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Mittwoch, 29. August 2012 – Homöostase und Geschichte

Hello, Freunde des Ziels,

unterwegs sein ist alles, das Ziel ist nichts. Wer das Ziel kennt, kann entscheiden; wer entscheidet, findet Ruhe; wer Ruhe findet, ist sicher; wer sicher ist, kann überlegen; wer überlegt, kann verbessern. Der erste Satz ist westlich, der zweite ist östlich und stammt von Konfuzius.

Außer in der Apokalypse darf der Westen nirgendwo ankommen; der Osten kann nicht in Frieden leben, ohne angekommen zu sein. Das Reich der Mitte ruhte in sich, Jahrhunderte lang war es angekommen. Der Westen kam mit Kanonenbooten und brach die Harmonie in Stücke.

David Landes, amerikanischer Historiker des Kapitalismus, verachtet die frühere „homöostatische Gesellschaft“ der Chinesen, deren „Gefühl von Vollständigkeit und Überlegenheit“ – diese Nationaleigenschaften, die schuld daran waren, dass China den Kenntnissen und Lebensweisen, die von außerhalb kamen, „so feindselig begegnen ließ, mochten sie auch noch so nützlich sein“.

Homöostase ist Fließgleichgewicht. Alle Prozesse des Lebens fluktuieren um einen mittleren Status quo, der sich nach eng begrenzten Störungen permanent regenerieren muss, will der Organismus nicht krank werden.

Wenn Prozesse aus dem Ruder laufen, nennt man es in der Medizin Krebs, in der Wirtschaft Wachstum. Kein Wirtschaftler wird sich über das unbegrenzte Wachstum seines Tumors freuen, kein braver Mediziner wird auf die Idee kommen, den Krebs in der Wirtschaft als ungesund anzuprangern.

Ob es interfakultative Arbeitskreise aus Medizinern und Wirtschaftlern

gegeben hat, verstärkt durch Biologen, die den Begriff „Fließgleichgewicht“ erfunden haben (Ludwig von Bertalanffy)?

Seltsamerweise legen Biologen Wert darauf, das Fließgleichgewicht als offenes System und zugleich als stationären Zustand zu bezeichnen. Was denn nu, ist stationärer Zustand ein offenes oder ein geschlossenes System, weil stationäre Statik unverrückbar sein muss?

Im Begriff Homöostatik steckt nicht offene und unberechenbare Dynamik, sondern verlässliche und zeitlose Statik. Ist Statik nicht Inbegriff eines „unbeweglichen, starren und geschlossenen Systems“?

Die Einheit von Statik und Dynamik, von Fließen und Harmonieren, von Unterwegssein und Ankommen, war ein Hauptproblem von Heraklit, der eher das Fließen akzentuierte, und von Parmenides, der das Zeitlos-Unbewegliche bevorzugte. Es war das Problem der gesamten griechischen Philosophie.

Bei Platon ruhte das veränderlich Irdische in der zeitlos-stabilen Ideenwelt, bei Aristoteles in der vollkommenen Welt oberhalb des Mondes. Ideale Bewegung war die Kreisbewegung der Sterne und Planeten, die stets sich bewegen und doch in sich ruhen: die Einheit von Dynamik und Statik.

Das Kreisförmige, die ewige Wiederholung des Gleichen, wurde von der Moderne zerbrochen, die zur vorwärts treibenden Linearität der christlichen Heilsgeschichte überging und ihren Fortschritt als antistatische Dynamik, als immer Mehr, immer Weiter und immer Besser definierte.

David Landes: „Die Vernunft wird triumphieren, weil Vernunft sich auszahlt. Mehr ist besser, und bei der Wahl der Ziele sind materielle Errungenschaften das beste Argument.“

Wenn die Griechen das Wesen der Vernunft im „Yin und Yang“ des kreisförmigen fließenden Gleichgewichts erkannten, nicht anders als chinesische Philosophie, nicht anders als alle Naturreligionen und Weltanschauungen außerhalb des christlichen Westens, hat Landes die Vernunft ins Gegenteil verkehrt – und nennt sie dennoch Vernunft.

Nicht alles, was Vernunft genannt wird, ist auch vernünftig. Die Moderne hat die meisten ihrer Begriffe der heidnischen Antike entnommen, aber sie im christlichen Sinn ins Gegenteil verkehrt. Nietzsche wusste, wovon er sprach, wenn er den Einbruch des Christentums als Umkehrung aller Werte bezeichnete.

Aber auch er hat den Messie-Vorrat an Wirrwarr nicht vermindert, sondern erweitert. Einerseits will er die christlich-lineare Heilgeschichte durch Rückkehr zur griechisch-ewigen Wiederholung des Gleichen überwinden, andererseits heizt er den Kessel des modernen immer Mehr an. Heute wäre er Vertreter des Neoliberalismus:

„Dies aber ist der älteste und gesündeste aller Instinkte: ich würde hinzufügen: man muss mehr haben wollen, als man hat, um mehr zu werden. Haben und mehr haben wollen, Wachstum mit einem Wort – das ist das Leben selber.“

Das bewusste Werden der Moderne geht ziellos nach Nirgendwo, das unbewusste ins Inferno des Jüngsten Gerichts. Das besinnungslose Werden zerstört alle homöostatischen Fließgleichgewichte. Die Welt verkrebst durch unaufhörliches Wachstum.

Allein die Amerikaner bräuchten bei ihrem jetzigen Naturkannibalismus vier weitere Erden. In diesen Sommertagen habe die Welt, so errechnete eine Umweltorganisation, das Maß ihrer regenerierbaren Rohstoffe für dieses Jahr bereits erschöpft. Was wir bis zum Jahresende verspeisen und vernichten, geht ans Eingemachte der Natur.

Die Moderne ist ein riesiges Fälschungslabor, all ihre griechischen Begriffe sind religiös verfälscht und ihres ursprünglichen Sinnes beraubt worden. Es findet keine offene Auseinandersetzung zwischen Gläubigen und Heiden statt.

Die Frommen schlüpfen in die Gehäuse heidnischer Vorstellungen – wie bestimmte Tiefseewesen, die in verlassene Schutzpanzer schlüpfen, um sich mit Imponiergehabe zur Wehr zu setzen – und transportieren ungeniert eschatologische Ideen.

Für Gesine Schwan, Dauerkandidatin der SPD für das Bundespräsidenten-Amt, sind Demokratie und Menschenwerte christliche Ideen, weil die amerikanische Unabhängigkeitserklärung sich auf Gott berufe. Fehlt nur noch Dabbeljus Einsicht, Freiheit sei ein Geschenk Gottes an die Amerikaner. (War Tornado Isaac ein Geschenk an den Republikaner-Konvent?)

Womit wir die Wesensverwandtschaft der SPD mit George W. hinlänglich erwiesen haben. Die gemeinsamen transatlantischen Werte liegen bei den Exproleten in verlässlichen Händen.

Nietzsche war wenigstens ehrlich. Unaufhörliches Werden und Wachsen geht auf Kosten anderer, was er vollständig bejaht. Sollte das böse sein, wäre das Böse das Gute und Beste. Die Welt leide nämlich an einem Mangel redlicher Bosheit: „Man fördert sein Ich stets auf Kosten des andern: Leben lebt immer auf Unkosten anderen Lebens – wer das nicht begreift, hat bei sich auch nicht den ersten Schritt zur Redlichkeit getan.“

„Der Mensch ist leider nicht mehr böse genug; die Gegner Rousseaus, welche sagen, der Mensch ist ein Raubtier, haben leider nicht recht. Nicht die Verderbnis des Menschen, sondern seine Verzärtlichung und Vermoralisierung ist der Fluch.“

Anhand von Nietzsche lässt sich die transatlantische Herzensverbundenheit präzis markieren. Deutschland und Amerika werden und wachsen ungehemmt und in gleichem Schritt und Tritt auf Kosten anderer.

Doch das biblizistische Amerika nennt den Vorgang gut und christlich, während die frommen und aufgeklärten Neugermanen ein schlechtes Gewissen haben und per christlicher Bewahrung der Schöpfung das Werden und Wachsen zu stoppen gedenken, welches hinwiederum in Amerika als Gottesdienst gilt.

Was haben diese erhellenden Ausführungen mit der Befindlichkeit der Deutschen zu tun? Nach einer Studie sind viele Deutsche unglücklich, obgleich sie in einem der reichsten Länder der Welt leben. Wenn Kapitalismus das Streben nach Glück sein soll, wäre er hiermit widerlegt, selbst bei strengsten Popper’schen Falsifikationskriterien. Denn diese Umfragen gibt’s schon seit Erfindung der Demoskopie und die Glücksrate ist kein bisschen gestiegen, sondern gesunken.

Nehmen wir das Verlangen nach Glück als ursprüngliches Kriterium, wäre das Streben nach Geld falsifiziert. In den Gully mit der falschen Wirtschaftshypothese.

Wir benötigen ein nagelneues Wirtschaftssystem, das auf uralten Weisheiten der nichtchristlichen Völker beruht. Auf der Weisheit etwa, dass der Mensch nur arbeiten soll, damit er leben kann.

Beim erzneoliberalen David Landes lesen wir‘s ganz anders: „Zu viele von uns arbeiten, um zu leben, und leben, um glücklich zu sein. [Zu viele? Das kann nur ein schlechter Scherz sein.] Daran ist nichts auszusetzen. Nur fördert es nicht unbedingt eine hohe Produktivität. Wenn man allerdings eine hohe Produktivität will, dann sollte man leben, um zu arbeiten und das Glück als einen Nebeneffekt nehmen. Das ist nicht leicht. Menschen, die leben, um zu arbeiten, sind eine kleine und glückliche Elite.“

Einerseits ist Glück nicht das direkte Ziel des ora et labora, Glück vielmehr nur ein Nebeneffekt, der sich einstellen kann oder nicht. Andererseits ist die arbeitende kleine Elite eine glückliche Elite. Mit anderen Worten, nur eine winzige Elite lebt, um zu arbeiten und ist berechtigt, glücklich zu sein.

Die große unglückliche Mehrheit arbeitet, um zu leben, lottert die meiste Zeit herum und sollte sich nicht wundern, wenn sie das Glück nie aus der Nähe zu sehen kriegt. Landes hätte auch sagen können, das jetzige System ist gerecht. (Kapitalismodicee als Nachfolgerin der Theodicee) Wer wirklich arbeitet, wird wirklich glücklich.

Das müssen die nörglerisch freudlosen Deutschen nicht mal im Ansatz verstanden haben. Trotz ihres langsam steigenden BIPs sehen sie ihre Situation immer düsterer. Ein höherer Lebensstandard führt nicht automatisch zu einem höheren Maß an Zufriedenheit. Warum heißt der Lebensstandard dann noch Lebens-Standard und nicht Vegetierungs- oder Unzufriedenheitsstandard?

An die Mär vom Immer-Mehr glaubten die Deutschen nicht mehr, so der Bericht. Sie wollten nicht mehr Geld, sondern mehr Sicherheit, die Abwesenheit von Sorgen, ein sicheres Einkommen und einen verlässlichen Arbeitsplatz. Niemand wolle einen extravaganten Lebensstil, sondern eine solide Gesundheitsfürsorge.

Unter Glück verstünden sie Gesundheit und keine Angst vor der Zukunft. Materieller Wohlstand sei wesentlich unwichtiger als ein Leben in Frieden, die Möglichkeit, frei seine Meinung zu äußern, ein guter Kontakt zu Freunden und zur Familie.

(Eva Eusterhus und Lutz Bergmann in der WELT: So definieren die Deutschen ihren Wohlstand)

Schauen wir dem Ergebnis furchtlos ins Auge, tapfere Freundinnen und Freunde: das wird nichts mehr mit den Amerikanern. Der transatlantische Graben ist viel zu tief, wir können zueinander nicht kommen – wenn die Deutschen sich wirklich verstünden.

Dann müssten sie alles Lineare, alles automatische Wachsen und Werden, alle Heilsgeschichten von Christus über Marx bis zur Hayekschen Evolution abräumen und ad acta legen.

Schluss mit ewiger Dynamik, mit unaufhörlichem und entgrenztem Mehr und Mehr, Schluss mit Fließen ohne Homöostase. Zurück zu den Griechen, zurück zu den Biologen, die das Geheimnis des Lebens entschlüsselt haben.

Es ist ein Gleichgewicht. Kein totes, sonst könnte nichts fließen. Ein lebendiges, zirkulierendes, vibrierendes, das dennoch sich immer im Kreise um sich selber dreht.

Kein dämlicher Fortschritt, der sich immer mehr als Rückschritt entpuppt. Die Deutschen wollen zeitlos-statische Sorglosigkeit, unwandelbare Gesundheit, unveränderbare Zufriedenheit, stabile Verhältnisse.

Mit einem Wort: die Deutschen sind im Grunde ihres Herzens – sie wissen es nur noch nicht, denn sie wollen es nicht wissen, weil sie vor den Amis die Hosen gestrichen voll haben – die schlimmsten Gegner der Moderne.

Ja, sie wollen die Moderne aufs Spiel setzen, nur weil sie zufrieden, selbst-zufrieden sind. Ist das nicht die Sünde wider den heiligen amerikanischen Geist: mit sich selbst zufrieden sein wollen?

Erfolgreiche Menschen sind nie mit sich zufrieden. Haben sie den Mond erreicht, wollen sie auf den Mars, sind sie Millionäre, wollen sie Milliardäre werden. Sind sie Menschen, wollen sie Götter werden, sind sie Götter, wollen sie – was kommt noch mal nach Göttern? – ah ja, wollen sie verruchte und böse Götter, also Teufel werden.

Das wahre Göttliche ist das Übermenschliche, also das Böse, welches das Gute ist, sagt Nietzsche. Nietzsche ist der Philosoph der Zukunft, bislang weder von Amerikanern noch von Deutschen verstanden.

Denn Amerikaner nennen ihr Böses das Gute und Christliche, Deutsche nennen die Mittel gegen das amerikanische Böse – für jene das Christliche – auch das Christliche.

Kein Getümmel Athener, dieses innerchristliche Chaos hat nicht die Redaktion erfunden.

Noch kommen die Deutschen nicht aus der Deckung und geben sich nicht zu erkennen. Doch allmählich riechen die Amerikaner den Braten und halten die Schöpfungsbewahrer in Germany für die verruchtesten und hinterhältigsten Heiden. Mit der Witterung liegen die Neocalvinisten richtig.

Womit wir das politische Zukunftsszenario der nächsten 50 bis 100 Jahre überblicken können. Natürlich nicht als Propheten, sondern als Prognostiker dessen, was sich heute vor aller Augen abspielt, obgleich die meisten Augen es nicht wahrhaben wollen.

Wenn die Amerikaner, nachdem sie den kommunistischen Feind begraben haben, den jetzigen islamischen Feind entsorgt haben werden – spätestens wenn die Erdölvorräte zu Neige gehen, wird der Nahe Osten belanglos sein – werden Dabbeljus hochmoralische Nachfahren, die ohne Feindbild nicht selig werden können, entweder die bis dahin übermäßige chinesische Weltmacht als neuen Feind ins Visier nehmen – schon heute erklärt Landes: die Chinesen benehmen sich schlecht – oder die antimodernen, sich nach griechischem Maß und Mitte und in sich ruhender kreisförmiger Kosmologie zurücksehnenden Deutschen.

Oder Chinesen und Deutsche zusammengenommen, die bis dahin die überwältigenden Gemeinsamkeiten zwischen chinesischer und griechischer Philosophie entdeckt und zur Grundlage ihrer Politik gemacht haben werden.

Die allerletzte Frontlinie der jetzigen inwendig morschen und naturfeindlichen Weltpolitik, deren Tage gezählt sind, wird der letzte und entscheidende Kampf zwischen Kreis und Linie, zwischen Verehrern der Natur und Gläubigen der Geschichte sein.

Es gab mal einen deutschen Philosophen namens Karl Löwith, der vor Hitler nach Japan flüchten musste und dessen ganzes Lebenswerk darin bestand, die Unvereinbarkeit von Geschichte und Natur nachzuweisen.

Er entdeckte die Parallelen zwischen den großen Weisen des Ostens und des Westens: „Die großen Weisen des Ostens sind völlig normal und gesund und so robust wie Sokrates“. Und er wurde nicht müde, das Unterfangen des törichten Westens für unmöglich zu erklären, Heilsgeschichte und Natur in Einklang zu bringen.

„Alles Naturgeschehen, die Geschichte der Erde und des Kosmos, ist nicht geschichtlich im menschlichen Sinn.“ „Die griechische Historie war nicht von der Zukunft her motiviert, sondern in der ganz anderen Überzeugung, dass auch die künftigen Geschehnisse denselben Gesetzen unterstehen werden wie alle bisherigen, weil die Natur des Menschen sich nicht wesentlich ändert.“

Auch Marx war für Löwith keine Ausnahme im Kanon naturfeindlicher Fortschrittsideologen. Einen Vorrang der Natur vor der Geschichte des Menschen gäbe es nach „Marx’ sarkastischer Äußerung nur noch „auf einigen australischen Koralleninseln neueren Ursprungs.“

„Das östliche Denken kennt nicht den uns geläufigen Gegensatz von Natur und Geschichte.“ „Weil Juden und Christen aber glauben, dass die Welt das willkürliche Werk eines übernatürlichen Schöpfers ist, verstehen sie nichts vom Logos des Kosmos selbst.“ Der Kirchenvater Origenes habe richtig den Widerspruch von Christus und Kosmos erkannt, als er sagte, dass Christus den natürlichen Kreislauf der Griechen für immer durchbrochen habe.

Nun verstehen wir, warum die Frage nach der Wahrheit durch die denkerischen Bodyguards der Moderne in den Staub getreten wurde – um die Wahrheit der Natur unterzupflügen. „Das moderne historische Bewusstsein hat keinen Maßstab, an dem es bemessen oder auch nur fragen könnte, welche Religion oder Philosophie ihrem Anspruch auf Wahrheit Genüge tut.“

Wenn der Mensch überleben will, muss er zur Wahrheit – zurückkehren. Nicht in betrügerischer Zukunft, sondern in der Vergangenheit, die unsere einzige vernünftige Zukunft ist, liegen die Wahrheiten des chinesischen und griechischen Denkens.

Die letzte Überlebenschance der Menschheit ist die Rückkehr des Menschen zur Wahrheit, dass Natur und Mensch eine Einheit bilden.

Diese Wahrheit muss nicht geglaubt werden. Die Menschheit wird sie am eigenen Leib erfahren.