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Tagesmail

Montag, 02. Januar 2012 – Griechen und Erlöser

Hello, Freunde der Obdachlosen,

schätzet, Freunde, wie viele Obdachlose im Lande es gibt? 75 000, 180 000 oder 250 000 sogenannte Menschen? Um wie viel Prozent ist die Zahl zwischen 2008 und 2010 gestiegen? Warum steigt die Quote ständig? a) den Menschen gefällt das Leben an freier Luft, b) sie verabscheuen Immobilität und bevorzugen das Nomadenleben und c) sie empfinden sich als Avantgardisten eines kapitalunabhängigen, selbstbestimmten Lebens, d) nein, mit unbezahlbaren Mieten hat das nix zu tun.

In welchem Land dürfen Terrorverdächtige ohne Prozess und Anklage in unbegrenzter Haftzeit – das ist lebenslänglich – festgenommen werden? In China, Iran oder in der größten Macht der Welt, unterschrieben vom gewaltigsten Charismatiker der amerikanischen Geschichte? Von welcher Staatsform ist die Rede? a) von einer Charismatokratie, b) einer ordinären Bigottokratie, c) einer plebiszitären, evolutiv ausgereiften Faschisto-Demokratie, d) einer kapitalistisch überreifen, zur Ernte fälligen Apo-Calypso-kratie in sehnlicher Naherwartung des Herrn?

NB. Für Leute, die noch dazulernen wollen: Ein Charismatiker ist ein Gnadengabenbegabter, eine Charismatokratie entspricht der frühhebräischen Volksregierungsform vor der Etablierung des Königtums. Es herrschte der himmlische Gnadengeber persönlich oder in Form von willkürlich herausgesuchten Gnadengabenempfängern wie dem

liebreizenden Josua. Ersteres war dem Gnadengaberspender weitaus lieber als zweites. Mit Rücksicht auf störrische Kinder Israels beugte sich der göttliche Gnadengeber den menschlichen Gnadenempfängern.

Gnade ist, was die einen erhalten, die andern nicht. Warum, weiß niemand. Naseweise Menschen müssen auch nicht alles wissen.

Trotz schlechter Erfahrungen mit einem charismatischen Führer, zu dem sie persönlich beteten, haben Deutsche noch immer einen Draht zu Möchtegerncharismatikern in der Erscheinungsweise uraltadliger Lügenbarone.

Gott sei Dank bearbeiten die Deutschen mächtig ihre kollektive Sonderweg-Neurose. Ein Kaltbluthannoveraner muss jetzt zurücktreten wegen Beschädigung des höchsten Amtscharismas. Ihm fehlt das notwendige Personal-, pardon Persönlichkeitscharisma. Zudem hat er sich des schlimmsten Verbrechens in der Republik verdächtig gemacht: er hat BILD gedroht.

Da die gesamte Politkaste an unerklärlich-irreparablem Charismaschwund leidet – einem elitären Pendant zum rätselhaften Ausgebranntsein unterer Kasten –, soll das über alle Zweifel erhabene Amt für eine Regenerationsphase eingemottet oder gänzlich abgeschafft werden.

Es sei, dass sich naturcharismatische Frauen fänden, die sich des Amtes gnädig erbarmten. Allen Versuchen eines postreligiösen Vatermordes wäre für immer ein Riegel vorgeschoben. Mütter mordet man in der Regel nicht, wenn’s hoch kommt, drohen harmlos ödipale ES-Regungen.

Ist Mutter Merkel Stoikerin, mit krisenfreier Contenance gegenüber dem hysterischen Zeitgeist beseelt – oder aber von unbeirrbarem Gottvertrauen? Was hat der allesaussitzende Hintern Kohls mit der Stoa zu tun? Das hängt davon ab, würde Radio Eriwan antworten.

Also von vorne. Wenn eine Pastorentochter aus der atheistischen DDR noch als Christin angesprochen werden kann – worüber Gauck und Schorlemmer heftig streiten –, dann muss sie von allem Verdacht griechisch-heidnischer Weltweisheit freigesprochen werden. Ihre Steherqualitäten zeugen von Urvertrauen zum obersten Chef ihres Vaters.

Es hat sich mittlerweilen herausgestellt, dass im Jahrtausendkampf zwischen gläubigen Erlösern und heidnischen Vernünftlern das gläubige Abendland alles Gute den Erlösern zuschreibt, alles Schlechte den alten Griechen. Lang, lang ist’s her, dass Abiturreden mit dem normativen Satz begannen: Schon die alten Griechen … Heute würde ein katholischer Gelehrter wie Romano Guardini vom Vatikan auf der Stelle exkommuniziert werden, wenn er in einem Büchlein den Erotomanen Sokrates mit dem leidenden und gekreuzigten Christus parallelisieren würde.

Medea, Kindermörderin, Orest, Muttermörder, Ödipus, Mutterschänder, Narziss, Erfinder des Narzissmus, Prokrustes, Folterer, Sisyphos, Erfinder sinnfreier Beschäftigungstherapie, Vorläuferin unseres Kapitalismus, Zeus, man kann nicht mit allen Frauen dieser Welt schlafen, aber man kann es probieren, Bakchen, männermordende Weiber, Demokratie, Wahn selbstbestimmter Pöbelhorden, Vernunft, Hybris des homo rationalis, platonischer Eros, selbstzerstörender pädagogischer Virus aller Odenwald-Institute, Aristoteles, Sklavenverehrer, Lysistrata, pazifistische Sexverweigerin, Sophisten, Urheber der Sophisterei und Vorbilder aller windschlüpfrigen Intellektuellen, Platon, Urfaschist und Utopist, Antiphon, Propagandist schändlicher Gleichheit aller Menschen, Epikur, gottloser Lüstling, jonische Naturphilosophen, Bewunderer des Kosmos und Leugner einer von Gott geschaffenen Natur, Vertreter der zyklischen Zeit, Sokrates, Überprüfer göttlicher Offenbarungen: ein unerschöpfliches Arsenal zur Beschreibung archaischer Neurosen und Psychosen für jedes Kompendium zeitgenössischer Psychiatrie.

Was wäre im Vergleich dazu das Syndrom eines Petrus, eines Gottesverräters, des Satanisten Judas, des Johannes, eines apokalyptischen Weltvernichters, eines Paulus, Frauenverächters und Obrigkeitsanbeters, eines Jesus, der wahrhaftiger Sohn eines Gottes sein will: zu richten die Lebendigen und die Toten? Die seelischen Verwüstungen solchen Kalibers haben mit unserer entchristlichten Moderne gottlob nicht das Geringste zu tun. Sie bestimmen lediglich den apokryphen Lauf der Heilsgeschichte ins globalisierte Unheil. Sonst nix.

Gewiss gab es in der römischen Stoa gewisse Überschneidungen zwischen Seneca und Paulus. Man erdichtete sogar einen Briefwechsel zwischen beiden, um den „christlichen“ Geist des Neroerziehers den Schäfchen verständlich zu machen. Einem Stoiker alten Korn und Schrots ging es jedoch um Selberdenken, um Unabhängigkeit von Macht, Reichtum und staatlichem Glamour, um stille Beschäftigung mit der eigenen Seele, gelegentlich um moralische Politik.

Was hat Merkels Politik mit Moral zu tun? Bei ihr geht es um das Heil des Euro, von dem sie das Heil Europas ableitet. Wahrhaft stoisch, oddr? Dennoch passt die Beschreibung der Kanzlerin als heidnischer Stoikerin ins Schema der Psychosenzuschreibung. Wollte die TAZ sie als Stoikerin etwa rühmen? Im Gegenteil: schaut diese kalte, unempfindliche Machtaussitzerin. Alles paletti!

Nicht nur Geldeliten wachsen zusammen, auch Geisteseliten drängt’s zur Klumpenbildung. Die FAZ hat drei unserer Genies zu einem echten Gespräch zusammengeführt: Den roten Dany, den Kugelblitz Slavoi Žižek und eine FAZ-Edelfeder.

Der Titel des Gesprächs klingt verheißungsvoll: „Wir Europäer haben die Ressource der Aufklärung“. Nur wir Europäer, messieurs? Sind wir etwa eurozentrisch?

Von Aufklärung ist im Gespräch, das keines ist, sondern nur Stammtischgeplauder auf ätherischer Ebene, natürlich keine Rede. Da funkt’s und zischt’s nur so von Bonmots, überirdischen Assoziationen, illustren Bekannten und unübertrefflicher Weltläufigkeit, dass mir das Wort im Laptop stecken bleibt.

Ist schon jeder Einzelne der Dreien für sich ein Feuerkopf, als kongeniales Terzett sind sie ein unschlagbares Feuerwerk der Genieblitze. Nach Adorno ist Feuerwerk „die perfekteste Form aller Künste, da sich das Bild im Moment seiner Vollendung dem Betrachter wieder entzieht.“ Diese Kunstauffassung kann man nur verstehen, wenn man Adornos Verehrung des Bilderverbots kennt. Die schnöde Welt darf kein Bild des vollkommenen Gottes sein. Also ist sie am schönsten, wenn sie im apokalyptischen Feuerwerk verglüht.

Obwohl wir Europäer die Ressource Vernunft haben, sollten die Deutschen sich heraushalten, wenn es um „Fragen israelischer Politik geht“, meint Dany. (Oder gehört Deutschland gar nicht so recht zu Kerneuropa, Dany?)

Da wünschte man sich doch ein echtes Streitgespräch zwischen Dany und Uri Avnery. Doch das ist ein Ding der Unmöglichkeit in deutschen Medien, die sich philosemitisch geben, dabei abgrundtief antisemitisch sind, weil sie ihren angeblichen Freunden nicht die Meinung geigen und sie ins Verderben rennen lassen. Von wem wurde das israelische Sozialsystem zerstört? Von ultraorthodoxen Siedlern, die nichts dafür tun müssen und staatliche Leistungen für staatsfeindliche Tätigkeiten kassieren. Die neusten Heldentaten der Biblizisten sind im folgenden Artikel beschrieben: „Orthodoxe Juden provozieren mit NS-Symbolen“. Viel folgenloses und deklamatorisches Entsetzen allüberall über die Instrumentalisierung des Holocaust zu menschenfeindlichen Zwecken.

Im Zuge der Wiederkehr der Religion wird auch das dunkle Mittelalter neu belüftet und nachbelichtet: so schrecklich war’s unter papistischer Herrschaft gar nicht. Natürlich war alles furchtbar, was nicht bedeutet, dass alles schrecklich war. Was ist die Steigerung von professioneller Verblödung? Deutsches Feuilleton.

Hie „thronendes Weltgericht, Zug der Seligen und Verdammten, lähmende Endzeiterwartungen, Lebensfreude unter christlich-kirchliche Kuratel gestellt, schon ein Lachen wurde mit bösartigem Argwohn und fanatischem Misstrauen verfolgt“, dort Kritik der bösartigen Kritiker: „Das Mittelalter war wahrhaftig keine Wüstenei, wie der Humanismus polemisierte, ein Zeitalter des Aufbruchs, eine Ära der Mobilität, ein offenes Buch der Geschichte mit sieben Siegeln.“

Als ob der Aufbruch von jenen Kräften gekommen wäre, die für Denk- und Lustverbote gesorgt hätten. Kein Wort über die zwei Grundkräfte, die seit damals die abendländische Geschichte prägen: zwischen frei denkender Vernunft und freiheitshassendem Klerus.

Zum Schluss das Zitat des Jakob Burckhardt, der christlich-despotisches Lebensgefühl ablehnte, Demokratie und das Aufkommen proletarischer Horden leider noch mehr. Also muss er sich zwischen Pest und Cholera entscheiden und er wählt – die klerikale Pest. Da sei ihm die „mittelalterliche Hingabe an eine Idee“ doch noch lieber als die moderne „Zwangsindustrie aus Credit und Capitalismus“.

Was Burckhardt noch nicht wissen konnte: die Industrie entschlüpfte der Hingabe an die Idee. Der Idee der Weltherrschaft durch Hingabe an Credo und Credit.