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Tagesmail

Montag, 01. Oktober 2012 – Adorno und Merkel

Hello, Freunde des Umverteilens,

es fällt auf, dass in Berichten über das Umverteilen der Begriff Gerechtigkeit kaum vorkommt. Höchstens in der Wendung „schreiende Ungerechtigkeit“, wie Jürgen Trittin die Umverteilung von unten nach oben bezeichnet. Man will nicht in die Falle tappen, den Begriff positiv definieren zu müssen und begnügt sich mit dem expressiv herausgeschleuderten Protestbegriff Ungerechtigkeit.

Am Wochenende demonstrierten mehrere zehntausend Menschen in mehr als 40 Städten für eine gerechtere Verteilung der Vermögen. Unter dem Motto „Umfairteilen – Reichtum besteuern“ verlangten sie die Einführung von Vermögens- und Finanzmarktabgaben. Unterstützer waren Gewerkschaften, Sozialverbände, Globalisierungskritiker, Rote, Grüne und Linke.

Das englische Wörtchen fair klingt unbelastet und unmittelbar einleuchtend, das deutsche Wort gerecht ist von vielen philosophischen Debatten erschlagen.

Wir haben über unsere Verhältnisse gelebt, hatte Merkel gesagt. Dabei hatte sie nicht an sich oder die Reichen gedacht, sondern an die Arbeitslosen. Zuerst spricht man von Wir, dann zeigt man mit dem Finger auf die Andern, die den Zusammenhalt des Wir mutwillig zerstört haben.

Man schlägt sich demonstrativ an die eigene Brust, um im zweiten Akt zu zeigen, wen man wirklich meint: diejenigen, die mit Gerechtigkeitsphrasen nur andern an den Beutel wollen. Moral im eigenen Interesse einzufordern, ist unfein. Die enormen

Gelder des Staates, die an die Betuchten gehen, heißen nicht Sozialstütze, sondern Subventionen.

Subventionen sind sinnvoll eingesetzte Gelder zur Schaffung und Sicherung von Arbeitsplätzen, Hartz4 ist eine verlorene Subvention an unproduktive Privatiers.

Schon in ihren zauberhaften Anfängen hatten die Grünen den Begriff Gerechtigkeit vermieden. In technischer Rede sprachen sie vom Umbau der Gesellschaft. Man muss die Debatte so lange einköcheln lassen, bis sie reduziert ist auf die Ebene evolutionärer Notwendigkeit.

Die Deutschen brauchen das Gefühl der Verschmelzung mit der Geschichte oder ähnlichen Großtieren aus der Tiefe. Wenn man ohnehin tun muss, was an der Zeit ist, kann man sich unendliche moralische Streitigkeiten ersparen, die zu keinem Ergebnis führen.

Wir verstehen allmählich, warum die meisten deutschen Jungen Lokführer werden wollen. In diesem rasanten Job muss man nur einheizen. Den Rest erledigt die Lok, die immer nur dahin will, wohin die festgelegten Schienen es wollen.

Die Gesellschaft war am debattenfreudigsten, als es am wenigsten zu entscheiden gab, weil der Karren noch ordentlich lief. Als der neoliberale Tsunami über Mitteleuropa hereinbrach, war Schluss mit Grundsatzdebatten. „Ach wissen Sie, Herr Pleitgen, über Gerechtigkeit gibt es so viele Meinungen“, sprach der Ökonom im Frühschoppen und aus war‘s mit der Gerechtigkeitsdebatte im Öffentlich-Rechtlichen – bis heute.

Die erste Generation der hiesigen Ökonomiekratie hatte noch Hayek gelesen, der gegenwärtige Oberliberale namens Rösler wird den Namen kaum gehört haben. Und besagter Hayek warnt die Demokratien davor, ständig neue Betätigungsfelder der Gerechtigkeit aufzutun. „Wenn die Demokratie erhalten bleiben soll, muss sie einsehen, dass sie nicht der Urquell der Gerechtigkeit ist und dass sie einen Gerechtigkeitsbegriff anerkennen muss, der sich nicht unbedingt in der vorherrschenden Ansicht über jedes konkrete Problem ausdrückt.“

Ein Staat darf nicht alles, schon gar nicht ein demokratischer. Der muss erst bei der Evolution nachfragen, was man in höheren Etagen für richtig hält. Hier treffen sich Fromme und Unfromme. Selbst deutsche Gottlose beziehen sich auf einen evolutionären Humanismus. Schon besser, wenn man mitten im Schoß der Ereignisse sitzt, man weiß ja nie, was die Zeiten bringen werden.

Deutsche entscheiden sich eben nicht gerne und schon gar nicht mittels Moral. Entscheidungen, darunter ungeheuer wagemutige und riskante, fallen nur auf dem Felde der Ehre, und das heißt, auf dem des persönlichen Fortkommens. Das ist übrigens die vielgescholtene Wurstelei der Kanzlerin, die solange herumlaviert, bis der Druck der letzten Sekunde sie zum Handeln zwingt.

Merkel kann es nicht leiden – weshalb sie so beliebt bei ihren Untertanen ist –, dass sie „ideologisch oder doktrinär“ entscheidet. Durch wankelmütiges Herumlavieren ärgert sie die Evolution so lange, bis diese genervt die Bremse zieht und sie zum energischen Tun verdonnert. Am nächsten Tag macht Angie Pressekonferenz – ganz entspannt und wie gehäutet. Von Vorsehung darf man nicht mehr sprechen, der Begriff ist verbrannt. Sagen wir, Providentia hat sie wieder mal nicht im Stich gelassen. Vielleicht ist es aber auch nur so, dass die Geschichte sich selbst durchwurstelt.

Was ist das Gemeinsame von Merkel und Adorno? Beide sind gehorsame Verehrer der Geschichte, die sie mit verschiedenen Methoden zur Entscheidung stimulieren wollen. Merkel mit dem Pragmatismus der Magd des Herrn, Adorno mit dem radikalen Denken des Propheten, der damit rechnen muss, dass seine Prophetien vom verblendeten Volk höhnisch verworfen werden.

Der Frankfurter gilt als geistiger Vater aller linker Gesellschaftsveränderer. Doch in einem legendären SPIEGEL-Interview verleugnete er seine Vaterschaft. Alle Demonstranten der Gegenwart müssten, wenn sie an Adorno dächten, ein schlechtes Gewissen haben, wenn sie leichtsinnigerweise glaubten, mit Aktionen könnten sie die Gesellschaft verändern.

Die Linken sind weder in der Lage, ihre mentalen Väter zu respektieren, noch sie nachhaltig zu entsorgen. Es gibt weder einen zünftigen Vatermord, noch eine zärtliche Hingabe an die alten Patriarchen. Von einem sinnvollen Gespräch der Sprösslinge mit den Altvordern kann keine Rede sein. Marx, Engels, alles nur mit Leichentüchern verhängte Gipsfiguren.

Es gibt keine Tradition mehr, schon gar keine kritische. Durch Auseinandersetzung mit ihren Leitfiguren kann sich heute keine Partei mehr runderneuern.

Die Christen denken gar nicht daran, das Buch der Bücher für die Absegnung ihres weltlichen Tuns in Anspruch zu nehmen. Sie könnten die schreckliche Entdeckung machen, dass sie mit den heiligen Dokumenten – konform sind. Richtig gelesen: konform. Bislang wähnten sie sich immer im sicheren Bereich, wenn sie bußfertig und in routinierter Demut ihre Sündhaftigkeit präsentieren konnten, um die unfehlbaren Bücher als zeitlos gültige, aber nie zu realisierende Vorbilder zu immunisieren und in Blattgold zu idolisieren.

Solange sie böse sind, haben sie noch das Motiv des ewig Bessermachenwollens, um ihr Gewurstel zu rechtfertigen. Wie heißt das schöne Fremdwort? Prokrastination. Morgen werden wir perfekt sein, sagen die Evangelikalen unter den Kirchentreuen. Die großen Volkskirchen halten nichts von einem besseren Morgen und wiederholen eisern, dass wir allzumal Sünder sind und des Ruhms vor Gott ermangeln. Also Jenseits abwarten und wachen, bis der Herr an die Türe klopft.

Werden wir auf Sündhaftigkeit festgelegt, sind wir elegant aus dem Schneider, wenn nichts vorwärts geht und nichts rückwärts. Man trägt keine Verantwortung für die progressive Veränderung der Menschheit in moralibus. Es genügt die Verbesserung der Maschinen bis zur Roboterreife, inklusive Fühlen und Denken.

Maschinen halten wir für lern- und bewusstseinsfähig, den homo faber nicht. Da wir die Schöpfer der Maschinen sind, werden wir Gott übertroffen haben, wenn unsere Golems klug und weise geworden sind. Das hat unser Schöpfer mit uns noch nicht geschafft.

Wie konform das heutige Wirtschaftssystem mit dem Neuen Testament ist, zeigt nicht nur das Matthäus-Theorem: Wer hat, dem wird gegeben, wer nichts hat, dem wird auch noch genommen, was er hat.

Gibt es eine präzisere Kurzbeschreibung der gegenwärtigen Misere als diese Stelle aus dem Gleichnis von den anvertrauten Pfunden, wo der Herr den bestraft, der am wenigsten mit seinen Pfunden wucherte? Kommt der Pastor, das Gleichnis sei missverstanden, es gehe um Wuchern mit geistigen Pfunden. Natürlich, besonders wenn man täglich beten muss: Herr, wir alle sind unnütze Knechte, sei uns Sündern gnädig.

Oder nehmen wir das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg, bei dessen Lektüre ein Gewerkschaftler graue Haare kriegen würde, weil jeder Malocher im Weinberg des Herrn den gleichen Lohn erhält. Und dies mit der dreisten Begründung des Patriarchen: „Ich will aber diesem Letzten so viel geben wie dir. Oder steht es mir nicht frei, mit dem Meinigen zu tun, was ich will? Oder ist dein Auge neidisch, weil ich gütig bin? So werden die Letzten die Ersten und die Ersten Letzte sein.“ ( Neues Testament > Matthäus 20, 1-16 / http://www.way2god.org/de/bibel/matthaeus/20/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/matthaeus/20/“>Matth. 20,1 Neues Testament > Matthäus 20, 1-16 / http://www.way2god.org/de/bibel/matthaeus/20/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/matthaeus/20/“>-16)

Das also ist die Gerechtigkeit Gottes, der alle heidnischen Gerechtigkeitsideen der Griechen verhöhnt. Wenn das keine Blasphemie des gesunden Menschenverstands ist, gibt es keine mehr.

Nicht zu vergessen das paulinische Wort: „Wer nicht arbeiten will, der soll auch nicht essen.“ ( Neues Testament > 2. Thessalonicher 3,10 / http://www.way2god.org/de/bibel/2_thessalonicher/3/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/2_thessalonicher/3/“>2.Thess. 3,10) Dieses Wort war für Götz Werner, den Befürworter des BGE, eine solche Herausforderung, dass er bei renommierten Theologen nachfragte, ob die Sentenz auch meint, was sie sagt. Was nämlich bedeuten würde, dass man beim BGE auf theologischen Beistand verzichten müsste. Wer, bitte, sollte noch Kirchensteuern zahlen, wenn niemand mehr malochen geht?

Natürlich sagte der renommierte Gottesgelehrte aus Bayern genau das, was Werner hören wollte: der Text meint das Gegenteil dessen, was er buchstäblich sagt. Der Buchstabe tötet, der Geist macht lebendig.

Doch nicht nur christliche Politiker können aus ihren Traditionen keinen Honig mehr saugen. Den Linken geht es nicht besser, wenn sie Marx weder sausen lassen, ihn aber auch nicht lesen oder mit ihm streiten können. Von Poppers Kritik an Hegel und Marx haben sie noch nie gehört. Schlaft weiter Genossen und gebt eurem frischgebackenen kantigen Kandidaten Beinfreiheit – aber in Verantwortung.

Von den Grünen gar nicht zu reden. Die haben überhaupt keine heiligen Texte, an denen sie sich abarbeiten oder die sie zwecks Emanzipation dekonstruieren müssten.

Also Adorno. Will er die Welt verändern? Das hält er für Verzweiflung. Er hält sich für einen Künstler, nicht für einen Agitator. „Ich habe mich erst neuerdings von der Praxis abgewandt, mein Denken stand seit jeher in einem sehr indirekten Verhältnis zur Praxis. … Ich habe niemals irgendetwas gesagt, was unmittelbar auf praktische Aktionen abgezielt hätte.“ Praktischen Aktionen, die seine Studenten von ihm erwartet hätten, habe er sich immer verweigert. Dahrendorfs Haltung, wenn man nur im Kleinen bessere, werde vielleicht alles besser, könne er nicht anerkennen.

Adorno bekennt sich zu Baudelaires Elfenbeinturm. Die Frage: was soll man tun, könne er nicht beantworten. Er könne nur rücksichtslos analysieren, in der Hoffnung, dass wider Erwarten diese oder jene Erkenntnis ins Leben übergehen werde. Aktionismus sei auf Verzweiflung zurückzuführen, weil die „Menschen fühlen, wie wenig Macht sie tatsächlich haben, die Gesellschaft zu verändern.“

Der Soziologe ist davon überzeugt, dass Einzelaktionen zum Scheitern verurteilt seien. Mit Grabbe glaubt er, dass nur Verzweiflung uns retten könne. Er könne keinen Vorwurf darin erkennen, wenn man ihn in der Welt verzweifelt, negativ oder pessimistisch sieht. Eher seien forcierte Optimisten beschränkt, wenn sie Hurra schreien, um sich zu motivieren.

Ohne Arbeitsteilung zwischen Denken und Tun ginge es nicht, das hätte auch der alte Marx erkannt. Er glaube an die Theorie, die konsequent bei ihrem Leisten bleibe und gerade dadurch die Welt verändern könne. Theorie sei selbst eine Form von Praxis. (SPIEGEL-Interview mit Theodor W. Adorno von 1969)

Auf der einen Seite der l’art pour l’art-Ästhet, der nur durch kompromisslose düstere Theorie die Welt zu verändern hofft. Auf der anderen Seite die Demonstranten und Aktivisten, die jegliche Theoriearbeit verabscheuen. Das ist die heutige politische Realität.

Die Parteien haben keinen geistigen Erholungs- und Regenerationsraum mehr. Gängige Begriffe werden abgeschliffen, anstatt im eigenen Resonanzraum stets neu durchdacht zu werden.

Die Denker haben nicht mal den Anspruch, mit Theorie die Wirklichkeit zu verändern. Nicht mal zur Verzweiflung sind sie fähig, um das unscheinbare Licht am Horizont vielleicht zu entzünden.

Auch an ein strenges Elfenbeinturmleben ist gar nicht zu denken. Die Exzellenz-Unis müssen bei Sponsoren ständig auf der Matte stehen, um ihre windigen Projekte zu finanzieren. Auf der anderen Seite ist die politische Basisarbeit in den Initiativen an eindimensionaler Ödnis nicht mehr zu überbieten.

Nach Marx‘scher Einsicht die besten Voraussetzungen, dass sich bald etwas tun wird. Denn tiefer kann der Karren im Dreck nicht stecken.

Wie konnte Adorno aufklären, wenn er Aufklärung für totalitär hielt? Keine politische Gruppe der Gegenwart nimmt den Begriff Aufklärung in den Mund. Jene, die es tun, kriegen zu hören: Du denkst zuviel, das stört beim Agitieren.

Die Religion ist nicht zurückgekehrt, sie war nie verschwunden. Nach dem Krieg nahm sie die Form des Marxismus und der linken Theorie an. Wie Merkel vor der Geschichte hinwurstelt, um sie zu einem Machtwort zu provozieren, so benutzt Adorno die Verzweiflung – das Hoffen wider alle Hoffnung –, um die Schicksalsmächte herauszufordern. Seine negative Dialektik ist eine paradoxe Intervention, um die Dialektik zum positiven Abschluss zu kitzeln und zu animieren.

Die Kanzlerin und der Denker, beide machen ihre Veitstänze unter dem Himmel, um ihn zum Regen zu verlocken, indem sie – wie im Kinderspiel – höhnen: Du kannst es ja nicht, du kannst es ja nicht.

Den Deutschen geht es nicht darum, sich schlicht und einfach zu überlegen, was sie für richtig halten, um es schlicht und einfach zu tun. Ständig tüfteln sie neue Strategien aus, um die Geschichte, den Zeitgeist, die Evolution herumzukriegen, dass doch bitteschön sie tun sollten, was getan werden müsse. Sie selber seien zu klein und schwach.

Momentan befinden wir uns in einer Sackgasse. Akteure sind im Grunde ihrer Seele nicht von ihren Aktionen überzeugt, denn insgeheim befürchten sie, dass ihre Gedanken auf schwankendem Boden stehen. Denker glauben weder an Gedanken noch an Taten. Sie erfüllen nur noch ihren Job, bis sie ihre Pension kassieren und die lang ersehnte Weltreise antreten können.

Weder mit blindem Herumlavieren noch mit tiefsinnigem Zweckpessimismus werden wir weiterkommen. Sondern mit Hölderlin, den wir mit sich selbst komplettieren müssen. „Kommt, wie der Strahl aus dem Gewölke kommt, aus Gedanken vielleicht geistig und reif die Tat?“ Gewiss – wenn aus Taten geistig und reif die Gedanken kommen.

Denken und Tun gehören zusammen und beleben sich gegenseitig. Schluss mit dem Eiertanz vor höheren Mächten, die wir mit raffinierten Tricks herumkriegen wollen, pro nobis unsere Arbeit zu erledigen.

Das Prinzip stellvertretenden Tuns und Leidens ist vorbei. Mündig sein bedeutet, selbst zu leiden und zu handeln. Niemand tut unsere Arbeit, wenn wir nicht selber Hand anlegen.

Kant muss vervollständigt werden. Haben wir Mut, uns unseres eigenen Denkens und unserer eigenen Tatkraft zu bedienen. Wir müssen komplett werden.