Kategorien
Tagesmail

Mittwoch, 26. September 2012 – Ziegler und Bohrer

Hello, Freunde der Liebe,

Faschisten sind liebende Menschen, die es nicht ertragen, dass sie nicht geliebt werden. Also zwingen sie die Menschen, sie zu lieben; hassen und töten Menschen, die sich weigern, sie zu lieben.

„Wenn ich Dich jetzt bei mir hätte, ich würde Dich packen und zwingen, mich zu lieben, und wenn nur für einen Augenblick, und dann machte ich dich tot.“ Schrieb der größte Liebhaber unter den Totschlägern, pardon, den Mördern, pardon, den Volksverbrechern.

Es gibt Unterschiede zwischen Totschlägern und Mördern, die, wie wir hören, im Vorsatz bestehen sollen. Hatten jene die finale Absicht, zu töten oder war ihnen Töten nur Mittel zum Zweck, gar für einen guten Zweck?

Das Rechtssystem ist eine Welt für sich, eine aus vielen Weltbildern zusammen-gebackene, -gekleisterte und -gestückelte Weltanschauung. Das Recht muss die ganze Welt abbilden und auf den unmissverständlichen Begriff bringen. Jeder kann schuldig werden und das Recht will nicht auf dem linken Fuß erwischt werden. Es will auf alle Eventualitäten vorbereitet sein.

Da hat jemand seine Geliebte, die ihn verlassen wollte, im Affekt ums Leben gebracht: ein harmloser Hitzkopf. Da hat eine Frau ihr Kind so lange geschüttelt, bis es tot war. Sie konnte das anklagende Heulen des Kindes nicht mehr ertragen. Böse Mutter, Hexe oder leidende Psychopathin?

Die Paragrafen der Gesetzbücher entstammen verschiedensten Epochen mit

verschiedensten Philosophien, Psychologien, Staatsformen, verdeckten Theologien, Rechtsnormen, Straf- und Rachebedürfnissen. Soll dieses Gemenge eine widerspruchslose Einheit sein?

Überlässt man es den Rechtspraktikern, die formulierten Reibungen und Widersprüche durch harmonisierende Deutungen und ungeschriebene Anpassung an den vermuteten Zeitgeist zu überbrücken und auszugleichen?

Sollte der Spruch: „Vor Gericht und auf hoher See sind wir in Gottes Hand“ auf empfundener Realität beruhen, wäre es der Bankrott unseres Rechtswesens.

(Man könnte den Satz auch umdrehen: in Gottes Hand sind wir wie vor Gericht oder auf hoher See, was nicht gerade für den abendländischen Gott spräche, zumal die angebliche Gottebenbildlichkeit die „theonome“ Basis der Demokratie und der Menschenrechte sein soll, was bedeuten würde, ein unberechenbarer Gott wäre das Fundament eines verlässlich-berechenbaren Rechts.)

Da es keine Grundsatzdebatten mehr gibt – man hat Besseres zu tun in neoliberalen Zeiten –, gibt es auch keinen Streit mehr über zweierlei Naturrecht, römisches und germanisches Recht, geschriebenes und ungeschriebenes Recht, historische Rechtsschule, positivistisches Recht, die Psychologie der Straftäter und den Sinn von Einschließen und Wegsperren.

Liest man Prozessberichte über Kachelmann oder gar Breivik, fühlt man sich schon in jene psychiatrischen Hallen versetzt, in die die Bösesten unter den Schuldunfähigen erst einwandern sollen.

Es geht um keine Kleinigkeit, sondern um viele Menschen. Vor allem um Kinder, die täglich hungers sterben. Und um viel mehr Menschen, die darben und zu sterben drohen.

Imaginieren wir mal das Jüngste Gericht und lassen den Schöpfer sagen: die Schuldigen vortreten. Wer würde vortreten? Die nationalen korrupten Politiker? Die Zocker und Lebensmittelspekulanten? Die einstigen Militär- und heutigen Wirtschafts-Imperialisten? Die Ausbeuter der reichen Länder? Die Wettermacher und Klimaschänder? Wir alle?

Niemand würde vortreten – außer jenen, die vielleicht am wenigsten schuld wären, sich aber am schuldigsten fühlten. Wahrscheinlich würden gottlose Verteidiger die Zuständigkeit des Gerichts anzweifeln und den Großen Richter für befangen, wenn nicht sogar für alleinschuldig erklären. Denn wer soll das ganze Schlamassel angerichtet haben, wenn nicht der, der vorsichtshalber auf die Pauke haut, um von sich abzulenken?

Auftreten theologisch versierte Gerichtspsychiater, die den freien Willen der Geschöpfe messerscharf beweisen können, weshalb der Creator aus dem Schneider ist und die Verhandlung endlich beginnen kann. Die Pforten des Himmels und die Schleusen der Hölle sind erwartungsvoll geöffnet.

Dante, übernehmen Sie und schreiben Sie das Inferno des 21. Jahrhunderts. Nein, Göttlicher, bleib im Grab, deine unsterblichen Verse sind nicht mehr auf dem neuesten Stand der Wissenschaft. Die Menschheit schreibt selbst das Drehbuch zum Inferno – ohne zu wissen, dass sie es schreibt. Schreibt sie in Trance, in Geistesabwesenheit?

Sie selbst würde sagen, sie schreibt in kreativem Schaffensdrang, in rasend leidenschaftlicher Besessenheit, in unbegrenzter Zukunftserwartung. Sie schreibt auch nicht am Inferno, sondern am Paradiso auf Erden. Das Inferno ist tabu, es passt nicht ins Weltbild der Macher und Schaffer.

Schauen wir uns das Himmelreich an. Alle fünf Minuten verhungert ein Kind, sagt unermüdlich-monoton der Schweizer Jean Ziegler, jetzt auch in der SZ. (Interview von Jannis Brühl mit Jean Ziegler in der SZ)

In den Jahren 2008 und 2009 sind wie viele Billionen von Freunden der Menschheit vernichtet worden? Nur 85 Billionen. Damit hätte man die gesamte Menschheit in den letzten 1000 Jahren auf Dreisternekoch-Niveau mästen können.

Momentan gibt es Lebensmittelspekulationen auf Reis und Mais, die das Leben von 2,2 Milliarden Menschen gefährden.

Das Welternährungsprogramm der UN (WFP) hatte 2008 noch ein Budget von sechs Milliarden. Jetzt haben die Länder kein Geld mehr – das sie zur Bankenrettung benötigen – und also hat die WFP nur noch 2,8 Milliarden Dollar zur Verfügung. Opposition gegen diese Kürzung gab es von keiner Seite. „Schließlich sterben die Kinder von Somalia ja nicht auf dem Kurfürstendamm“.

Wer sind die Mörder der Kinder und Verhungernden?

Zum Mord gehört doch Vorsatz – wendet der Interviewer ein. Antwortet Ziegler: „Stimmt, ein guter Einwand (denkt nach). Aber es gibt schwere Fahrlässigkeit. Sie spekulieren nicht, um zu töten, sondern für den Profit. Es ist Totschlag, wenn Sie so wollen, nicht Mord.“

Da knickt selbst der gute Mensch aus Genf ein. Nur Totschlag, wenn Millionen Menschen seit Jahr und Tag verrecken müssen? Möglicherweise nur im Affekt? Dann wäre die Menschheit keine Mörder-, sondern eine Totschlägerbande. Milde Strafe auf Bewährung. Zur Strafe muss sie nicht kollektiv auf den Mars auswandern, unbehindert darf sie auf Erden weiter totschlagen.

Legen wir ab die Gattungsbezeichnung homo sapiens, weiser Mensch. Nennen wir uns die Gattung: „Vorsatzlose Totschläger“.

Wie viele Jahre schlagen wir schon unabsichtlich tot? Wie lange wissen wir schon Bescheid? Oder sollten doch Bescheid wissen? Wie lange schon fällt uns der Schwyzer Weltbürger auf den Geist mit seinen ewig gleichen Tiraden, so ohne jegliches postmoderne Amüsement?

Öfter mal was Neues, Monsieur Ziegler! Sehr uncharmant rattern Sie immer denselben Refrain. Da wundern Sie sich, dass Sie in höheren Kreisen nicht mehr gelitten sind. Schon bei den Salzburger Festspielen war man es leid, Ihre säuerlichen Gutmenschenpredigten anzuhören und sich die prächtige Stimmung vermiesen zu lassen. Werden Sie doch auf Ihre letzten Tage trauriger Zirkusclown, damit Sie noch ein bisschen was vom Leben haben. Sie auf höchstem Niveau Gescheiterter. Wir sind die Letzten, die es gut mit Ihnen meinen. Und verlieren auch langsam die Geduld. Wegen Ihrer Nestbeschmutzungen riskieren wir alle den Titel „Krone der Schöpfung“. Bald werden wir die Letzten der Evolution sein und Sie können sich selbstgerecht die Hände reiben, Sie hätten uns schon immer gewarnt. Wozu dies alles? Weil Sie sich den Altherren-Spaß erlauben, sich noch im Spiegel zu betrachten. An unser mühsam erarbeitetes Wohlbefinden denken Sie keine Sekunde. Wenn Sie so weitermachen, gefährden Sie das seelische Gleichgewicht des gesamten Westens. Wollen Sie das, Sie eitler, von Moralin triefender Greis?

Stopp an die Regie: an dieser Stelle das vorbereitete retardierende Moment einschieben. Wir brauchen einen eindrucksvollen Kontrast, um die fundamentalistische Moralverbissenheit des Altsoziologen ins grelle Licht zu rücken. Karl Heinz Bohrer, Maz ab.

Bohrer, nomen es omen, langweilt vor allem nicht. Schon gar nicht mit erwartbarer Spießermonotonie. Er ist Ästhet. Das Ästhetische ist bei ihm immer das Unwahrscheinliche, Außergewöhnliche. Schock und Schrecken sind seine typischen Begleiterscheinungen. Er ist ein Partisan der Ausfälle gegen kulturelle Norm, verteidigt die verhasste Labilität des Ästhetischen, feiert es als hinreißenden Überfall auf unsere Bravheiten, als Abriss von Erwartungsverhalten. Bei Ernst Jünger schätzt er die Ästhetik des Schreckens. Ihn fesselt das Gefährliche, Zersplitterte, Unfassliche, der Schrecken des Schönen, die Schönheit des Schrecklichen. (Dirk Pilz in der BZ über Karl-Heinz Bohrer)

Bohrers Leitfigur ist der Schriftsteller, dem etwas Unabsehbares gelingt, weil er nichts beitragen möchte. Sein Interesse ist kein philosophisches, kein historisches, sondern ein künstlerisches. Seine Kunst soll Kunst und kein Erziehungsprogramm, Kirche, moralischer Bilderbogen oder Tageskommentar sein. Wie schrecklich für den Schreckensästheten, dass die Banausen seine „Kunst um der Kunst willen“ zum lockeren Freizeitvergnügen degenerieren.

„Die Tiger des Zorns sind weiser als die Rosse der Belehrung“, so legte er sich zornig ins Zeug. Besonders ob des Spießermottos: Von Deutschland werde nur Frieden ausgehen. Oder Deutschland solle in Europa oder gar in der Menschheit aufgehen. Wenn eine Nation nichts mehr zu bieten hat als pädagogisierende Lichterketten in Fußgängerzonen, ist sie der Anwesenheit eines Bohrers nicht wert. Ein wahrer Intellektueller, wie Jürgen Kaube hingerissen in der FAZ meint.

Fehlt nur noch der Satz eines anderen Schreckensästheten: „Wer Menschheit sagt, will betrügen“. Carl Schmitt. Man könnte noch andere deutsche Ästheten bemühen, die bei „Humanitätsphrasen des Westens“ hätten erbrechen können. Die Deutschen sind nun mal geschaffen für das Schöne im Schrecken.

9/11 ist das schönste Kunstwerk aller Zeiten, schrieb ein anderer Karl Heinz mit Nachnamen Stockhausen.

Was für eine synästhetische Kollektiveruption, als in Rostock-Lichtenhagen menschliche Fackeln als Lichtsäulen den düsteren Horizont erhellten. Da war Deutschland wieder das Volk, das aus dem Dunklen ins Helle strebt.

Deutschland wurde vom bigotten Europa auf den Pfad der aufgeklärten Humanität verlockt. Das war ein Irrweg. „Was wir Moderne nennen – die Zeit zwischen der europäischen Aufklärung und dem Ersten Weltkrieg – hat uns mit idealistischen Zumutungen überlastet und mit humanistischen Idealen geködert.“ So Alfred Weber, Bruder des Max Weber.

Da können wir auf Bohrer & Co stolz sein, dass sie sich energisch gegen solche humanistischen Überforderungen wehren. Deutschland will schön sein, das Gute und Wahre überlassen sie jenen Völkern, die sonst nichts zu bieten haben.

In seinen jungen Jahren war Thomas Mann auch ein Karl Heinz Bohrer. Bis er sich unversehens als Emigrant in den USA wiederfand, weil seine Landsleute ihn mit einem schönheitstrunkenen Gesamtkunstwerk außer Landes geekelt hatten. 1947 schrieb er, „wir sind nicht mehr Ästheten genug, uns vor dem Bekenntnis zum Guten zu fürchten, uns so trivialer Begriffe zu schämen wie Wahrheit, Freiheit, Gerechtigkeit.“

Heute schämen wir uns wieder über die Moral der Kammerdiener. Gottlob haben wir Karl Heinz Bohrer und seine Bewunderer, die uns das Schämen auszutreiben versuchen.

Noch sind wir allzu moralisch und verstecken uns hinter mangelndem Vorsatz, wenn wir seit Dekaden die Menschheit mit eben den Mitteln reduzieren, die ihr nützen sollten. Wirtschaft ist wie ein Messer, sagte der Wirtschaftsethiker. Man kann damit Brot schneiden oder die Menschheit gesundschrumpfen lassen.

Ohnehin gibt es viel zu viele Überflüssige, die der Erde die Haare vom Kopf fressen. Die Deutschen denken gar nicht daran, sich von ihren nationalen Vorkriegsbesessenheiten zu lösen. Noch immer wird der Kampf „1789 gegen 1914“ exekutiert. Pathos der Helden, die in Schönheit sterben gegen die satten Philister der Humanität.

Doch Hoffnung besteht, noch wird gestorben. Noch lassen wir anderswo sterben – damit die Menschheit nicht in pädagogischen Rettungsmaßnahmen erstickt. Wir leugnen einfach den Vorsatz, schon haben wir die ästhetischsten Schrecken auf der Welt, die – welch Wunder der Imagination – von realen gar nicht zu unterscheiden sind.

Das Fragmentarische, vom dem Bohrer schwärmt: in der Lehre vom zerrissenen, zerrütteten Menschen ist es Ereignis geworden. Der Mensch ist keine Einheit, er besteht aus isolierten Fragmenten. Da weiß die Linke nicht, was die Rechte tut. Vernunft oder Gefühl? Drück den richtigen Knopf. Vorsatz oder Ignoranz? Drück den richtigen Knopf.

Es soll Deutsche geben, die mit Vorsatz ihren Verstand ausschalten, um der Stimme ihres Gefühls zu lauschen. In Freiburg sieht man öfter freilaufende Ressentiments oder verkabelte linke Gehirnhälften, die verzweifelt ihre Ergänzungen suchen.

Ganz Ausgekochte drücken sogar mit Vorsatz ihren Vorsatz weg. Nun wissen sie nicht mehr, ob sie Mörder oder Totschläger mit erhofften Kollateralschäden sind. Doch gottlob sind solche Infamien selten.

Fragen wir bei Dante nach, was Vorsatz ist, so antwortet er prompt: „Wer eine Not erblickt und wartet, bis er um Hilfe gebeten wird, ist ebenso schlecht, als ob er sie verweigert hätte.“

Schauen wir einfach nicht hin – dann können wir uns am unerwarteten Schrecken verlässlich ergötzen.