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Tagesmail

Montag, 04. Juni 2012 – Marx und Murks

Hello, Freunde Israels,

genaues Timing: kaum war Gaucks Besuch im Heiligen Land vorüber, wurde bekannt, dass Israel die von Deutschland gelieferten U-Boote mit atomaren Waffen ausstatten wird. Berlin behauptet, nichts über die Ausrüstung gewusst zu haben. Nichtwissend und nichtsahnend stehen wir in bedingungsloser Solidarität an der Seite Israels. Sollten wir dennoch etwas geahnt haben, lassen wir‘s uns bestimmt nicht anmerken. Wir sind doch nicht meschugge.

Mubarak wurde zu lebenslänglich verurteilt, seine Söhne frei gesprochen. Die Staatsanwaltschaft scheint viel geschlampt zu haben. Karim El-Khawary meint, die Ägypter müssten ihre nächste Lektion lernen und erneut auf die Straße gehen, damit die Macht des alten Regimes erschüttert wird. Mit einer einmaligen Revolution ist es nicht getan.

Bettina Gaus sorgt sich um die unaufhörlich voranschreitende Erodierung des parlamentarischen Systems – durch die Parlamentarier selbst, die immer weniger Wert darauf legen, ihren Wächterpflichten nachzukommen. Vielleicht sollte der Verfassungsschutz nicht ständig kleine Klickerlesvereine auf Systemtreue überprüfen, sondern die, die das System am meisten verkörpern und bewahren – sollten.

Die englische Nationalmannschaft wird geschlossen Auschwitz besuchen. Die Deutschen schickten nur eine Delegation. Die WELT schreibt: Graumann schimpft über Auschwitz-Besuch des DFB. Kann man das Schimpfen nennen, wenn von scharfer Kritik die Rede ist? Graumann benutzt sogar

das Standardwort „unerträglich“, da Bierhoff ursprünglich von einem Kamingespräch gesprochen habe, bei dem man über die Problematik reden wollte.

Nach dem Gesetz der Assoziation kann man alle Dinge mit allen Gefühlen in Verbindung bringen, das Wörtchen „unerträglich“ passt dann immer. „Kolossale Gefühllosigkeit und Geschmacklosigkeit“ wirft Graumann den Kickern vor.

Gefühle kann man nur zeigen, wenn man sie freiwillig zeigen darf. Fühlt man sich durch eine öffentliche Kampagne dazu gezwungen, hat man Probleme, sie auf Knopfdruck offen zu legen.

Graumann bevorzugt nicht die Methode stiller Überzeugung, er beginnt sofort mit dem öffentlichen Knüppel aus dem Sack. Dann wundert er sich über Trotzverhalten. Das deutsch-jüdische Vorführ- und Renitenztheater lebt und wird noch viele Wiederholungen erleben.

Die Burschenschaftler scheinen immer mehr nach rechts zu driften. Bei nicht wenigen gilt der Theologe Dietrich Bonhoeffer, der als Widerständler von den Nazis hingerichtet wurde, als Landesverräter. Die Hinrichtung sei juristisch korrekt gewesen. Der Streit über Bonhoeffer zwischen den verschiedenen Burschenschaften konnte nicht geschlichtet werden. Es droht die Spaltung des gesamten Vereins.

 

Die Linken haben‘s schwer, sie sind jene Partei, die mit dem Ossi-Wessi-Konflikt am meisten belastet sind. Der Hass gegeneinander muss so groß sein wie in ehemaligen 68er-Splittergruppen. Je geringer die Differenzen, je stärker die Abstoßkräfte.

Hier feiert der bedingungslose Dogmatismus urchristlicher Sekten freudlose Urständ. Wenn jeder unfehlbar sein will, jeder Kompromiss als Teufelszeug gilt, muss die geringste Abweichung als Fluchvorlage angesehen werden.

Die Ossis haben ihre demokratische Lektion besser gelernt als die Wessis, die die Intoleranz des real herrschenden Sozialismus nicht am eigenen Leibe erleben mussten und noch immer die Reinheit des Marx‘schen Urevangeliums bewahren müssen.

Gleichzeitig ist Marx nur noch aus Bildungsgründen zitierbar. Es ist dieselbe Denkschablone wie bei jenen, die sich Christen nennen. Sie halten ihre Bibel in Ehren, lesen werden sie darin auf keinen Fall.

Man will loskommen von der Autorität, von der man partout nicht lassen kann. Niemand klärt die Beziehung zur Urautorität – „dazu haben wir keine Zeit“ –, niemand ist in der Lage, die Frage zu beantworten: sind wir überhaupt noch Marxisten? Wenn nein, was dann?

Obwohl der Urvater schon längst vermodert ist, darf er nicht als Leiche bezeichnet werden. Das wäre Blasphemie und Altarschändung. Alternativen zur Leiche gibt’s nicht.

Die Parteisprache ist verkümmert auf zwei, drei Formeln, die Symphonie der Welt wird mit der grellen eindimensionalen Blechtrommel geschlagen. Eben noch waren Gysi und Lafontaine ein Gespann, jetzt wüten sie gegeneinander.

Keine Erklärung von dem Politologen Franz Walter, der sein Pulver verschossen zu haben scheint. Er begnügt sich mit der Aufzählung gruppendynamischer Oberflächenphänomene und personalistischer Zänkereien. Dann lässt er ermattet den Griffel sinken.

Stephan Hebel versucht es immerhin und begibt sich ans Eingemachte. Doch es bleibt beim hilflosen Versuch. Er hält den Satz des Leitantrags zum Göttinger Parteitag für veraltet: „Die Gesellschaft spaltet sich immer mehr in wenige, die in Wohlstand und Sicherheit leben, und einen wachsenden Teil derjenigen, die kaum über die Runden kommen.“

Die Vorstellung, Wohlstand sei ein Privileg der Wenigen, sei ein Relikt des „Industriezeitalters“. Heute müsse man als Linkspartei anerkennen, dass „ein Mindestmaß an „Wohlstand“ weiter verbreitet sei als noch vor 100 Jahren. Im gleichen Sinn müsse man sich von der Sprache des Proletariats verabschieden. Die Probleme einer allein erziehenden Mutter von heute seien nicht die eines ungelernten Stahlarbeiters.

Natürlich muss jede Partei die Sprache der Gegenwart sprechen, man muss ihr abnehmen, dass sie nicht in einer luftdicht abgeschlossenen Nische mit Marx-Nippes lebt. Dennoch haben die Strukturen sich nicht verändert. Die einen werden reicher und mächtiger, die anderen werden – im Vergleich mit den Reichen! – immer ärmer und machtloser. Daran ändert sich auch dann nichts, wenn die Armen nicht mehr verhungern müssen wie vor den Bismarck’schen Sozialgesetzen.

Die Demokratie beginnt zu zerbröckeln, die Reichen errichten ihre elitären Parallelgesellschaften, die Ausgeschlossenen ab Mittelschicht treten nach unten und riegeln sich nach unten ab, um nicht den Bazillus des Abrutschens einzufangen.

In der Tat gibt es mehr zu essen als vor 100 Jahren, aber Wohlstand kann man das nicht nennen. Denn Wohlstand beginnt erst, wenn es einem wohl wird in der eigenen Haut. Das kann bei den Abgehängten von heute genau so wenig sein wie bei den Proleten von früher. Beide Populationen werden ausgeschlossen und gedemütigt. Das ist ein Wehestand bei mehr Kalorien.

Den wahren Grund zum Abschied von dem Trierer nennt Hebel nicht. Es ist die lähmende Funktion der automatischen Heilsgeschichte, auf deren Winke man zu warten hat, weil Tun aus geschichtsunabhängiger moralischer Mündigkeit auch bei heutigen Marxisten noch immer als Moralismus verpönt ist.

Die wichtigsten Fragen werden bei den Linken ausgeklammert: Was ist Geschichte? Was Moral? Ist der Mensch Subjekt des Handelns oder muss er sich von einer so genannten naturgesetzlichen Geschichte gängeln und bevormunden lassen?

Indem Marx die allesbestimmende Geschichte anbetete, war er auch ein – zeitlich begrenzter – Anhänger des bürgerlichen Kapitalismus, der längere Zeit absolut notwendig ist, um die Menschen von den Zwängen der Natur zu befreien und sie mit Hilfe der Technik zu unterjochen.

In dieser Hinsicht unterschied sich Marx von keinem Ricardo oder Malthus. Erst wenn das Ausbeutersystem auf seinem Höhepunkt in unlösbare Widersprüche geraten ist, muss es abtreten. Seine Zeit ist abgelaufen, der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, er muss gehen. Dann erst beginnt nach dem Gesetz der Dialektik ein neuer Geschichtsabschnitt. Der Kapitalismus bricht zusammen.

Die Proleten, deren Verelendung nicht mehr zu steigern ist, hören das Signal der neuen Epoche und eilen zur Revolution des ohnehin morschen alten Systems. Der Gong schlägt, die Malocher übernehmen und bereiten sich aufs Reich der Freiheit vor. Die Malocher hätten nicht agieren können, wenn sie nicht das Signal der Geschichte gehört hätten. „Hell aus dem dunklen Vergangen, leuchtet die Zukunft hervor.“

Zwar heißt es in der Internationalen: „Es rettet uns kein höhres Wesen, kein Gott, kein Kaiser, kein Tribun, Uns aus dem Elend zu erlösen, können wir nur selber tun.“ Doch Geschichte wird gar nicht erwähnt, die allein das Sagen hat.

Hier beginnt die Verdrängung des Problems. Der Widerspruch zwischen ständiger Agitation und seltsamem Passivismus wird ausgeblendet. Sie haben immer das Messer im Sack, doch zur Anwendung darf es nie kommen – mit einer Ausnahme: gegen die eigenen Gesinnungsgenossen, die eine Handbreit vom alleinseligmachenden Kurs abweichen.

Der sektiererische Rumor entsteht, wenn überhitzte Energie sich drosseln muss, um nicht der Geschichte ungehorsam zu werden. Also braucht sie eine Ersatzkanalisierung: den abtrünnigen Bruder, den man killen muss, um an der eigenen Mission nicht irre zu werden.

Wie die dogmatischen Sätze des Christentums sind die dogmatischen Sätze des Marxismus dem Bewusstsein entwichen und können nicht aufgearbeitet werden. Alles bleibt im Zwischenreich eines unscharf flackernden Hell-Dunkels, in welchem die ständig gereizte Antistimmung gegen Gott und die Welt entsteht, die das Klima in der Linkenpartei so unerträglich macht.

Katja Kipping will die Partei in Richtung Grüne öffnen. Doch auch hier bedürfte es einer scharfen Selbstkritik am Naturverständnis von Marx und Engels. Zwar gibt es ein paar frühe Poesieformulierungen zur Natur – die beiden Herren waren Zeitgenossen der naturfreundlichen Romantik –, doch in ihrer ausgearbeiteten Kapital- und Arbeitswerttheorie war alles vergessen.

Der herrschende naturzähmende Kapitalismus der Bourgeoisie wurde zum großen Vorbild. Malochen, malochen und der Natur an den Kragen gehen.

Es ist ein Verhängnis: dabei verfügt der historische Materialismus über die naturfreundlichste Philosophie, die man sich denken kann: den Materialismus. Die Natur ist der Geburtschoß der Mutter, die alles gebiert, was geboren werden kann.

Im Bann Hegels aber schaffen es die dialektischen Materialisten, die Natur einer geschichtlichen Entwicklung zu unterwerfen, die sich am Ende der Geschichte selbst zu Grabe trägt – um etwas gänzlich Neues zu werden. Bloch schwärmt wie ein Kind beim Ausmalen einer zukünftigen Materie, die mit der jetzigen „Klotzmaterie“ nichts mehr gemein hat. Sie ist jene Heimat, „etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war.“ Also etwas völlig Neues im Sinne Jesu: Siehe, das Alte ist vergangen, ich mache alles neu.“

Diese neue Materie hat die alte in sich erwürgt und verschlungen. Aus der uns bekannten uralten natürlichen Materie ist ein ätherisches Produkt geworden, das am Ende mit Hegels Geist und Jesu neuem Himmel identisch geworden ist. Was jetzt geschieht, ist nur Vorgeschichte, die wahre Entstehung der Welt ist am Ende, nicht am Anfang.

Christlicher kann es nicht werden: „Der Mensch lebt noch überall in der Vorgeschichte, ja, alles und jedes steht noch vor Erschaffung der Welt, als einer rechten. Die wirkliche Genesis ist nicht am Anfang, sondern am Ende.“

Natur kennt eine Entwicklung, aber keine Geschichte, schon gar keine Heilsgeschichte. C.F. von Weizsäckers Geschichte der Natur hat mit chemischen und physikalischen Prozessen zu tun, aber nicht mit einem unwiderstehlichen Drang zum Heil – des Menschen, der im Mittelpunkt des Heils stehen soll.

Der historische Materialismus hat die Chance vergeben, die adäquate Philosophie der Natur zu sein, weil er die Natur einer anthropozentrischen Historie unterworfen hat. Materie plus Geschichte ergibt die Negation der Materie. Der sozialistische Materialismus wird zum religiösen Idealismus in materieller Dekoration.

Die mit Brachialmethoden durchgeführte Industrialisierung der Sowjetunion war kein Spezialfall stalinistischer Brutalität, sondern auf dem Mist der „Dialektik der Natur“ erwachsen. Im Reich der Freiheit wird alles paletti sein. Doch mit der Gegenwart hat das nichts zu tun.

Auch hier ist es wie im Christentum: hier ist Jammertal, hier gilt nur Elend, Tod und Verderben. Erst im Jenseits beginnen Milch und Honig zu fließen. Worauf Keynes hätte sagen können: Langfristig sind wir alle tot.

Marxens Naturbegriff war gänzlich von seinem Lehrer Hegel abhängig. Der machte sich eine sadistische Freude draus, den überlegenen Monsieur Geist die lächerlich-minderwertige Madame Natur auffressen zu lassen. „In Güte lässt sich gegen die Gewalt der Natur wenig ausrichten.“ „Die Versöhnung des Geistes mit der Natur ist Befreiung von der Natur und ihrer Notwendigkeit.“

Diese Freiheit von der Natur ist eben dieselbe, wie die der Frau, die sich von ihrem tyrannischen Manne mit der Axt befreit. „Über diesem Tode der Natur geht eine schönere Natur, der Geist, hervor.“

Wie Gott sich am Ende der Tage von der teuflisch minderwertigen Natur befreit, so der Hegel‘sche und Marx‘sche Geist von einer Natur, die sich weigert, den Menschen in den Mittelpunkt allen Geschehens zu stellen. Das verrät auch ungewollt die Internationale:

„Völker hört die Signale (= die Signale der Geschichte)

Auf zum letzten Gefecht ( = das finale Geschehen am Ende der Geschichte)

Erst, wenn wir sie vertrieben haben (= die Kohorten des Teufels müssen in die Hölle)

Dann scheint die Sonn ohn Unterlass.“

Das Reich, in dem sie Sonne nie mehr untergeht, ist nicht die Wiederholung des Habsburgischen Reiches, sondern die ewig leuchtende Sonne im Goldenen Jerusalem. Gott selbst wird die Sonne sein: „Und sie werden sein Angesicht schauen und sein Name wird auf ihren Stirnen sein. Und es wird keine Nacht mehr geben. Und sie bedürfen nicht des Lichtes einer Lampe, noch des Lichtes der Sonne; denn Gott der Herr wird über ihnen leuchten, und sie werden herrschen in alle Ewigkeit“.

Auch der kastrierte Salonmarxismus der heutigen Linken ist noch immer geprägt von christlichen Endzeitvorstellungen, einer automatischen Geschichte und naturfeindlichen Emotionen.

Solch ein religiöser Fatalismus verdient es nicht länger, links genannt zu werden. Er sollte himmelwärts heißen.