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Tagesmail

Montag, 05. November 2012 – Das Gute muss begründet werden

Hello, Freunde der Religionen,

droht das Ende der christlichen Religionen durch einen rüden Verwaltungsakt? Gottlob nicht. Die Grabeskirche in Jerusalem soll wegen Nichtbezahlen der Wasserrechnungen für immer geschlossen werden, so die israelische Regierung. Doch die Schließung der uralten Gemäuer wird nicht das Ende der Frohen Botschaft bedeuten, im Gegenteil. Gläubige dürfen dann endlich wieder glauben, was sie bislang nur geschaut.

Die Jerusalemer Stadtwerke kennen ihren Paulus: Schauen muss dem Himmel vorbehalten bleiben. Ohnehin ist der Tote längst auferstanden und hat sich an seinem Grab nie mehr blicken lassen.

Apropos Stadtwerke. Niemand hat gefragt, worüber Peer Steinbrück in den Bochumer Stadtwerken für 25 000 Euro – umgerechnet 50 000 Deutschmark – gepredigt hat.

Über politisch korrektes Abschalten des Stroms bei hartnäckigen Nichtbezahlern der Stromrechnungen? Über korrektes Aufstellen von Mülltonnen am Straßenrand ohne Beschädigen vorschriftsmäßig geparkter Limousinen? Erinnerte er mit feurigen Worten an die vernachlässigte Aufstiegsorientiertheit der Proleten: Müllwerker, Berlin braucht euch. Die Quote der Straßenkehrer im Reichstag geht gegen Null?

Überraschend haben sich nun Vortragskünstler und Stadtwerke geeinigt. Das Honorar wurde automatisch einem karitativen Zweck zugeführt: dem Konto des Not leidenden Redners. …                                                                                                  …

Die Piraten scheinen gerettet. Ihre mariengleiche Lichtgestalt, die ihre Kleider autark verfertigt, genial malt und Musik hört, schön und fromm ist, Kindern hilft, die edle Wissenschaft der Psychologie betreibt, in Talkshows alle Widersacher schlagfertig an die Wand redet, mit verbundenen Augen Kiew von Berlin unterscheiden kann, plant umsichtig – und unter freundlicher Begleitung aller Medien – ihre Parusie.

Ihre Strategie des kontrollierten Rückzugs hat ins Schwarze getroffen. Über SPIEGEL lässt sie dem Volk mitteilen: „Die Rufe nach mir nehmen zurzeit sehr zu. Für die Piraten wäre es wohl das Beste, wenn ich wieder antreten würde. Es gibt keine Fraktion, die mich scheiße findet. Und mit 33 000 Followern auf Twitter bin ich die Piratin mit der größten Reichweite.“

Da würde selbst der Auferstandene bleich werden, vermutlich kann er nicht mal twittern. Über Follower aber hat er sich kompetent geäußert: „Meine Schafe hören auf meine Stimme und ich kenne sie und sie folgen mir nach.“ Politisches Nachfolgen wird der empirische Stoff ihrer Doktorarbeit sein mit dem Aufsehen erregenden Titel: Wie ich wilde Piraten in handzahme Schafe verwandelte.

 

Endlich ein Experiment mit Tiefengehalt: Treffen sich drei Jesusse in einer psychiatrischen Heilsanstalt. Jeder von ihnen hatte eine andere Begründung, warum nur er selbst und nicht einer der andern Christus sei. Und jeder wusste sofort, warum die beiden andern nur Schwindler sein mussten: weil sie in der Psychiatrie gelandet waren. Ähnlichkeiten mit der monotheistischen Realität wären rein zufällig.

 

Das Schicksal setzt den Hobel an und macht uns alle gleich. So ungefähr erlebte Louis Begley die Post-Sandy-Zeit in der aufregendsten Stadt der Welt. Auch die Reichen haben keinen Strom und müssen mit Kerzen in der Dunkelheit vorlieb nehmen. Andere allerdings verloren Hab und Gut und stehen vor dem Nichts – wenn sie überhaupt mit dem Leben davonkamen.

Wird Amerika die finanziellen und natur-wüchsigen Tornados überstehen? Oder wird das moderne Rom erneut das Zeitliche segnen? (Was nach roma aeterna kam, war das liebliche Doppel aus Chaos & Christentum.)

Amerika ist marode, auf jeden Fall in technischer Hinsicht. Telefonleitungen wie in der Steinzeit über der Erde, die meisten Brücken, fast die gesamte zivilisatorische Infrastruktur ist fünf minus. Brücken, Dämme, Stromnetz, Wasseraufbereitungs-Anlagen, Schulen erhielten jüngst in einem Ingenieursbericht fast nur schlechte Noten. Die Kosten einer Renovierung würden 2,2 Billionen Dollar kosten.

Romney wollte als Erstmaßnahme die staatlichen Hilfsorganisationen bei Naturkatastrophen abschaffen. Sein Motto ist schlicht: schafft den Staat ab. Alles, was nach Ökomaßnahmen riecht, soll ebenfalls eliminiert werden. Reiche haben noch ihre Atombunker im Garten und können Unwetter beliebig überstehen.

Amerika ist ein Kontinent der Prepper. Das sind Leute, die sich auf die Apokalypse – die sie durch Glauben selbst herbeiführen – vorbereitet und viele Konserven im Keller gehortet haben. Wie frustrierend muss es für sie sein, wenn die Apokalypse ausbleibt und die Gottlosen höhnen: wo ist nun euer Gott?

Womit klar sein sollte, warum fromme Amerikaner (gibt’s eigentlich noch andere?) den Staat schreddern wollen. Der Staat muss Katastrophen verhindern, der Glaube sie herbeibeten: Komm Herr, ach komme bald!

 

Erst in der Not werden Menschen zu Menschen. Da sie im Grunde ihres Herzens Menschen sein wollen, sehnen sie sich – ob sie‘s wissen oder nicht – nach der Not. Wie jener Pyromane bei der Freiwilligen Feuerwehr, der Feuer legen muss, um den tollkühnen Helfer zu spielen.

In der Not zeigt sich erst der Mann, die Frau muss die unheroische Normalität mit Kinder und Küche bewältigen. Oder als Trümmerfrau die Folgen der heroischen Männerkühnheit wegräumen.

In der Not rücken Menschen zusammen. Selbst hartnäckige Kapitalisten können kurzfristig zu Kommunisten werden und ihre letzte Kaviardose mit einem Obdachlosen teilen. Kaum aber ist die Normalität wieder hergestellt, kennen sie ihre kommunistischen Kumpels nicht mehr.

Zur Erziehung des Menschengeschlechts wäre es sinnvoller, in regelmäßigen Abständen künstliche Notsituationen herzustellen, als immer nur inhumanen Wohlstand zu produzieren. In der Not sind Menschen herzensgut, im Wohlleben holt sie der Teufel.

Da es viel zu wenig Not gibt auf der Welt – und wenn, immer dort, wo wir nicht sind –, hat sich das Urteil gebildet, der Mensch sei von Natur aus böse. Das Böse muss man heute nicht mehr begründen. Nur das Gute versteht sich nicht von selbst. Dass in uns, um uns und um uns herum das Böse lauert, unterschreibt jeder Zeitgenosse auf der Stelle. Das hat er im Katechismusunterricht gelernt, also muss es wahr sein.

Das Böse ist das unangefochtenste Credo weit über alle religiösen Grenzen hinweg. Auf diesen Erfolg darf das Christentum stolz sein. Jahrtausendelang hat es den Teufel gepredigt, die Menschen glauben mehr an den Gottseibeiuns als an den lieben Gott. In diesem Sinne können wir stolz – und demütig – behaupten, das Böse ist zum Fundament des Westens geworden.

Selbst Aufklärer Kant, Sohn frommer Pietisten, hat den Menschen nicht aus den Fängen des Bösen entlassen. Der „Hang zum Bösen“ sei in der Natur verwurzelt und bilde das Gegenstück zum „Hang zum Guten“. Da der Mensch frei sei, müsse er sich immer zwischen zwei Hängen entscheiden, weshalb es oft zur Hängepartie kommt.

Das überfordert den stärksten Kerl und den klügsten Moralphilosophen. Viele ächzen über den Freien Willen, der sie überfordere und würden denselben am liebsten an der Kasse zurückgeben. Aber so einfach geht’s nicht. Würden die Menschen ihren Freien Willen just for fun abgeben können, wären sie keine Menschen mehr, sondern wilde Tiere.

Der Mensch unterscheidet sich vom Vieh durch den Freien Willen. Dennoch stöhnen manche Frei-Willige, sie fühlten sich unfrei, wenn sie vor dem Regal im Supermarkt stünden und sich bei jedem Kaugummi entscheiden müssten: klauen oder bezahlen? Böse- oder Gutsein?

Und weil alle von der Freiheit überfordert sind, schummeln 99% aller Studenten bei den Prüfungen, schreiben Doktoranden ohne Anführungszeichen ab, bestehlen Abhängige ihre Arbeitgeber durch innere Kündigung, lügen alle sechs Minuten die Weiblein und gelüstet es alle Männlein permanent nach des Nachbars appetitlichem Weib.

Hannah Arendt wollte das radikale Böse vor Eichmann retten – der so gar nicht radikal ausschaute – und sprach vom banalen Bösen, vom dem viele glaubten, es sei schlimmer als das radikale Böse und andere, es sei zu harmlos, weshalb die Philosophin posthum das Banale korrigierte und zu Kants radikalem Bösen zurückkehrte.

Auf die Idee muss man erst mal kommen, das Banale als Steigerung des Radikalen einzuführen. Arendt wollte den SS-Schergen durch Banalität weder entschuldigen noch verharmlosen. Im Gegenteil, sie wollte ihn des radikalen Bösen berauben – weil das Böse ein ursprünglich Menschliches sei – und diese Menschlichkeit dem Schreibtischmörder entziehen.

Dinge, Maschinen und Roboter sind banal. Und banal roboterhaft hatte sie den Schwerverbrecher erlebt. Doch wie kann man sein Entsetzen angemessen formulieren: indem man die schrecklichsten Täter in Tiere verwandelt – oder als Menschen betrachtet, die ihren Freien Willen missbraucht haben?

Überhaupt ist das eine seltsame Chose mit dem Freien Willen. Eigentlich müsste der Mensch böse auf ihn sein, denn er reitet die ganze Menschheit in den Schlamassel, um die Pfuscharbeit des Schöpfers auf der ganzen Linie zu entschuldigen. Nicht Er ist an allem schuld, es sind die Menschen, denen er – mit böser Hinterlist? – den Freien Willen eingepflanzt hat, damit sie sich frei entscheiden müssen, zum Guten aber nicht gezwungen werden.

Nur Faschisten dürfen Menschen zum Guten zwingen – doch Gott kann niemals ein Faschist sein, sonst wäre er ja ein radikal böser Gott. Menschen sind sehr gut zu ihrem Gott. Lieber verwandeln sie sich selbst in Ungeheuer, als den armen Vater im Himmel mit Anklagen zu überziehen. Weiß doch kein Mensch, ob ER diese Vorwürfe überstehen würde. Bei seinem Alter kann man ihm dies nicht mehr antun.

Da sind wir Menschen – immerhin die Schöpfer des Schöpfers – von ganz anderem Schrot und Korn. Wir haben keine Angst vor dem Bösen und denken an Nietzsches Rat: Ihr müsst immer böser und nicht besser werden.

Was hat man davon, wenn man ein guter Mensch ist? Einen warmen Händedruck von Gauck, wenn er wieder mal die Ehrenamtlichen eingeladen hat? Man soll sich von niemandem ehren lassen, den man nicht selbst ehren könnte, ermahnt uns Günther Anders.

Dass immer Leute Preise verleihen, die nicht preiswürdig aussehen! Als Pfarrer hat Gauck sich sein ganzes Leben lang für Gutestun bezahlen lassen. Hat er jemals, ohne Blick auf ewigen Lohn im Jenseits, gute Werke getan? Gute Leute kommen nie auf die Idee, Preise zu verleihen – sie kämen sich bescheuert vor, Gutestun durch Loben zu erniedrigen.

Albert Schweitzer, den Giganten des Guten, kennt kein Mensch mehr, aber Hitler kennt jedermann auf der ganzen Welt. In Südtirol hat ein Winzer sogar seinen Wein auf Hitler getauft. Seine Liebfrauenmilch würde er niemals nach Mutter Theresa benennen. Und nach Gandhi pfeift schon lange kein Spatz mehr.

Kann mir irgendein Mensch mal sagen, warum ich das Böse wählen soll, wenn ich noch alle Tassen im Schrank habe? Und wenn ich nicht mehr alle Tassen im Schrank habe, warum ich das Gute wählen könnte?

Verstehen die Propagandisten des Freien Willens unter Wählen so etwas wie Würfeln? Wie der Würfel fällt, so entscheide ich mich? Das wäre keine freie Entscheidung, sondern ein unberechenbares Würfelspiel.

Entscheide ich mich aber bewusst und überlegt, müsste ich dann nicht Gründe haben? Wenn ich aber Gründe habe, bin ich dann noch frei – oder stehe ich unter dem Zwang meiner Gründe?

Wenn ich mich aller guten und vernünftigen Gründe verweigere, um der Diktatur der Vernunft zu entgehen, was ist meine Entscheidung noch wert?

Bei jedem Joghurt entscheide ich rational, in hochmoralischen Fragen aber soll ich die Ratio wegsperren, damit sie mich nicht totalitär an die Kandare nimmt?

Wenn ich nicht vernünftig handle, handle ich dann nach Unvernunft? Oder gibt’s zwischen Vernunft und Unvernunft – zumindest in der Theorie – was Anderes und Drittes? Ach ja, beinahe hätte ich die vielen Grautöne vergessen, in die die Deutschen vernarrt sind. Ohne unendliche Grautöne wäre das Leben für die meisten Feuilletonisten nicht mehr bunt, aufregend und pittoresque.

Sei‘s drum, Vernunft, Unvernunft oder Grautöne: irgendetwas bestimmt mich immer „aus dem Hintergrund“. Bin ich dann noch frei? Wenn mich aber nichts bestimmen darf, dürfen Grautöne mich auch nicht bestimmen. Da bin ich ganz eigen.

Sacradi, jetzt bin ich im Freien Willen untergegangen. Und was ist mit Mephisto, der stets das Böse will und stets das Gute schafft? Bei dem ist das Böse besser als das Gute, womit wir wieder bei Goetheverehrer Nietzsche wären. Selbst der biblische Gott hat den Teufel erfunden, damit dieser Volltrottel die Werke – Gottes ausführt. Am Schluss steht der Hanswurst da, wird vom ganzen Himmel verhöhnt und verlacht und wir reden vom betrogenen Betrüger, haben sogar Mitleid mit dem armen Teufel.

Also, verehrtes Publikum, wo stehen wir und woher soll uns Hilfe kommen?

Deutsche Edelschreiber sind von keinem Buch, keiner Oper, keinem Kunstwerk fasziniert, in denen das Diabolische nicht mit drei Sternen vertreten und gerühmt wird. Das Gute langweilt sie zu Tode – bis sie in der U-Bahn die Fresse poliert kriegen und nach Polizei und verschärften Gesetzen schreien.

Natürlich estimieren sie das Böse nicht wirklich, sondern nur, wenn es ihnen nicht gefährlich werden kann. Auf der Bühne, im Museum, zwischen zwei Buchdeckeln. Im normalen Leben muss alles piccobello anständig, gut und nach tadellosen Sitten sein.

Weswegen es im Dritten Reich angeblich keine normalen Verbrecher mehr gab (Haarmann wurde vertuscht). Die NS-Schergen taten, was sie im deutschen Ästhetizismus gelernt hatten. Sie inszenierten das Böse außerhalb ihrer Privatsphäre. Dort, auf der Bühne der Geschichte, war alles Böse erlaubt, sofern die Bösewichter zu Hause innig Weib und Kinder liebten.

Von diesem Gespaltensein – privat gut, auf dem theatrum mundi böse – leben auch heute noch feinsinnige Ästheten und Kunstexperten.

Was aber, wenn Bühne und Welt verschmelzen, aus dem Leben ein Gesamtkunstwerk wird und die Feinsinnigen durch die Macht der Kunst erlöst werden wollen, indem sie das Böse im wirklichen Leben vernichten? Dann ist Wagner von der Bayreuther Bühne ins Leben gesprungen und hat die Gestalt des Gesamtkunstwerkers Hitler angenommen.

In Hitler ist Wagner erst zu sich gekommen. Da wurde die Not der Deutschen zur Weltnot ausgerufen, damit die Notleidenden zusammenrücken, um sich für immer von der Not der Welt zu befreien.

Die westliche Welt glaubt an das Böse fester als an den Herrn der Heerscharen. Das Böse kann schlechterdings nicht bezweifelt werden. Das Gute hingegen muss hochnotpeinlich und gewunden erklärt, begründet und abgeleitet werden.

Zum Schluss ein typisches Beispiel aus der ZEIT, in der der Philosoph Michael Sandel mit ungeheurem Scharfsinn, tiefer Gelehrsamkeit und stupender Logik das Gute erklären muss. Wie können normale Menschen jemals hoffen, gute Menschen zu werden, wenn sie niemals in Harvard studieren können, was das Gute im Innersten zusammenhält? Nicht mal der ZEIT-Artikel kann uns ein Tüttelchen vom zweifelhaften Charme des Guten vermitteln.

Wetten, dass es dem Topstar unter den Denkern des guten Lebens gelingen wird, bei seinen StudentInnen die Liebe zum Guten und Wahren zu erwecken – solange sie noch keinen Job an der Börse, in der Waffentechnologie oder im Kapitalismus gefunden haben?