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Tagesmail

Mittwoch, 29. Februar 2012 – Postmoderne

Hello, Freunde der Demokratie,

die Schnelligkeit der Geldvermehrungscomputer kollidiert mit der Langsamkeit des parlamentarischen Verfahrens. Welche Geschwindigkeit wird sich durchsetzen?

Karlsruhe hat ein wenig die Blitzesschnelle der Finanztransaktionen gebremst und die demokratische Beratungs- und Abstimmungssolidität gestärkt. Ein kleiner Etappensieg, mehr nicht. Wenn die Dominanz der Geldzirkulationen und des Geldes nicht prinzipiell gestoppt wird, werden die Methoden des reiflichen Überlegens und Abstimmens langsam, aber sicher ausgehöhlt.

Das Völkermordgesetz in Frankreich ist verfassungswidrig und verstößt gegen die Meinungsfreiheit, entschied der Verfassungsrat in Paris. Sarko wollte mit dem Gesetz die Leugnung des Völkermords an den Armeniern unter Strafe stellen. Erdogan lobt das Urteil, doch Sarko plant schon ein neues Gesetz.

Langfristig sind alle Gesetze, die korrekte Meinungen vorschreiben, demokratieschädlich. Mag Deutschland mit der Leugnung des Holocaust ein Sonderfall gewesen sein: es wäre an der Zeit, zur demokratischen Wirklichkeit zurückzukehren.

Es ist die Probe aufs Exempel, ob wir unsere Hausaufgaben erledigt und verstanden haben, was vor 70 Jahren geschehen ist. Es kann auf die Dauer nicht förderlich sein, wegen einiger Wirrköpfe und Querschläger das Grundgesetz einzuschränken.

In dieses Kapitel gehört auch, dass das Buch „Mein Kampf“ gedruckt und gekauft werden kann. Entweder

wir sind immun, dann müssen wir es auch beweisen. Oder wir lügen uns mit der vorbildlichen Entsorgung der Vergangenheit in die Tasche.

Bommarius zitiert dazu den britischen Historiker Timothy Garton Ash: „Wir sollten alle Tabus abschaffen, die immer noch in unseren Gesetzbüchern stehen. Die europäischen Länder, die solche Gesetze haben, sollten nicht nur ihre Blasphemie-Gesetze aufgeben, sondern auch ihre Holocaust-Leugnungsgesetze abschaffen.“ Haben wir Angst, uns im Spiegel zu betrachten?

Dass ein Holocaustleugner mit spitzfindigen Sophistereien von Karlsruhe freigesprochen werden kann, ohne dass in der nichtjüdischen Öffentlichkeit eine Debatte entbrennt, zeigt ohnehin, wie es mit unserem Philosemitismus bestellt ist. Im Zweifel sollen die Juden „ihre“ Angelegenheiten selber regeln und kommentieren, man lässt sie allein auf weiter Flur.

Das betrifft unser Verhältnis zum Staat Israel insgesamt. Welche Stimmung dort herrscht, in welcher emotionalen und politischen Verfassung sich das Land befindet, wird hier nicht zur Kenntnis genommen, geschweige analysiert und verstanden. Hier ein kleiner Stimmungsbericht aus Tel Aviv, wo sich unter einem forschen Hier-und-Jetzt-Gefühl massive Ängste verbergen.

Uri Avnery schließt nicht die Augen vor den „tickenden Zeitbomben“ in Israel. Von einer iranischen Bedrohung spricht er nicht. Er sieht die unausweichliche Gefahr, dass das kleine Land von den sich schnell vermehrenden Ultraorthodoxen in den Würgegriff genommen werden kann – wenn nicht dagegen gesteuert wird. Die jungen Leute werden auswandern und ihre jüdische Identität in anderen Ländern leben können.

Der zionistische Traum von einer sicheren Heimstatt für alle Juden der Welt könnte in einem „nationalen Selbstmord“ enden. „Ein Staat ohne Demokratie, ohne Gleichheit, der sich selbst zu einem endlosen Krieg verurteilt hat, der von religiösen Fanatikern dominiert wird, in dem eine Kluft zwischen bitter Armen und einer Handvoll von unglaublich Reichen von Jahr zu Jahr breiter wird – solch ein Staat wird für intelligente junge Leute immer weniger attraktiv erscheinen, die leicht woanders ein besseres Leben finden können …“

Uri spricht nicht von irrealen Alpträumen, sondern von realen Gefahren. Doch ohne jegliches Echo im Lande der Täter-Nachfolger, dem zweitwichtigsten Freundesland für Israel. Würde man an einem potentiellen Selbstmörder mit diesen Symptomen achtlos vorübergehen, wäre das unterlassene Hilfeleistung. Nun schauen wir gleichgültig in die andere Richtung, wenn solche alarmierenden Signale aufsteigen.

Was jüdisches und israelisches Leben bedeutet, wird hierzulande noch weniger zur Kenntnis genommen, als die Frage, mit welcher Berechtigung man sich Christ nennt, wenn man nie die Heilige Schrift liest. Was hierzulande geschieht, ist nichts als religiöser Reiserummel, eine Sensationsgier unter der Devise: hat die Bibel nicht dennoch Recht? Welche Knochen unter welchem Reihenhaus beweisen, dass Petrus und Paulus gemeinsam an dieser Stelle übernachtet haben?

Das Interesse an Israel ist kein Interesse am jüdischen, sondern am christlichen Land der Sehnsucht. Nach dem apokalyptischen Sündenfall der Christen im Dritten Reich, den sie bis heute vollständig leugnen, haben sie sich nach dem Krieg in einen aufgesetzten und unglaubwürdigen Philosemitismus gestürzt, um ihre Schuld stillschweigend zu räumen.

Viel Kibbuz- und Sühnezeichentourismus in kirchlichen Kreisen, von den Jungen ernst gemeint, für die Älteren ein willkommenes Feigenblatt, um die schreckliche Vergangenheit zu überdecken. Eine lächerliche Antisemitismus-Forschung, die mit Wissenschaft nichts zu tun hat, sieht vor lauter Bäumen den Wald nicht.

Wie antisemitisch ist eine ganze Regierung, eine ganze Gesellschaft, die den so genannten Freund gar nicht sehen will, nicht die Bohne daran interessiert ist, in welcher Verfassung der Freund sich befindet und emotionslos zuschaut, wie der Freund sich – wenn Uri Avnerys Diagnose auch nur zur Hälfte zuträfe – ins Messer stürzt?

Nicht anders als in Amerika, wo Biblizisten sich als die besten Freunde Israels ausgeben, dabei nur ungeduldig darauf warten, bis die Juden kollektiv zu ihrem Christenglauben überlaufen. Was geschieht, wenn das in absehbarer Zeit nicht geschieht?

Es muss die Frage gestellt werden: wie viel Antisemitismus verbirgt sich hinter der heuchelnden christlich-jüdischen Freundschaft, die eines Tages ihr wahres Gesicht zu erkennen geben wird?

Es ist nicht das einzige Thema, das in diesem Land nicht angepackt wird. Tom Schimmeck meint, in Deutschland wird bei allen alarmierenden Themen nur das Fingerchen gehoben, nicht die Faust geballt. Der vom SPIEGEL zur Diffamierung erfundene Begriff des Wutbürgers wurde von Geissler in öffentlich inszenierter Versöhnung begraben. Nicht der Wille der Wutbürger hat sich in Stuttgart durchgesetzt, sondern der Wille derer, die am längeren Hebel sitzen.

Die täglichen Talkshows dienen nicht der Streitkultur, sondern der Kanalisierung unberechenbarer Emotionen. Was früher gut besuchte Gottesdienste erledigten – seid untertan der Obrigkeit, es gibt keine Obrigkeit, die nicht von Gott wäre –, erledigen heute Maischberger, Plasberg & Co.

Ein Gesprächsleiter, der als Dompteur auftritt und jede allzu abweichende Meinung sofort niedertritt, sorgt für Abfuhr unerwünschter Ketzereien. „Talkshows senken sich wie Pürierstäbe in die politische Debatte, machen aus jedem Sujet Babybrei.“

Stephane Hessel wurde mit seinem Entrüstet-Euch-Manifest wie ein exotisch-putziger Greis aus einem anderen Jahrhundert vorgeführt. Die schlimmste aller Haltungen, schrieb Hessel, sei die Indifferenz, das verantwortungslose Durchwurschteln. In dieser Haltung der Gleichgültigkeit und verordneten Apathie würde der Mensch eine seiner wichtigsten Eigenschaften verlieren: die Empörung.

Mit welch inhaltslosen Kriterien die Edelfedern das Zeitgeschehen kommentieren, zeigt der Kommentar von Harry Nutt über die beiden Bundespräsidentschafts-Kandidaten in exemplarischer Weise. Mit Gauck und Klarsfeld würden die Deutschen sich ihrer „Geschichte vergewissern“.

Welcher Geschichte, der guten, der schlechten? Gibt es nur eine einzige indifferente Geschichte? Was heißt „sich der Geschichte vergewissern“? Sie zur Kenntnis nehmen wie in einem belanglosen Geschichtsunterricht nach der gängigen Devise: je mehr KZs die Eleven auswendig kennen, je mehr „wissen“ sie, je mehr haben sie verstanden? Heruntergenudelte Infos würden zeigen, dass man kapiert habe?

Doch „Retro“ sei diese Haltung nicht, gibt Nutt gleich zur Entwarnung. Retro heißt rückwärts. Wie kann man sich der Vergangenheit vergewissern, ohne den Blick rückwärts zu wenden? Ist retro normalerweise verboten? Schau nicht rückwärts, Engel? Wie Lots Frau, die zur Salzsäule erstarrte. Ein moderner Schreiber sitzt tief im Retro-Mythos, glaubt sich aber hoch erhaben? Was wäre das Gegenteil?

„Gauck und Klarsfeld haben Geschichte eingeatmet, aber (?) sie verkörpern ein Modernitätsversprechen, das die politischen Akteure, die sie berufen haben, allzu oft vermissen lassen.“ Wieso aber, ist das „Einatmen von Geschichte“ etwas, vom dem man sich sonst distanzieren muss? Gibt es Menschen, die keine Geschichte einatmen? Was unterscheidet ordinäre Geschichtsasthmatiker von ätherischen Geschichts-tiefatmern?

Nutt bewertet nicht nach Inhalten, er bewertet – ganz Heideggerianer – nach der Zeit. Wann hat etwas stattgefunden? Ist es noch aktuell, ist es eine Meinung von gestern? Nicht die schlichte Frage entscheidet: ist die Meinung falsch oder richtig? Das wäre vermutlich eine lächerliche Retro-Frage.

Was Gott, Weltgeist, Geschichte, Heilszeit nicht in unaufhörlich wechselndem Kairos jeweils frisch und neu ansagen, ist von gestern. Dagegen hilft nur ein veritables „Modernitätsversprechen“. Das Versprechen der Moderne genügt, um nicht retro zu sein.

„Wir versprechen euch die Moderne“, könnte die nächste Wahlparole aller Parteien seien, die nicht von vorgestern sein wollen. Was wird damit versprochen? Es ist ein Blankoscheck, in den jeder die Summe eintragen kann, die ihm genehm ist. Solche Versprechungen sind nicht nur beliebig, sie sind auch unüberprüfbar und erfüllen nicht das Verifikations- oder Falsifikationskriterium.

Nur scharfe unmissverständlich eindeutige Thesen machen sich angreifbar. Alles andere entspricht dem Standard: wenn der Gockel kräht auf dem Mist, ändert sich das Wetter oder es bleibt, wie’s ist. Diese Prognose stimmt immer, nur leider ist sie hohl und leer.

Nutt und die Zeitdenker schauen auf die Turmuhr des Münsters, dann wissen sie Bescheid, was die Glock geschlagen hat. Ist etwas vorbei, ist es retro: Daumen nach unten. Zeigt etwas in die omnisziente Zukunft: Daumen nach oben, alles paletti und wenn’s der bare Unsinn ist. Wahrheit wird an der Zeitachse entschieden.

Woher kommt diese postmoderne Verhunzung der Wahrheit? Sie ist die christogene Reaktionsbildung gegen einen autoritär empfundenen Platonismus, für den Wahrheit wandel- und zeitlos war.

Platons Wahrheitstheorie wird mit seiner urfaschistischen Staatsutopie in einen Topf geworfen. Der geniale Schüler des Sokrates orientierte sich an Mathematik und Astronomie, für ihn die reinsten Verkörperungen des unveränderlichen Seins. In der niederen Sphäre der materiellen Welt ändert sich vieles, nichts aber ändert sich in der perfekten Welt, die hinter und über der Materie steht, sie unveränderlich trägt und erhält.

Unsere leibliche Wahrnehmung beginnt bei Veränderungen des täglichen Lebens, doch wenn sie auf dieser Stufe verharrt, hat sie es nicht weit gebracht. Sie muss den Schleier des Veränderlichen durchdringen, hinter den sinnlichen Phänomenen das Ideale entdecken, das unveränderliche Wahre, das identisch ist mit dem Guten und Schönen.

Wüssten wir, dass die Welt im Kern sich gleich bleibt, wäre Platon unwiderlegbar. Um ihn zu widerlegen, müssen wir zur These übergehen, dass es eine unveränderliche Welt nicht gibt. Das ist die Grundvoraussetzung der Postmoderne.

1. Woher weiß sie das?

2. Wenn sie es weiß, wäre das nicht die unfreiwillige Bestätigung, dass auch sie am platonischen Wahrheitsbegriff festhält: Es gibt die unveränderliche Wahrheit, dass die Welt sich permanent verändert?

3. Sollte Wahrheit sich immer verändern, müsste dann nicht Veränderung immer und ewig wahr sein?

Betrachten wir die Welt der Wissenschaft. Was hat sich da bislang im Kern geändert? Nichts. Alle mathematischen Grundlagen sind seit ihrer Erfindung dieselben geblieben. Es hat viele neue, auch selbstkorrigierende Wahrheiten gegeben, doch immer auf demselben Boden jener babylonischen, euklidischen, indischen und arabischen Grundlagen, die bis heute Bestand haben, sodass eine Geschichte der Mathematik keine unzusammenhängenden Parallelwelten beschreiben muss.

Alles wird auf dieselben Kriterien bezogen, alles mit gleichen Kriterien kritisch beäugt. Hat es einen Fortschritt gegeben? Wissen wir heute mehr, besser und gründlicher als früher? Diese Fragen sind eindeutig beantwortbar.

Zwar gab es Grundlagenkrisen nicht nur in der Physik, sondern auch in der Mathematik mit geradezu „dogmatischen Schulstreitigkeiten“. Allein, das waren nur verschiedene Deutungen derselben Sachverhalte. Niemand denkt daran, das Ein mal Eins retro zu verabschieden.

Das Gleiche in der Physik. Zwar hat Einstein Newtons Erkenntnisse in manchen Punkten überwunden, dennoch gilt die Gravitationstheorie unter bestimmten Randbedingungen als nicht widerlegt.

Es gibt einen klaren Erkenntnisgewinn im Fortgang der Jahrhunderte. Zwar gibt es gewisse Korrekturen des Früheren, dennoch wurden die Fundamente der abendländischen Physik mit den Korrekturen erst recht bestätigt. Wie könnte man einen objektiven Fortschritt des Wissens erkennen, wenn nicht anhand derselben und unveränderlichen Kriterien?

Einwand: das Verändern der Wahrheit bezieht sich nicht auf die Welt der objektiven Wissenschaften, sondern auf das Gebiet der philosophischen und religiösen Sinnsuche. Dort könne man nicht von Fortschritt reden, denn es fehlten gemeinsame Grundlagen der Bewertung.

Zweifellos. Dennoch noch mal einen Blick auf die technisch-naturwissenschaftliche Seite unserer modernen Welt, auf die wir stolz sind und die wir als das Spezifikum der Moderne betrachten. Da herrscht eindeutig der platonische Wahrheitsbegriff.

Hier undifferenziert von Retro- und Futurowahrheiten und hektischen Veränderungen zu faseln, ignoriert einen wesentlichen Punkt: dass die Moderne die griechische Bewunderung der Mathematik in überwältigendem Maße bestätigt. Natur ist unveränderlich, unveränderlich muss ihre Erkenntnis sein.

Wäre der Mensch Bestandteil der Natur, gälte dieser Satz auch für den Menschen. Jetzt kommen wir an die entscheidende Weggabelung.

Indem der Mensch durch das Christentum als Wesen mit unsterblicher Seele der Natur entnommen und der Sphäre des Unbegrenzten, Unendlichen und Unbegreiflichen zugeschlagen wurde, der Sphäre eines Gottes, der seine Wahrheit in der Zeit beliebig verändern kann, weil er nicht an seine eigenen Wahrheiten gebunden ist, öffnet sich eine unendliche Vielfalt möglicher Wahrheiten. Denn Gott ist unerschöpflich und unberechenbar.

Betrachtet sich nun der Mensch als Ebenbild dieses in allen Farben schillernden Gottes, kann er durch keine identischen Prinzipien erfasst werden. Denn das Prinzip der Identität wird selbst außer Kraft gesetzt. Es herrscht das pure Tohuwabohu, das absolute Chaos – oder die Postmoderne.

Der Philosoph Wolfgang Welsch formuliert in seinem Buch: „Unsere postmoderne Moderne“: „Fortan stehen Wahrheit, Gerechtigkeit, Menschlichkeit im Plural“. Wenn das bedeuten soll, dass jeder Mensch, jeder Kulturkreis eine andere Vorstellung von Gerechtigkeit und Menschlichkeit besitzt als der Rest der Welt, müssten wir auf eine planetarische Einheit der Menschheit in Frieden und Gerechtigkeit verzichten.

Ein interkultureller Dialog wäre Zeitverschwendung, Unterschiede in Fragen wirtschaftlicher Gerechtigkeit und politischer Humanität wären verbal unüberwindlich. Es bliebe letztlich – wie im Ersten Weltkrieg, als die Deutschen ihren Sonderweg als nationale Variante pluraler Wege und Wahrheiten definierten – nur der Waffengang als ultimativer Beweis, welche Nation den rechten, nämlich erfolgreichen, aber eben nicht wahren, Weg eingeschlagen hat.

Gäbe es Wahrheiten nur als abgeschottete Pluralismen, wäre jede Gesellschaft als nationale Einheit undenkbar. Das Prinzip jeder gegen jeden ist die Konsequenz eines nichtkonsensfähigen Begriffs unendlich vieler Wahrheiten und Gerechtigkeiten.

Das ist der Wahrheitsbegriff des Kapitalismus: wahr ist, was sich als wirtschaftlicher Erfolg herauskristallisiert. An die Stelle des Degens tritt das Geld, das den Wettbewerb um den besten Sinn des Lebens in Cash nachweist. Gespräch und Dialog überflüssig, Verständigung per Argumente illusionär. Die postmodernen Pluralisten kläffen, die neoliberale Karawane zieht unbeirrbar ihres alleinseligmachenden Weges.

Halten wir fest: die postmoderne Debatte ist nichts Neues. Sie ist eine bewusstseinslose Neuauflage der Deutschen Bewegung, die dem Deutschsein in jeder Hinsicht eine Sonderrolle unter den Nationen zubilligte. Jede Nation war ein kollektives Individuum ineffabile (= unvergleichlich), hatte ihren eigenen singulären Weg zu suchen, festzulegen und auf Biegen und Brechen durchzusetzen.

Auf dem Boden einer gemeinsamen Ratio den Versuch zu unternehmen, sich gegenseitig anzunähern und sich zu verständigen – aussichtslose Energieverschwendung! Der sokratische Dialog, die Hebammenkunst, beruhte auf der Voraussetzung, dass man durch präzises Befragen das Dickicht der Unterschiede durchdringen und eine gemeinsame Plattform entdecken kann, auf der man neu aufbauen konnte.

Es waren die Romantiker, die den Pluralismus der Wahrheiten dem „totalitär-singulären“ Wahrheitsbegriff der Aufklärer entgegenstellten. Jeder Mensch habe seine eigenen Gefühle. Darüber zu klügeln, wer wahre Gefühle habe, sei despotischer Unsinn.

Mit Hegels Antwort auf die relativistische Wahrheitsauffassung der Romantiker schließe ich:

„Indem jener sich auf das Gefühl, sein inwendiges Orakel beruft, ist er gegen den, der nicht übereinstimmt, fertig … mit anderen Worten: er tritt die Wurzel der Humanität mit Füßen. Denn die Natur (der Humanität) ist, auf die Übereinkunft mit andern zu dringen … Das Widermenschliche, das Tierische, besteht darin, im Gefühle stehen zu bleiben und nur durch dieses sich mitteilen zu können.“

Übersetzen wir Gefühle in den pluralen Wahrheitsbegriff der Postmoderne, müssen wir feststellen: die Romantiker sind mitten unter uns. Sie prägen die gesprächslose Zerrissenheit der wirtschaftlich alleinherrschenden Atomisierung.