigen, um aufzubegehren. Bei klirrenden Temperaturen – in SPIEGELdeutsch: Killerkälte – marschieren sie gegen Putin. Die Mittelschicht, die keine sein will, sondern eine kreative Klasse, will mitreden und mitgestalten. Die Arabellion aus der Wüste ist in die Tundra eingedrungen.

Von Medwedjew ist nichts zu hören, Putin blockiert, zusammen mit China, eine UN-Resolution gegen den syrischen Schlächter seines Volkes, der unbeirrt weiter morden lässt. Selbst Kinder sollen gefoltert werden. Die arabische Liga ist empört.

In Kairo geht der Widerstand gegen eine desolate Militärjunta, die ihre Mubarak-Ähnlichkeit immer mehr enthüllt, in unverminderter Heftigkeit weiter.

In Bosnien gibt es keine Obdachlosen, die in strengen Wintern im Freien erfrieren, schreibt Rathfelder in der TAZ. Wie ist denn das möglich, wo das Land mit dem Wohlstandsniveau anderer Länder nicht mithalten kann? „Das ist eine Frage der Kultur“, sagt der alte Mustafa. „Bei uns gibt es immer jemanden, der wenigstens im Keller oder im Stall einen Platz zum Schlafen anbietet.“ Wohlhabende Kulturen zeichnen sich dadurch aus, dass sie keine Ställe mehr haben – außer für Gottessöhne in der Krippe.

Kein amerikanischer Präsident ohne seinen speziellen Krieg. Jeden Tag werden wir mehr

darauf vorbereitet, dass dem bösen Iran die Leviten gelesen werden müssen. Warum der Ajatollastaat sich derart aggressiv zeigt, fragt kein Kommentator mehr.

Der Westen beherrscht das Spiel des Stigmatisierens. Und bist du nicht freiwillig böse, brauchen wir Gewalt. Waren es nicht Amerika und England als Agenten der Ölindustrie, die die beginnende Demokratisierung unter Mossadegh abwürgten und das Schah-Regime installierten? Danach ging’s bergab.

Uri Avnery wettet, dass es keinen Krieg geben wird, der Westen könnte sich eine blockierte Straße von Hormus nicht leisten. Wenn er sich da nicht täuscht.

Die BILD sieht Deutschland schon stramm an der Seite der Krieger. Solidarität mit einem nur auf Waffen vertrauendes Israel ist Abnicken und Strammstehen. Je mehr sich die Kunst des Atombombenbauens übers Internet verbreitet, je mehr braucht der Westen aufwendige Raketenabwehrsysteme, damit München nicht nebenbei von einer verirrten Iranrakete getroffen wird. Selbstverständlich haben die neuen Abwehrschirme nur den Zweck, die bedrohten Demokratien zu retten. Wenn eine Stadt von irren Bombenwerfern getroffen werden würde, wär’s aus mit grundlegenden Freiheiten. Das kann doch kein Militär wollen.

Warum ist Mitt Romney so erfolgreich? Weil er Mormone ist. Warum sind Mormonen so reich und erfolgreich? Weil sie in zartem Alter draußen in der heidnischen Welt ein Jahr lang missionarisch für ihren Herrn und Heiland unterwegs sein mussten. Missionieren ist die beste Klippschule, um erfolgreicher Manager zu werden.

Da hat man sich eine Psyche aus Stahl zugelegt, um in einer Welt voller Wölfe standzuhalten: „Siehe, ich sende euch wie Schafe mitten unter die Wölfe. Hütet euch aber vor den Menschen, denn sie werden euch an die Gerichte überliefern … und ihr werdet um meines Namens willen von jedermann gehasst sein.“ Und wenn eine Stadt die Botschaft der Missionare ablehnt, was dann? „Dann schüttelt den Staub von euren Füssen. Wahrlich, ich sage euch, es wird dem Lande Sodom und Gomorrha am Tage des Gerichts erträglicher ergehen als dieser Stadt.“ (

Sodom und Gomorrha verbreiten, können westliche Hochkulturen mit links. Also leset fleißig in der Schrift, auf dass ihr die tägliche Weltpolitik verstehen lernt. Die Amerikaner sind Anhänger des sensus literalis, der wortwörtlichen Auslegung der Schrift, die sie als Drehbuch für ihre globale Performance benutzen.

Die aufgeklärten Deutschen bevorzugen den sensus allegoricus, was bedeutet, jeder kann aus dem Text machen, was er will. Das klingt großzügig, frei von sklavischer Unterordnung unter einen Text, und sei er noch so heilig. Doch wie das Geschick es will, stehen die Deutschen in unverbrüchlicher Solidarität an der Seite jener, die sich von ihrer buchstäblichen Hermeneutik nicht abbringen lassen.

Mit anderen Worten, die Deutschen sind nach außen hin emanzipierte Textallegoriker, in der Tat aber devote Buchstabengläubige an der Seite des Großen Bruders. Der nächste Krieg gegen den Iran wird sensu literali Sodom und Gomorrha verbreiten.

Der heimliche Krieg gegen die Kinder geht weiter. Immer mehr von ihnen leiden unter chronischen (!) Schmerzen. Schon ist die servile Medizin zur Stelle und übernimmt. Bei den Schein-Hippokratikern muss Descartes voll eingeschlagen haben, vom Geist des alten Griechen ist keine Rede mehr: der europäische Mensch muss eine Maschine sein ohne psychischen Zusammenhang mit Familie, Gesellschaft und Welt.

Ein paar Placebos einwerfen und die Roboter müssen wieder startklar sein. Niemand ist schuld, nur die Maschine selbst. Die Medizin wird zur Landplage, die jene Symptome erzeugt, die sie zu kurieren vorgibt.

Hast Du schon gelebt, ja Dich meine ich? Oder malocherst du dein Leben nur zu Schrott? Und auf dem Sterbebett kannst du nicht wie ein vollreifer Apfel vom Baum fallen, weil dein verpfuschtes Leben aus „unvollendeten Aufgaben“ zusammengestückelt ist?

Eine australische Sterbebegleiterin oder Palliativpflegerin hat vielen alten Menschen auf dem Sterbebett zugehört. Die meisten waren mit ihrem Leben unzufrieden und warfen sich vor, nicht das Leben geführt zu haben, das sie in eigener Wahl hätten führen sollen. Sie hätten zu viel gearbeitet, nicht den Mut gehabt, ihre Gefühle auszudrücken, ließen den Kontakt zu Freunden schleifen und erlaubten sich nicht, glücklich zu sein.

Memento mori, gedenke des Todes, du kapitalistischer Narr. Jetzt und hier, mitten im Leben. Nicht um dein Leben zu verdüstern, sondern um täglich heiterer zu leben. Wer den Tod als tückischen Gesellen der rohen und gefühllosen Evolution betrachtet, wie es unter Privilegierten immer mehr zur Mode wird, der sieht noch immer den Sensenmann, der die Majorität der Menschheit als höllischen Happen betrachtet.

 

Gestern hat Günther Jauch Juden in seine Gesprächsrunde geladen. Die Erzählungen über ermordete Familienangehörige, das Nachkriegsschweigen der Väter, das „unverdiente“ Glück, davongekommen zu sein und so viele andere mussten sterben – mit welchen Gefühlen kann man reagieren?

Alan Posener schlägt Scham vor und scheint seiner Sache sicher. Scham kann man nur empfinden, wenn man Schuld auf sich geladen hat. Doch alle Bundesrepublikaner unter 75 können keine Schuld mehr auf sich geladen haben. Gleichwohl empfinden sich die meisten stellvertretend schuldig für die übergroße Schuld ihrer Väter und Mütter. Schuld bis ins dritte und vierte Glied.

Schauspieler Christian Berkel und Sportreporter Marcel Reif fühlen sich in Nachkriegsdeutschland sicher, warum wirkten sie dennoch unsicher? Wollten sie nicht „aggressiv“ wirken und die deutsche Gesellschaft unter Dauerverdacht setzen, um nicht als ewig anklagende, nie vergeben könnende Juden zu erscheinen? Trauten sie sich nicht, den Deutschen vorzuwerfen, sie hätten ihre Hausaufgaben noch immer nicht gemacht, wo doch schon common sense ist, sie wären die einzige Nation der Welt, die sich mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzt? Für sie eine schwierige Situation.

Vor Leuten, die sich schuldig fühlen, habe er mehr Angst als vor andern, sagte Berkel. Denn solche Schuldbeladenen müssten sich am ehesten durch unberechenbare Attacken von ihrem richtenden Über-Ich entlasten.

Warum hat Jauch keine deutschen Nichtjuden eingeladen, um ein Gespräch zu führen? Warum hat er nur mechanisch seine Zettel abgelesen?

Wieder war das Signal: die Sache des Holocaust, die Sache der Juden ist die Sache – der Juden. Andere sind weder interessiert noch kompetent, um ihr Inneres zu entäußern. Man hat die Juden allein gelassen, wollten sie selbst alleine gelassen werden? Haben sie so schlechte Erfahrungen in „deutsch-jüdischen Dialogen“ gemacht, dass sie lieber unter sich bleiben? 20% aller Deutschen sollen antisemitisch sein: „Was meinen Sie dazu, Herr Berkel?“, fragte Jauch lust- und interesselos. Damit könne er nichts anfangen, antwortete Berkel, er wisse gar nicht, wie solche Zahlen zustande kämen.

Hier hätte es spannend werden können. Jeder redet über Antisemitismus, keiner weiß, wovon die Rede ist. Ist die klassische Frage nach einem allzu mächtigen Israel ein einwandfreies Indiz für die gesuchte Diagnose? Dann muss Sharon ein Antisemit sein, der stets behauptet hat: wir Israelis bestimmen die amerikanische Politik. Dann müssen Uri Avnery und die vielen selbstkritischen Israelis Antisemiten sein, wenn sie sagen: amerikanische Außenpolitik sei israelische Innenpolitik.

Mit welch objektivem Voltmesser misst man die angemessene, zu große oder zu kleine Macht einer Nation? Wollen die Fragesteller behaupten, ihre Einschätzung sei die absolut wahre und überprüfbare? Solche bornierten Fragen sind Kaffeesatzlesereien, mit denen man sich das erwünschte Ergebnis statistisch zurechtstutzen will.

20% Antisemiten sind zur Mantra-Zahl geworden. In Wirklichkeit liegt die Quote – nach meinem Dafürhalten – gefühlsmäßig viel höher. Aber weniger im bewussten und tatbereiten Neonazibereich, sondern in schwankenden Strömungen des kollektiven Unbewussten.

Die angeblich so israelfreundliche Politik der Amerikaner ist ein christogenes Spaltprodukt: überidentische Gefühle des Wohlwollens auf der Oberfläche, die auf einem unterirdischen Meer latenter Judenablehnung schwimmen. 75% aller Amerikaner glauben, die Wiederkunft des Messias selbst zu erleben. Voraussetzung jedoch ist, dass die Juden sich zu IHM bekehren. Was, wenn das nicht geschieht – und es wird nicht geschehen.

Wird die Überidentifikation in manifesten Hass umschlagen? Nicht anders als bei Luther, der anfänglich die Juden für sein unverfälschtes Urevangelium glaubte gewinnen zu können? Als die Konversion jedoch ausblieb, wurde er zu jenem fanatischen Judenhasser, auf den sich die Nazischergen berufen konnten.

Dieser emotionale Bergrutsch mit Enthüllung des darunterliegenden Giftsockels könnte dann geschehen, wenn Amerika immer mehr in seinen Problemen erstickt und das wiedergeborene Publikum in verstärkter Weise Schuldige braucht. Um dies zu konstatieren, muss man keine prophetischen Fähigkeiten haben, man muss nur Eins und Eins zusammenzählen und die Realität ungeschönt betrachten.

Kein Mensch definiert, was Antisemitismus ist: nach Popper eine Immunisierungsstrategie, um der Überprüfung zu entgehen.

Unsere Thesen: Der Kern des Antisemitismus bis zum heutigen Tage ist der religiöse Hass der Urchristen auf die Juden. Wenn sie, unversöhnlich zerstritten mit den ersten Lieblingen Gottes, die neuen und wahren Lieblinge sein wollten, konnte es nur ein Entweder–Oder geben. Die oder wir. Es geht um die Wiederholung des Streites zwischen Kain und Abel, Josef und seinen Brüdern, Jakob und Esau. Wer ist der Erste, wer der Loser?

Wenn Christen die Ersten sind, müssen die Ur-Lieblinge die Letzten sein. Paulus leidet schwer unter dem Problem. Seine Brüder will er nicht in der Hölle schmoren sehen, was sie nämlich müssten, wenn sie sich nicht zum neuen Glauben bekehrten. „Denn ich bezeuge ihnen, dass sie Eifer für Gott haben, aber nicht mit richtiger Erkenntnis. Denn weil sie die Gerechtigkeit Gottes nicht kannten und die eigne geltend zu machen suchten, haben sie sich der Gerechtigkeit Gottes nicht untergeordnet.“ ()

Das darf nicht das letzte Wort sein. Zwar sind sie durch ihre Renitenz aus dem Ölbaum ausgerissen, an ihrer Stelle wurden die Christen eingepfropft, doch am Ende wird es zum Happy end kommen. „Denn wenn du aus dem von Natur wilden Ölbaum herausgeschnitten und gegen die Natur dem edlen Ölbaum eingepfropft worden bist, wie viel mehr werden diese, die natürlichen Zweige, ihrem eigenen Ölbaum eingepfropft werden.“ ()

Doch halt, vor der Wiederversöhnung gibt’s eine kleine Hürde zu überwinden: „Aber auch jene werden, wenn sie nicht im Unglauben verharren, eingepfropft werden.“ (Röm. 11,23) Wenn sie nicht im Unglauben verharren. Das aber tun sie bis heute, es gibt keine Anzeichen, dass sie diese „Verstocktheit“ aufgeben wollen.

Natürlich muss jetzt die Frage kommen: Wer glaubt das noch alles? Ist die Moderne nicht säkularisiert?

Nein, sie hat sich nur eine säkulare Ganzkörperbemalung zugelegt, um mit allerhand „Zweckrationalität“ und Vernunftgefasel vom religiösen Untergrund abzulenken: was eh nur für Europa gilt. Die Weltmacht Nummer eins gibt sich mit solchen Kaspereien gar nicht erst ab. Dort hat ein Nichtchrist nicht die geringsten Chancen, Präsident zu werden.

Amerika, Israel, der ganze Westen gibt sich oberflächlich säkular, die unbewussten Motivationen der kollektiven Politik aber sind geprägt von der Bibel, der Thora, bei den Muslimen vom Koran.

Wer Weltpolitik verstehen will, muss Theologie studiert haben. Zwar ist sie nicht die Mutter aller Wissenschaften, die wir den Griechen zu verdanken haben, aber sie hat jene fast vollständig in ihre Dienste gestellt. Der subjektive Glaube als Fürwahrhalten ist ein völlig überschätztes Phänomen und kann vernachlässigt werden.

In Deutschland weiß eh niemand, was Christsein bedeutet, wie kann er sich ergo Christ nennen? Solche Selbstcharakterisierungen ähneln der diagnostischen Trefferquote eingebildeter Kranker, die jeden Tag eine neue tödliche Krankheit bei sich konstatieren.

Nicht nur die Nazideutschen wollten sich ihre Auserwähltheit durch Ausrotten der primären Auserwählten bescheinigen. Auch die neoliberale Konkurrenz ist im Kern nichts anderes als der versteckte Streit, welche Nation – gemessen am BIP – die gottwohlgefälligste ist. Die Geschichte des Westens ist die Chronologie des nimmer endenden Kampfes um den Titel des im Himmel angesehensten Volkes.

Das ist der Kern des Antisemitismus. Tief im Innern befürchten die nachträglich Erwählten, die Juden könnten noch immer die wahren Lieblinge Gottes sein. Deshalb müssen jene als eifersüchtige Sündenböcke herhalten, die nichts anderes im Sinn haben, als den Lorbeerkranz vom Kopf der Rivalen mit List und Tücke herunterzureißen.

Was später als Rassismus aufkam, ist nur ein dünner, sich wissenschaftlich gebender Aufguss dieser Selektion in Gute und Böse. Wenn heute noch immer die Frage gestellt wird: wie konnte ein solch gebildetes Volk wie die Deutschen solche Verbrechen begehen, hat man die Petitesse übersehen, dass dieses Volk und seine Bildung unveränderte Produkte eines intakten, wenn auch verborgenen christlichen Glaubens sind.

Das Problem des Antisemitismus ist nicht zu lösen, ohne das Problem der Religionen gelöst zu haben. Genau das geschieht nicht, weil die Religionen sich als Liebesveranstaltungen geben, die all ihre früheren Bosheiten und Ambivalenzen längst ausgeschwitzt haben. Indem sie ihre Heiligen Schriften fleddern, nur herzerweichende Liebeszitate bringen und alles Teuflische fallen lassen, wollen sie ihre Unentbehrlichkeit zur weiteren Humanisierung der Welt unter Beweis stellen.

In Wirklichkeit gilt die Bibel noch immer in toto als unfehlbares Wort der Offenbarung. Was bedeutet: wenn die Kirchen wieder obenauf sind, werden sie jene schrecklichen Herrschaftsworte wieder in Gebrauch nehmen, die sie bislang weggesperrt hielten. Man beachte nur die unaufhörlich wachsende Triumph- und Herrschaftssprache des Papstes, der orthodoxen Kirchen im Osten und der täglichen Radioprediger. Von amerikanischen Präsidentschaftskandidaten nicht zu reden.

Im Artikel von Gabriele Goettle finden sich bemerkenswerte Äußerungen zur Entstehung des Antisemitismus. Doch leider bleiben sie im Ungefähren.

Einerseits: „Das antisemitische Vorurteil ist schon sehr alt, grade auch im Wirtschaftbereich.“ Kein Wort zur religiösen Quelle des Antisemitismus. Der wirtschaftliche Antisemitismus kam erst später, als die Juden im Mittelalter verstärkt nach Europa kamen, und wurde dem religiösen aufgepfropft.

Andererseits: „Ein „moderner Antisemitismus entsteht, der eben nicht mehr vor allem religiös motiviert ist.“ Nicht mehr vor allem? Religion zeigt sich nicht in Form deklamierter Glaubensbekenntnisse. Atheisten können „gläubiger“ sein als herzensgute christliche Mütterlein, die ihren natürlichen humanen Gefühlen folgen, mangels Bildung aber ihre Einstellung mit vorgestanzten Credoformeln benennen müssen.

„Nicht die Erfahrung schafft den Begriff des „Juden“, sondern das Vorurteil fälscht die Erfahrung“, sagte Sartre. Ein sich selbst beschuldigender Satz, der die Juden in allen Dingen davon freispricht, wie sie von anderen wahrgenommen werden. Wie ihr uns seht, ihr Nichtjuden, hat nichts, aber auch gar nichts damit zu tun, wie wir in Wirklichkeit sind, so konnten die Juden ab jetzt in jeder Debatte reden und Vorwürfe en bloc zurückweisen.

Vorurteile – ein Blick in die Vorurteilsforschung genügt – sind Klischees, die falsch oder richtig sein können. Ob sie es sind, muss von Fall zu Fall überprüft werden. „Franzosen sind Feinschmecker“, ist ein Vorurteil, das nicht per se falsch ist. Sowenig wie das Vorurteil, „Deutsche sind linkisch und gefühlsarm“ oder „Juden sind intelligent“.

Das bloße Vorhandensein von Klischees kann kein verlässlicher Hinweis auf Antisemitismus sein, der sich hinter ihnen verstecken kann, es aber nicht muss. Kein nationales Stereotyp betrifft 100 % einer Bevölkerung. Was nicht bedeutet, solche Stereotype gebe es nicht oder sie wären per se falsch.

Deshalb ist es in bestimmter Hinsicht sehr wohl möglich, von dem Deutschen, dem Franzosen oder dem Juden zu sprechen. Zwar ist jedes Individuum in seiner Gesamtheit unvergleichlich, in vielen Einzelaspekten aber doch vergleichlich. Menschen, die nur aus erfahrungslosen Stereotypen bestünden, wären hochgradige Psychotiker oder gar nicht lebensfähig.

Sartre behauptet nichts weniger, als dass ganz Europa sich sein Bild des Juden vollständig erfahrungslos aus den Fingern gesaugt hätte. Mit anderen Worten, nicht die Juden sind an ihrem Image schuld, sondern allein die Nichtjuden. Was wieder auf ein Entweder–Oder hinausläuft. Bislang waren die Juden an allem Übel schuld, nun hat es eine Kehre gegeben.

Um ihre Schuldgefühle am Holocaust abzutragen, sprechen die Europäer die Juden von aller „Schuld“ an ihrem Erscheinungsbild frei und nehmen alles auf sich: sie allein sind die klischee-bildenden und gehässig projizierenden Vorurteilserfinder. Das ist abwegig, stellt den Schuldzuschreibungsprozess nur mechanisch auf den Kopf.

Die Wahrheit ist selten ein dualistisches Extrem, sondern setzt sich aus realen Erfahrungen plus Verzerrungen der einen und der anderen Seite zusammen. Jeder Gruppen- und Paartherapeut kennt die Sachlage. Was ist richtig und falsch bei der einen, was bei der anderen Seite? Nur, wenn man lernt, Projektionen von Erfahrungen zu sondern, kann man sich von der Gewalt falscher Vorurteile lösen und den anderen sehen, wie er ist.

Diesen Prozess der differenzierten Selbst- und Fremdwahrnehmung hat es im deutsch-jüdischen Dialog nie gegeben. Schon deshalb nicht, weil weder Christen die Juden, noch Juden die Christen kennen. Bis jetzt hat man sich mit hilflosen Borniertheiten zufrieden gegeben, um die Gefahr des Antisemitismus empirisch zu untersuchen. Doch die Gefahr steckt tiefer und ist viel bedrohlicher, als dass man sie mit Holzhackerfragen herauskitzeln könnte. Sie steckt im religiösen Nervenkostüm, das sich mit modernistischen Vokabeln vollständig versiegelt und anonymisiert hat.

Dem Fazit des Artikels ist vollständig zuzustimmen: es geht darum, die Mechanismen zu verstehen, damit das Grauen sich nicht wiederholt. Die Frage aber bleibt: was heißt verstehen? Das muss ein reziproker Prozess sein, in dem jede Seite lernen muss, ihre Schwächen zu erkennen und sie nicht dem andern aufzubürden.

In seinem Buch: „Der jüdische Selbsthass“ stellt Theodor Lessing die Frage an seine jüdischen Landsleute: „Warum liebt man uns nicht?“ Und antwortet mit der jüdischen Lehre: „Weil wir schuldig sind.“ In den Klischeedebatten der Gegenwart ist Lessings These auf den Kopf gestellt. Nicht Juden sind schuld daran, dass sie nicht geliebt werden, sondern die vorurteilsbelasteten Nichtjuden, denen das angeborene Böse aus allen Poren dringt.

Die bloße Umkehrung eines Irrsinns ist noch lange nicht die Wahrheit. Nichtjuden bestehen nicht nur aus gefährlichen Klischees, sondern auch aus Erfahrungen. Und Juden sind nicht perfekte Menschen, die die Wahrheit für sich gepachtet haben, um in Debatten die Rolle der irrtumsfreien, anonymen Psychotherapeuten zu spielen, die alle Vorwürfe als Projektionen der Patienten von sich weisen.

Bis jetzt wurde der Begriff Schuld als Synonym für die kausale Entstehung der Stereotype benutzt, die uns gegenseitig das Leben schwer bis unerträglich machen. Was ganz anderes ist der Schuldbegriff bei Verbrechen. Selbst wenn alle Juden, Homosexuelle, Sinti und Roma all jene Naziklischees erfüllt hätten, die man ihnen zuschrieb, gäbe es keinerlei moralische Berechtigung, sie zum Tode zu verurteilen, bloß weil eine Herrenrasse sich von „lebensunwertem Leben“ übermäßig belästigt fühlt.

In humanen Gesellschaften müssen alle Konflikte durch friedliche Debatten gelöst werden. Deutschland muss an der Seite Israels stehen, aber in freundschaftlicher Kritik, die sich nicht automatisch dem Willen des Freundes beugt.

Die Gefahr des Antisemitismus ist höher, als die angeblich säkulare Mehrheit sich zugestehen will. Sie kann nur aufgedeckt werden – durch tabuloses Streiten unter Freunden, das die alles entscheidenden Religionsfragen nicht länger unter Verschluss hält.