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Montag, 02. April 2012 – Fritz Kuhn

Hello, Freunde der Richter,

schon gehört, dass Banken und Versicherungen in unserem Land die Macht besitzen, Grundsatzurteile zu verhindern, sodass „Rechtsschutzlücken“ entstehen und Hunderte oder Tausende auf ein BGH-Urteil warten müssen?

Da gibt es Richter, nicht irgendwelche, sondern die höchsten, die haben ein Urteil schon in der Schublade, doch Sparkassen und Geldinstitute ziehen ihre Revision zurück, zahlen der Gegenseite satte Abfindungen – und die Richter gucken ohnmächtig in die Röhre.

Da liegt es in den Händen von Beklagten, dass das Recht keine Binde um die Augen, sondern ein Klebestreifen um den Mund verpasst kriegt und niemand schreitet ein?

Die Bundesregierung könnte sehr wohl etwas dagegen unternehmen, indem sie das Recht änderte. Warum tut sie es nicht, schützt durch Passivität die Macht des Geldes und schwächt die Macht des Rechts? Da kann es nur ein klassenkämpferisches Vorurteil sein, dass Macht auf der Seite des Geldes steht.

Wenn es keine Grundsatzurteile gibt, können Banken und Sparkassen ihren Kunden die miesesten Papiere andrehen, ohne Konsequenzen befürchten zu müssen. „Kundenfeindliche Vertragsklauseln“ werden durch solche (Un-)Rechtsklauseln weiterhin geschützt.

Was müsste geändert werden, damit kleine Anleger, die sich betrogen fühlen, zu ihrem Recht kommen? Das Prozessrecht müsste „Initiativ-Urteile“ zulassen, die nicht mehr abhängig sind vom Willen der Prozessteilnehmer.

Zurzeit gibt es nämlich eine „Dispositionsmaxime“ (was für Großkotzbegriffe, um Unrecht zu kaschieren), der zufolge

Prozessbeteiligte jederzeit das Recht haben, ihren Streit beizulegen. Immer dann, wenn große Institute eine Niederlage vor dem höchsten Gericht befürchten, ziehen sie zurück, zahlen ihren Gegnern eine Summe, die jene nicht ablehnen können und sind aus dem Schneider.

Im Interesse der Allgemeinheit sei es aber gerechtfertigt, solche Fragen grundsätzlich zu klären, sagt ein ehemaliger Richter. Mit anderen Worten: Geld verhindert Recht. Diese Praxis gebe es übrigens nicht nur im Bankengewerbe, sondern auch in anderen Rechtsgebieten.

Dann wird es höchste Zeit, dieses Rechtssystem on demand flächendeckend einzuführen. Wenn der Mörder eine kleine Summe springen lässt für die Angehörigen seines Opfers – schon sind Gerichte und Polizeibehörden entlastet. Den aufgeblähten Beamtenapparat könnte man sich ersparen. Endlich wird das Recht privatisiert, der verfettete Staat kann abspecken.

Der Artikel in der ZEIT übergeht mit betonter Sachlichkeit alle Grundprinzipien und kommt nicht auf die Idee, dort anzufragen, wo man anfragen müsste, um die wahren Schuldigen ausfindig zu machen: bei den Politikern.

Doch politische Anschlussfragen wären eine Sache für den investigativen Journalisten und den gibt es im deutschen Pressewesen nur noch in Person des berühmten Hans Leyendecker. Der arbeitet aber für die SZ in München. Die ZEIT hingegen wird in Hamburg hergestellt, da hält man viel von vornehmer Zurückhaltung.

 

Bislang war die Bundeswehr stolz darauf, anders zu sein als andere Armeen, etwa ihre Rambo-Kollegen aus Amerika. Am Hindukusch bauten sie Brücken, Krankenhäuser und Schulen für Kinder und Frauen.

Selbst deutsche Sturmgewehre waren pazifistisch eingestellt und versagten bei „längeren Feuergefechten“, indem sie es vorzogen, heiß zu laufen und Treffer auf große Entfernung zu verweigern. Wer unbedingt erschossen werden wollte, musste Eigeninitiative entwickeln, sich den G-36-Schützen mit offener Brust so weit annähern, dass er eine reelle Chance für sozial verträgliches Abscheiden erhielt.

Dass Heckler & Koch für diese subversiven Waffen verantwortlich sind, kann nur verwundern, wo wir doch die ganze Zeit nur von deutschen Präzisionswaffen lesen durften.

„Das Rohr muss erst abkühlen“, so das Fazit der Experten, das Oswalt Kolle nicht trefflicher hätte formulieren können. Womit unerfreulicherweise das männerfeindliche Klischee bestätigt wurde, dass Schießen und Mannsein zusammenhängen müssen. Bleibt die Frage: Wie schießen Bundeswehrfrauen?

Bisher war es ein Rätsel, warum Deutschland die beliebteste Nation in der ganzen Welt ist. Nun haben wir eine mögliche Antwort. Deutsche entsorgen nicht nur in vorbildlicher Weise den Müll zu Hause, sondern auch weit draußen in der Ferne. Besonders da, wo das Gelände gefährlich und die Luft dünn ist: am Himalaya.

Zwei rüstige Frührentner scheuen keinen Aufwand, um auf dem höchsten Gebirge der Welt „Kot, alte Zelte und auch Tote“ (in dieser Reihenfolge) abzutransportieren. Die agilen Präsenioren – ein Sportarzt und ein Unternehmensberater – könnte man als Antagonisten des Reinhold Messner bezeichnen.

Während der Südtiroler die letzten unberührten Naturregionen durch Grenzüberschreitung den Menschen zugänglich machte, um Natur von ihrer Einsamkeit zu erlösen, dem Gefühl, von der Menschheit links liegen gelassen zu werden und nutzlos zu sein auf der Welt, fühlen sich die beiden Rheinländer auch für die Folgen der Berührung zuständig. Bereits 13 Tonnen Abfall, viele hundert Kilogramm tiefgefrorene Exkremente und auch einige Leichen (in dieser Reihenfolge) sind schon ins Tal abgeseilt worden.

Ob Bergsteiger in ihrer Ausbildung auch mit Schiller konfrontiert werden? Wir vermuten nein, es könnte ihre Motivation unliebsam unterminieren: „Die Welt ist vollkommen überall, wo der Mensch nicht hinkommt in seiner Qual.“

 

Sind Abgeordnete ihrem Gewissen untertan? Das setzte voraus, dass sie eins hätten. Die Frage ist empirisch noch nicht untersucht. Theoretisch ist es ungewiss, ob ein Gewissen überhaupt existiert. Hirnforscher haben bereits alle Hirnwindungen, SPIEGEL- und BILD-Neuronen auf den Kopf gestellt, aber keine Stimme Gottes, kein Über-Ich, keine regulative Instanz gefunden.

Bis jetzt lässt sich nur sagen, dass Abgeordnete einer nachweisbaren Fraktionsstimme gehorchen. Sollte jemand, was aber sehr unwahrscheinlich ist, doch einen Gewissensrest in seiner Amygdala entdecken und auf freie Meinungsäußerung im Parlament dringen, könnte er Probleme mit seinen Fraktionsführern bekommen, die bei dem Wort „Gewissen“ allergisch zu reagieren pflegen.

Doch dank unserem gediegenen Parlamentspräsidenten Lammert, der sich mannhaft gegen die Fraktionsstalinisten durchgesetzt hat, dürfen gewissensgeplagte Abgeordnete wenigstens für einsdreißig ans Podium, um ihre alteuropäischen Qualen ein wenig zu mildern. Dazu Christian Bommarius in der BZ.

 

Ende mit Welpenschutz bei den Piraten. Nun müssen sie sozialisiert werden oder sie werden lästig. Bislang gaben sie sich frisch, unverbraucht, jung und kess, ohne gleich in allen Punkten eine Meinung haben zu müssen. Das fanden die medialen Hasen auf den ersten Blick ganz amüsant, doch allmählich beginnen die Internetfreaks lästig zu werden, wenn sie sich nicht bald einebnen – oder eben nicht einebnen lassen.

Wollen sie ihren jungfräulichen Charme bewahren, gelten sie als politunfähig, wollen sie ihn aufgeben, als nivelliert und profillos. Sie wollen unbegrenzte Freiheit im Internet und unterminieren den heiligen § des geistigen Eigentums, weil sie sich im Netz bedienen wollen wie in einem Supermarkt, wo keine Kassen klingeln.

Jetzt beginnen die Geistesarbeiter zu rebellieren. Wovon sollen sie leben, wenn jeder ihre Stücke und Gedanken kostenlos abkupfern kann? Die Piraten würden sich rein „affirmativ“ zum Netz verhalten, meint Harry Nutt, indem er ein Wörtchen benutzt, das bei Adorno & Co zur schlimmsten Kritik an Angepassten und Mitläufern benutzt wurde: affirmativ.

So wie Konfirmation unkritische Zustimmung zu Gott, ist Affirmation eine kritiklose Zustimmung zur kapitalistischen Gesellschaft. Offensichtlich legen die Piraten, wie Gauck, viel Wert auf Freiheit, aber, entgegen Gauck, weniger auf Verantwortung, was in dem Fall bedeutet: auf Bezahlung all der grenzenlosen Nutzungsrechte, die das neue Medium in Überfülle anbietet.

So einfach könne man sich das nicht machen, meint der FR-Schreiber. Es müsse um die Frage gestritten werden, wie demokratisch die digitale Revolution ablaufe.

Ein seltsamer, aber typischer Kommentar, der die Meinung vertritt, man solle streiten – anstatt selbst zu streiten und konkrete Argumente in Pro und Contra vorzulegen. Solches haben Edelfedern nicht nötig. Das Kleingedruckte überlassen sie Volontären. Sie streiten, indem sie ankündigen, eines Tages zu streiten, dass gestritten werden soll. Mit anderen Worten, Nutts Kommentar ist ein Null-Kommentar.

Doch Nutt ist ein Waisenknabe in seiner leeren Kritik an den Piraten, verglichen mit der Vernichtungswut des WELT-Chefredakteurs, der durch den schnellen Erfolg der Piraten eine Infantilisierung der Gesellschaft am Horizont heraufdämmern sieht.

Die jungen Leute würden sich zwar anders geben, das mache den Reiz ihrer unangepassten Verführungskraft aus. Allein, sie seien nicht anders. Indem sie keine scharfen Alternativen böten, seien sie bereits im Fahrwasser der andern Parteien, die alle in der Mitte verklumpt seien.

Jede biete nur, was die rivalisierenden Parteien böten, alles gravitiere in die nivellierte Mitte, sodass Vertreter anderer Politsysteme, die nicht so freiheitlich-pluralistisch organisiert seien, wie etwa China, schon mal kritisieren würden: was wollt ihr eigentlich mit eurer Parteienvielfalt, wenn es doch kaum noch Unterschiede zwischen den Parteien gibt? Da ist es bei uns mit der einen Riesenpartei auch nicht viel anders.

Indem die Piraten nicht nur die Rolle der Ignoranten spielten, sondern Ignoranten seien, würden sie nur den mittigen Klumpeneffekt verstärken – anstatt den Einerlei-Brei durch scharfen Wettbewerb aufzumischen. „Daher die Ruhe, die emotionslose Freundlichkeit, die bräsige Vollpräsenz und zugleich die fast gesichtslose Unauffälligkeit, die die Repräsentanten ausstrahlen.“

Sie seien Attentisten (= entscheidungsunfreudige Aufschieber und Abwarter) und Begründungsverweigerer. Damit verkörperten sie eine Selbstgenügsamkeit, die die ganze Gesellschaft zu infantilisieren drohe.

Herr Schmid scheint seine eigene Vergangenheit als Alt-68er vergessen zu haben, von der er sich beizeiten abgeseilt hat. Wie etwas beginnt, ist kein Kaffeesatz, dem man entnehmen kann, wie die Sache sich entwickeln wird. Wer hätte den Grünen vorausgesagt, sie würden eines Tages eine verklumpte Partei der Mitte werden?

Malt nicht gleich den Verfall des Abendlandes an die Wand. Es ist auch noch kein WELT-Chef in Stiefel und Sporen vom Himmel gefallen.

 

Fritz Kuhn will OB in Stuttgart werden. Er gehört zum Urgestein der Grünen und wird der Fraktion der Realos zugerechnet. Die TAZ hat ihn interviewt.

Er sei ein Wert-, kein Strukturkonservativer, sagt er über sich, indem er Epplers Begriffe benutzt. Ein Wertkonservativer will Werte, ein Strukturkonservativer Macht bewahren. Hätte Eppler nicht besser von machtkonservativ reden sollen?

Um Wertvolles zu erhalten, müsse man aber zu radikalen Veränderungen bereit sein, so Kuhn. Wer sich nicht ändere, bleibe sich nicht treu.

Seltsam, dass es keine Machtkonservativen gibt, die diesen Satz nicht unterschreiben würden. Kein Politiker von Verstand würde propagieren, er wolle Macht um der Macht willen. Macht sei immer nur das Instrument, um Sinnvolles zu bewegen. Auch die Grünen können auf Macht nicht verzichten, wenn sie ihre Ideen verwirklichen wollen.

Epplers Begriffe sagen nichts weiter als: wir Wertkonservative sind die Guten, ihr Strukturkonservativen seid die Übeltäter. Insofern taugen die Begriffe nur für die übliche Selbstauszeichnung und Fremdbezichtigung, ohne etwas Klares gesagt zu haben. Soweit, so nivellierter Klump, würde Schmid sagen.

Für welche Werte tritt der Kandidat an? Dass Menschen in der Nachbarschaft füreinander eintreten, für Subsidiarität (solange Menschen sich selbst helfen können, muss der Staat nicht eingreifen. Der katholische Begriff meint nichts als bürgerliche Autonomie.)

Deklinieren wir durch: welche Werte werden bewahrt, wenn ich den Bahnhof unter die Erde lege? Dass Nachbarn sich weiterhin helfen können? Doch das Gegenteil geschieht, Wohnviertel werden abgerissen, Nachbarn auseinandergerissen, gewachsene Beziehungen gestört.

Zu welchem wertvollen Zweck werden diese sozialen Beziehungskräfte gestört? Um des wirtschaftlichen Profits willen. Gehört Profit in die Reihe konservativer Werte? Sind die meisten Menschen nicht mit ihrem Wohlstand zufrieden, wenn sie das Gefühl haben, im Gemeinwesen geht’s mit gerechten Dingen zu? Immerhin leben wir in einem der reichsten Länder der Welt.

Muss ich Werte zerstören, um sie zu retten? Blanker Unfug. Hier werden Schumpeters kapitalistische Wachstumsideen – Fortschritt durch fruchtbare Zerstörung – gedankenlos auf geistige Werte übertragen. Erneut ein Beispiel für die Dominanz des ökonomischen Paradigmas.

Auch Schumpeter will seinen Profit-Wert bewahren, indem er wirtschaftliche Rahmenbedingungen zerstört, die nicht mehr genug abwerfen. Seine kreative Zerstörung betrifft nur äußere Strukturen, die aber für viele Menschen verhängnisvoll werden können, wenn sie aufgrund einer Konzernzerschlagung entlassen werden und sozial absteigen.

Die Notwendigkeit einer Erneuerung durch Flächenbrand entsteht nur in dynamischen Fortschritts- und Wettbewerbssystemen, die sich ständig entwickeln, um lästige Wettbewerber auszuschalten.

Ein nicht-darwinistisches Wirtschaftssystem für Menschen begrenzter Bedürfnisse, das sich gegen aggressive Rivalen nicht zur Wehr setzen müsste, stünde nicht unter dem Zwang, von Dekade zu Dekade tabula rasa zu machen, um mit neuen Maschinen und Produkten die Nebenbuhler auszustechen.

Schon gar nicht gilt dieses Prinzip für geistige Werte wie Solidarität, Empathie und demokratische Leidenschaft. Wenn die zerstört werden, wachsen sie nicht frisch und runderneuert aus Ruinen nach.

Erst jetzt bemerken wir, in welchem Maß der neoliberale Tsunami unsere Gesellschaft verändert hat, nicht zu ihrem Vorteil. Fast die ganze Managerelite ist zur Zynikerkaste verkommen. Selbst die Jugend definiert sich nicht mehr unter dem Etikett einer Generation, sondern zerfällt in unterschiedliche Gruppen, die nichts miteinander zu tun haben wollen.

Sind Werte erstmal durchlöchert, dauert es lang, bis sie wieder erneuert sind. Wer eine Blume, eine Biene, eine Landschaft: wer Mensch und Natur bewahren will, darf sie nicht prophylaktisch ausrotten.

Aus Kuhn spricht die Verblendung des modernen Fortschritts, der glaubt, alles unter sich begraben zu dürfen, weil er alles prächtiger, besser und humaner aufbauen könne.

Das ist die Botschaft einer supranaturalen Religion, die die primäre Natur eliminieren muss, um eine sekundäre Natur im Namen eines höherwertigen Geistes zu installieren. Jede Veränderung gilt als positiv, weil sie eine minderwertige Natur abräumt: schlimmer kann es nicht mehr werden, besser allemal.

Kuhn ist kein Bewahrer, sondern ein Zerstörer – um einer besseren Zukunft willen. Dieser Zukunftsglaube verbindet Marxisten und Kapitalisten. Wenn Kuhn Blochs berühmten Satz zitiert: Heimat sei, „was allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war“, entlarvt er sich als Salonmarxist, der die ursprüngliche Heimat der Vergangenheit zerstören muss, um das zukünftige Reich der Freiheit zu erringen.

Dieses Paradies tritt erst ein, wenn die gesamte erbsündige Last der bisherigen Menschheit in einer Revolution unter die Räder geraten ist und das ganz Neue sich auf Erden niedergesenkt hat. Wir können auch theologisch formulieren: wenn der Messias wiederkommt, wird er das Reich Gottes auf der perfekten neuen Erde installieren. Das Böse wird vollständig am Boden zerstört werden.

Hier gibt es keine Heimat mehr, die jedermann als embryonale Geborgenheit kennt. Auch mütterliche Kompetenz ist mit dem Bazillus des Bösen infiziert und muss ausgerottet werden, damit die technischen und wirtschaftlichen Väter in Glanz und Gloria einziehen.

Die Vergangenheit muss rabiat zerstört werden, um eine illusionär vollkommene Zukunft auf den Trümmern des Humanen zu errichten.

Die Grünen wollten einst die Natur erretten und bewahren. Längst sind sie eingeschwenkt auf den breiten Weg der Moderne, deren Leitidee heißt: der Mensch muss zerstören, was er retten will. Wir töten, was wir lieben.