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Montag, 06. August 2012 – Lineare Zeit

Hello, Freunde der Lust,

eine außerordentliche Meldung ging durch die Gazetten. Nach 2000 Jahren geistlicher Fortpflanzung hat das Christentum den Sex entdeckt. Wie zu befürchten war: als Geschenk Gottes.

Auf die angekündigte Vulgärsprache hat der erogene Pastor verzichtet, obgleich der Besuch des prickelnden Gottesdienstes wie bei Schmuddelfilmen erst ab 16 gestattet war, gemäß dem Motto: lasset die Kindlein zu mir kommen und wehret ihnen nicht, es sei, ich predige gerade über Lust.

Ob ein diskreter Verkaufsstand von Beate Uhse im Vorraum der Kirche präsent war, wurde nicht erwähnt. Aphrodisische Duftwolken verwandelten das Haus Gottes in einen Vorgarten der Lüste. Man hielt sich an bebenden Händen und tanzte um den Altar des Herrn.

Ob es nach dem geisterfüllten Vorspiel im Hause des Herrn in den Wohnungen der Gläubigen zum gliederlösenden Nachspiel kam, blieb unerwähnt.

Hier sehen wir exemplarisch die Strategie der Kirche. Zuerst wird versucht, die Lust der sündigen Natur im Keim zu ersticken. Gelingt das nicht, setzt man sich nach zwei Jahrtausenden Verfluchung der Lust an die Spitze der Bewegung und hat die Begehrlichkeit des Leibes erfunden.

Sie löschen und kritisieren jene Texte nicht, von denen sie sich abwenden. Sie übermalen und überschminken sie, doch der alte Text bleibt bestehen und kann

in veränderter Zeit wieder rehabilitiert werden. Die modischen Neudeutungen schwimmen wie Schaum auf uralten Texten, den man nach Belieben wegblasen kann.

Nein, das Christentum war nieeeee sinnenfeindlich. Das waren philosophische Sekten der Hellenen, die den Leib verdammten und Enthaltsamkeit predigten. Hatte Sokrates nicht standhaft den Verlockungen des brünstigen Alkibiades widerstanden?

(Elisabeth Böker in der FR: Auf „Poppen“ verzichtet)

Welche Glieder meinte wohl der Verfasser des Kolosserbriefes, als er schrieb:

„So ertötet nun eure Glieder, die auf Erden sind, und in ihnen Unzucht, Unkeuschheit, Leidenschaft, böse Begierde und die Habsucht, die Götzendienst ist, um welcher Dinge willen das Zorngericht Gottes kommt?“ „Ihr Geliebten, ich ermahne euch als Pilger und Fremdlinge: Enthaltet euch der fleischlichen Begierden.“ „Fliehe aber die Lüste der Jugend.“ „Die aber, welche Christus Jesus angehören, haben ihr Fleisch samt seinen Leidenschaften und Lüsten gekreuzigt.“

Paulus hielt es für besser, dass der Mensch – Mann war Mensch, Weib war Mensch zweiter Klasse – kein Weib berühre. Nur um der Verhütung der Unzucht willen sollte jeder seine Frau und jede ihren Mann haben. Die Geschichte der abendländischen Ehe ist die Geschichte einer Unzuchtsverhütungsinsitution. Gerechtfertigt nur durch Zeugung der Kinder, die lust-los gezeugt werden sollten, was aber außerhalb des Labors selten gelingt.

Die Erbsünde wurde durch den Sexualakt weitergegeben. Wenn sie schon nicht keusch sein können, sollen sie um Gottes willen heiraten. Besser aber wäre es, wie der Völkermissionar unverheiratet zu bleiben. Die Ehe ist ein notwendiges Übel, wie das gesamte Fremdlings- und Flüchtlingsleben im irdischen Lazarett.

Das Recht auf Sex in der Ehe ist eine Pflicht, keine Sache der Lust. Niemand hat das Recht, selbst über seine Bedürfnisse zu bestimmen. „Die Frau hat über ihren eigenen Leib nicht die Verfügung, sondern der Mann; ebenso aber hat auch der Mann über seinen eignen Leib nicht die Verfügung, sondern die Frau.“

Die übliche Ausrede: ich habe Migräne, ist kein Grund zur Lustverweigerung. Sofern man von Lust noch reden kann, wenn sie mit Hilfe des Himmels erzwungen werden darf. Die christliche Ehe ist die Lizenz auf gegenseitige straffreie Zwangsbeglückung.

Ich bin dann mal weg, ist die Losung des himmelsstrebenden frommen Pilgers. Wer Fremdling ist auf Erden, kann nur ein ent-fremdetes Leben hienieden führen. Die Natur ist nicht seine Heimat, in der er sich wohl fühlt. Sie ist ein bedrohlicher Dschungel, eine feindselige Wüste, die man so schnell wie möglich hinter sich bringen muss. Hat der Pilger die lebensfeindliche Teststrecke überwunden, soll sie hinter ihm zusammenbrechen und in Flammen aufgehen.

Versteht sich, dass christliche Ökologen bis heute nicht verstehen, dass sie gegen Gottes Willen verstoßen, wenn sie das kontaminierte Dschungelcamp retten wollen.

Doch heißa, nun brechen lustvolle Zeiten an. Die Frommen kehren zurück zu den Anfängen ihrer Bewegung, als sie in frommen Sex-Orgien den Herrn erwarteten. Die antinomistischen Adamiten wähnten sich bereits in der seligen Endzeit, in der der Sündenfall und die 10 Gebote überwunden und den Kindern Gottes alle ursprünglichen Freiheiten zurückgegeben waren.

Wenn Lust ein Geschenk Gottes ist, muss es den in Lusthöhlen verwandelten Kirchen um die Zukunft nicht mehr bange sein.

 

Die Reichen sind eine Minderheit in der Gesellschaft, die Superreichen eine vom Aussterben bedrohte ökologische Nische, die besonderer Hege und Pflege bedarf. Vor allem die Medien fühlen sich berufen, die vom Neid der Vielzuvielen bedrohte Minorität gegen Begehrlichkeiten abzuschirmen.

Denn nun soll den Reichen etwas Unmögliches zugemutet werden. Wie Krethi und Plethi sollen sie verdammt noch mal ihre Steuern bezahlen. Die normalen Steuern. Momentan bezahlen sie prozentual weniger als Mittel- und Unterschichten. Das Kapital ist ein scheues Reh und Kapitalisten scheuen die Gleichbehandlung wie der Teufel das Weihwasser.

Starke Schultern tragen mehr als schwache – dieser Satz muss aus der Steinzeit stammen. Heute müssen die Starken wie Mimosen behandelt werden, sonst verlassen sie uns durch die Hintertür. Natürlich nicht sie, sondern ihre Kröten. Dass man dort seine Steuern zu zahlen hat, wo man wohnt, weiß Berlin noch immer nicht. Zudem haben die Superreichen die besten Steuerberater, die sie herunterrechnen können, als nagten sie am Hungertuch.

Acht Billionen beträgt das Privatvermögen der Deutschen, doch wem gehört der verrottbare Schatz? Niemand weiß es genau, die Behörden schon gar nicht. Sie können nur schätzen, die Reichen werden nicht befragt und nicht erfasst.

War es nicht unter dem hessischen CDU-Koch, dass man ehrgeizige Steuerprüfer, die den Reichen allzu sehr auf die Pelle rückten, vom Dienst suspendierte, versehen mit psychologischen Ferngutachten – durch Psychiater, die sie nie gesehen haben –, dass sie kurz vor der Klapsmühle stehen?

Die Begründung der Behörden fürs Nichterfassen der Milliardäre und Millionäre: die Reichen würden ohnehin lügen, also könne man sie nicht erfassen. Oder: ärgert man die Reichen mit staatlicher Überwachung, gehen sie ins Ausland. Also kann man nur schätzen.

Die letzte Schätzung, die vermutlich untertrieben ist, lautet: 10% der Bevölkerung dürften mehr als 66% des gesamten Volksreichtums ihr eigen nennen. Früher mussten sie 53% Steuern bezahlen, der Satz wurde auf 42 % gesenkt. Kapitalerträge werden mit 25% belastet, während viele Arbeitnehmer deutlich mehr bezahlen.

Wer hat biblisch dafür gesorgt, dass die Habenden immer mehr kriegen und die Nichtshabenden zur Kasse gebeten werden? Richtig: Schröder und Fischer, die Roten und die Grünen. Ulrike Herrmann überschreibt ihren Kommentar: „Der Wahnsinn hat einen Namen: SPD.“

Jetzt geht Jungvater Gabriel mit der kühnen These hausieren, den Spitzensteuersatz auf 49% zu erhöhen. Tut so, als hätten die Bürgerlichen die Reichen gehätschelt. Unterdrückt aber die Glanzleistungen seiner Proletenpartei, die seit Müntefering sogar den Klassenkampf abgesagt hat.

Vor den Rot-Grünen sind alle Menschen gleich – mit Ausnahme der Reichen. Sie stehen unter dem besonderen Schutz der Linken.

Woher kommt die zärtliche Fürsorgeneigung der Deutschen zu ihren Tycoons? Sie sind überzeugt, dass niemand ohne besondere Talente und transzendente Betreuung seine Bäume in den Himmel wachsen lassen kann. Die Reichen sind Bestandteil der gottgesegneten Obrigkeiten.

Das ist ein alter Antireflex der Deutschen gegen westliches Revoltieren. Am Anfang bejubelten sie die Französische Revolution. Als aber Napoleon das degenerierte Preußen und den schäbigen Rest Deutschlands über den Haufen rannte, schlug die Bewunderung in grenzenlose Ablehnung um.

Das Volk rebellierte zwar bis 1848, doch die intellektuellen und wirtschaftlichen Eliten hatten sich längst vom Pöbel abgesetzt und die Freuden der Industrialisierung und des Reichwerdens entdeckt. Da konnten die Unteren nur Störfaktoren sein.

Das Parlament in der Paulskirche – in einer Kirche! – bestand vor allem aus Honoratioren. Volksvertreter aus dem Volk suchte man fast vergeblich. Diese Konstellation hat sich über Bismarck, Kaiserreich, Weimar bis zur geschenkten Nachkriegsdemokratie kaum verändert. Noch immer zieht man ehrfürchtig die Mütze, wenn der Hofgutbesitzer mit der Kutsche, wahlweise Porsche, durch die Stadt fährt und seine Huldigungen entgegennimmt.

Reichtum ist wie Adel, man gehört dazu oder nicht. Kaum jemand ist in Deutschland verachteter als der Neureiche, der es wagt, die bewährte Hierarchie zu durchlöchern. In den Medien werden nur Aufsteiger, Glücksritter und Parvenüs durchgereicht. Die wirklich Vermögenden sind anonymer als die Mitarbeiter des Verfassungsschutzes.

Das Bild der Reichen ist noch immer geprägt vom Bild der guten Patriarchen à la Krupp, der sich um seine Leute in vielfältiger Weise bemühte. Die Väter des Konzerns – auch die BASF gehörte in diese Kategorie – bauten solide Arbeiterviertel, veranstalteten Konzerte und Kulturabende, spendierten der Stadt regelmäßig große Beträge für den klammen Stadtsäckel, unterstützten Vereine, Schulen, gründeten Museen.

Einmal im Jahr kam das große Ehrenfoto aller verdienten Pensionäre mit dem jovialen Vorstandsvorsitzenden – der der eigentliche OB der Stadt ist – in die Zeitung. Man ist stolz auf seine Fabrik, dass man vom Lehrling bis zur Rente sein ganzes Leben dort verbracht hat.

Das war deutsche Unternehmerkultur, die erst durch den Einbruch des asozialen Neoliberalismus im Mark erschüttert wurde.

Seitdem regieren windhundähnliche eingeflogene Spitzenmanager, die dem Unternehmen in kurzer Zeit den größtmöglichen Profit abpressen und nach wenigen Jahren unter Absingen schmutziger Lieder das leergefegte Gehäuse verlassen.

Allmählich schlägt das Pendel zurück in die deutsche Patriarchenkultur. Immer mehr „gute“ Reiche wollen höhere Steuersätze zahlen und löcken wider den Stachel ausländischer Raffmentalität, die sich in deutschen Landen breit gemacht habe.

Zur neuen Patriarchenmentalität passt exakt die Erstarkung des gütigen Vaters im Himmel, der seine Schäfchen vor den Angriffen undeutscher Gottlosenelemente schützen muss. Betet und arbeitet, der Rest hat euch nicht zu kümmern. Deshalb sage ich euch: Sorget euch nicht um Leben und Rente. Sehet die Lilien auf dem Feld. Sie arbeiten und malochen nicht, dennoch ernährt sie der himmlische Vater. Wie wird er erst euch ernähren, die ihr brav malocht und das Denken und den Profit den Elefanten überlässt, die besser abkassieren können als ihr Hornochsen.

Da passt die Forderung Montis genau in die politische Landschaft, die Regierungen sollten sich mehr von den Parlamenten lösen, um unbehinderter agieren zu können. Die allmächtigen Patriarchen – im alten Rom ehrlicherweise Diktatoren genannt – fühlen sich durch Demokratie belästigt.

Mario Monti scheint sich an seine Ausnahmeregierung zu gewöhnen. Sein Vorgänger versaute die öffentlichen Sitten, Monti verdirbt gleich die ganze Demokratie. In Deutschland nannte man einen Putsch der Eliten: Revolution von oben. Da konnte keine Revolte der Basis mithalten.

Man könnte den Eindruck haben, die Menschen der Hochkulturen haben die Naturnähe archaischer Zeiten noch immer in sich. Fühlen sie sich vom ganzen Turmbau zu Babel mit all seinen verwirrenden Komplexitäten platt gemacht und sehnen sich nach der beglückenden Einfachheit der Steinzeit zurück?

Weit ab von der Zivilisation kraxeln die Ausgebrannten über die Berge, nehmen simulierte archaische Nahrung zu sich und schlafen im natürlichen Tag- und Nachtrhythmus.

Die Umstellung war anfänglich mühsam, doch bald erlebten die Teilnehmer die ersten medizinischen Erfolgserlebnisse. „Eine an die Menschen vor 10 000 Jahren angelehnte Lebensweise reduziere Druck und damit das Burnout-Risiko“.

Sollten diese Erfahrungen Recht behalten, ist die Rückkehr zum Primitiven und Einfachen die beste Kur unserer Gesellschaft gegen das Labyrinthische, in welchem wir uns nicht mehr zurechtfinden. Auch der apokalyptische Hang ist eine Sehnsucht zurück zu den seligen Anfängen. Eine kathartische Katastrophe soll uns im Nu in den Schoss der Natur zurückbefördern.

Doch den Wunsch nach verflossenen matriarchalischen Zuständen dürfen wir uns nicht bewusst machen. Ein rückwärtsgerichteter Wunsch ist verboten. Er ist Verrat am himmlischen Patriarchen, der uns nicht nach „hinten“ in verflossene Zustände, sondern nach vorne ins zukünftige zweite Paradies führen wird. Wie Lots Weib dürfen wir nicht nach hinten schauen. Tun wir‘s doch, erstarren wir zur Salzsäule.

Deshalb hat der gütige Schöpfer die lineare Zeit erfunden, die man nicht auf den Kopf stellen kann. Sollte es in früheren Zeiten glücklichere Umstände, genialere Gedanken und humanere Menschen gegeben haben – vorbei für immer. Es hilft alles nichts, wir können die Zeit nicht zurückdrehen.

Das Verbot des Kennenlernens der Vergangenheit wird uns ständig eingehämmert. Steinzeit? Griechische Polis? Leben ohne fremdbestimmte Arbeit, in Muße und sinnlicher Lust? Vorbei. Eine Rückkehr zur Natur gibt es nicht. Nach dem Sündenfall stehen Engel mit dem Schwert vor dem verlorenen Paradies.

Nur nach vorne in die Zukunft geht die Reise. Dorthin, wo der Sünder im Schweiße seines Angesichts und in bestrafter Arbeit sein Dasein zu fristen hat. Verlockt mit Aussicht auf ewigen Lohn, erpresst mit der Drohung ewiger Strafe.

Alle attraktiven Zeiten, die uns Vorbild sein könnten und uns anmachen, befinden sich in der Vergangenheit und Vergangenheit ist für immer vergangen. Schaut nicht nach hinten, alles Vergangene ist Gaukelspiel. „Gedenket nicht mehr der früheren Dinge, und des Vergangenen achtet nicht“.

So lassen wir uns unserer kollektiven Erfahrungen berauben. Was die Menschheit erfahren, erduldet und mühsam erlernt hat: lasst fahren dahin. Der Mensch lernt nichts aus der Geschichte, sagte Hegel.

Klar, der einzelne Mensch soll lernen, die Menschheit ist lernunfähig.

Nur das Zerschlagen der linearen Zeit wird den Reichtum des Menschengeschlechts in unsere Hände zurücklegen. Wollen wir uns betrügen lassen um die Früchte unserer uralten Erfahrungen und mühsam errungenen Weisheiten?

Entdecken wir den Reichtum des homo sapiens, den man im Namen einer messianischen Zeit seit Tausenden von Jahren zum Narren hält.

Wir werden keine Zukunft erringen, wenn wir uns nicht der Schätze unserer Vergangenheit erinnern.