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Tagesmail

Mittwoch, 25. Januar 2012 – Rankings allerwege

Hello, Freunde der Weltwirtschaft,

schon die geographische Symbolik: Davos, Festival der Habenden in europäischer Kälte, Eis und Schnee, mehr Polizisten und Bodyguards als Teilnehmer; Porto Alegre, Gegenfestival der Nichtshaber und Aufholenden in südbrasilianischer Sonne, buntes Leben, Arbeit und Tanz, freie Bürger denken über Alternativen nach.

Doch Vorsprung und Macht der Habenden schrumpfen, ihre Hoch-Zeit scheint vorbei, sie ersticken an ihrem Überfluss, den sie lebensunlustig produzieren und zur Hälfte wegwerfen, dennoch wollen sie wachsen und wachsen. Und wenn sie bald gestorben sind, wachsen sie noch im grünen Ökosarg.

Die nichtwestliche Welt beginnt den Westen mit seinen eigenen Waffen zu schlagen. Eine schmerzliche Tragik, ein scheinbar unvermeidliches Nadelöhr der Entwicklung, denn alle wissen, dass der Weg des Westens in die Irre führt. China beginnt die Umweltproblematik ernst zu nehmen, doch erst muss sie verschärft werden, um die Konkurrenz mit dem Westen zu bestehen und das Gefühl der Unterlegenheit zu besiegen. Die Deutschen sind nicht mehr wiederzuerkennen, haben

ihre Griesgrämigkeit zur Altkleidersammlung gegeben und strotzen vor ruchlosem Optimismus, womit sie selbst die Amerikaner in den Schatten stellen.

Zu lange hat der arrogante Westen verächtlich auf den Rest der Welt, auf die Kolonnen der Radfahrer in Peking herabgeschaut. Nun bestehen die Chinesen auf motorisierten Privatvehikeln, die ihnen endgültig die Luft rauben werden. Schon jetzt laufen sie den ganzen Tag mit Mundschutz herum.

Der Westen verteidigt mit Zähnen und Klauen seine Führungsrolle, obgleich er seinen eigenen Saftladen nicht unter Kontrolle kriegt. Es kann nicht anders sein, es muss so kommen, dass der Westen in seine Schranken verwiesen wird.

Doch wie lange muss die neue siegende Welt ihren Triumph auskosten, um gesättigt und mit neuem Selbstbewusstsein den verderblichen Wachstumspfad zu verlassen, sodass die Welt bereit ist, an einem Strang zu ziehen und zu lernen, sich gerecht und begrenzt auf dieser Erde einzurichten?

Frontier, die Grenze, war jene magische Linie am Horizont, die die amerikanischen Wagenkolonnen wie im Rausch ansteuerten und überwinden mussten. Grenzen überschreiten heißt auf lateinisch transcendere, woher Transzendenz.

Grenzüberschreiter sind transzendente Gottsucher, die den Unnennbaren immer hinter der nächsten Ecke vermuten. Noch ein bisschen Fortschritt, noch ein bisschen Wachstum, schon haben wir die Grenze ins Numinose überwunden und der Herr steht vor der Tür.

Der Rausch des Wilden Westens war vorbei, als die frontier an der pazifischen Küste ankam und an steilen Klippen ins Wasser fiel. Nein, er war nicht vorbei, denn die horizontale Grenze wurde zur vertikalen hochgeklappt, das Wachsen und Ausdehnen schoss in die Höhe gen Himmel. Sei es geld- oder weltraumgierig.

Die zwei Dimensionen der Fläche komplettierten sich zum dreidimensionalen Raum, der in Konkurrenz mit dem bösen Sowjetreich und dessen Sputnik sich erst bis zum Mond erweiterte und inzwischen den Mars ansteuert. Es soll detaillierte Pläne sogenannter Wissenschaftler geben, die den Mars schon mit einem neuen New York und Las Vegas überzogen haben.

Die alte Erde wird abgehakt wie erfolgreiche Männer ihre verbrauchten Alt-Ehefrauen abhaken, um sich eine neue cellulitisfreie und silikonbestückte Nachwuchsschönheit zuzulegen, damit sie im Alter beweglich und frisch seien.

Womit bewiesen, dass die religiös unterfütterte Männerkultur Natur wie eine uralte Mutter betrachtet, deren Runzeln und Verfallserscheinungen, die sie ihr selbst appliziert hat, nicht mehr erträgt. Mütter sind dazu da, verbraucht zu werden. Das muss ihre Auszeichnung sein, sich im Dienst der Familie zu erschöpfen.

Männer sind Schöpfer, Frauen Erschöpfte. Diese sinnvolle Arbeitsteilung steht schon geschrieben auf uralten heiligen Pergamenten, wo das Weib dem Mann als Gehilfin an die Seite gestellt wurde. „Eine Gehilfin, die zu ihm passt.“ Ob der Mann zur Gehilfin passt, steht nicht auf dem Pergament. Sollte sie mal nicht passen, wird sie passend gemacht.

Zu diesem Zweck haben männliche Schöpfer die abendländische Familie erfunden, in der die Gehilfin sich im Kreis dankbarer Familienmitglieder verschleißen darf. Die Schöpfer dürfen sich auch außerfamiliär ergehen, nur Ehefrauen werden vom Messias als Ehebrecherinnen abgestraft, was in der heiligen Machos, technische Bubis, schaut euch eure Mütter an, dann seht ihr, wie ihr die Welt zugrunde richtet. Seid fruchtbar und mehret euch und wenn ihr die ganze Welt mit eurer Fruchtbarkeit überzogen habt, dann sagt zur Mutter Erde leise Servus: well done und Abmarsch!

Masters of Universe brauchen eine neue Natur, im Labor selbst hergestellt oder auf dem sexy Mond gefunden, dem uralten Symbol für das Ewigweibliche. Der Mythos lebt mitten in der „entgötterten Welt“, jener Realität, die vom biblischen Gott von allen überflüssigen und heidnischen Göttern freigeräumt wurde, damit die Schaufelbagger ohne falsche Rücksicht auf Baumgeister und Wassernymphen Berge versetzen können.

Dies die These des Naziwissenschaftlers und Beinahe-Bundespräsidenten C. F. von Weizsäcker („Die Tragweite der Wissenschaft“), der zur Wahl in Bonn nur antreten wollte, wenn alle Parteien ihm freudig zujubelten und Blumen bei seinem Einmarsch streuten. Das hatte er bei seinem geliebten Führer beim Ausgießen des Heiligen Geistes bewundert und also wollte er ähnlich akklamiert werden.

Warum ist der Westen dem kläglichen Rest der Welt überlegen? Fragt Harvard-Professor Niall Ferguson.

In einer von Rankings nahtlos überzogenen Welt ist diese Frage unvermeidlich. Wer ist die Schönste, Mächtigste, Klügste, wer hat den Längsten, den Größten, wer ist am reichsten, verrücktesten, wer hat die meisten Nobelpreisträger, wer hat als Jüngste die Welt umsegelt? Welche Unis sind die besten, wer ist Psychologe des Jahrhunderts?

First of all: immer Amerikaner oder Engländer. Die Kriterien werden ganz objektiv von amerikanischen Edelfedern in heiliger Klausur festgelegt, über das Ergebnis – dass Gods own Country in allen Dingen exzeptionell ist – sind sie selbst am meisten überrascht.

Alles muss einmalig und unvergleichlich sein. Selbst das Böse gibt es in allen Preisklassen bis zur Weltmeisterwürde, eine Disziplin, in der ausnahmsweise die Deutschen vorne liegen. Die Würde der Opfer und die Unantastbarkeit des Holocaust müssen sich auf dem Laufsteg der Eitelkeiten wissenschaftlich hieb- und stichfesten Rangeinschätzungen unterziehen. Selbst das europäische Parlament kennt inzwischen Opfer erster und zweiter Klasse. Dem negativen Gigantismus sind keine Grenzen der Impietät allen Opfern gegenüber gesetzt. In der Demokratie sind alle gleich, solange sie leben. Der Tod, er hobelt alle gleich? Im Gegenteil.

Der sinnfreie Aufruf der europäischen Parlamentarier nützt keinem Opfer und bringt keinen Täter zur Reue. Sein Erkenntnis- und Aufklärungsgehalt ist gleich Null, seine politische Diskriminierungspotenz erheblich. Jetzt weiß der Osten Europas, dass er im Wesen minderwertiger ist als der Westen. Seine hingeschlachteten Opfer sind nur zweiter Klasse.

Bloße subjektive Einschätzungen setzen sich dreist an die Stelle wissenschaftlich-selbstkritischer Aussagen, die jederzeit falsifizierbar sein müssen.

Mag es für eine Übergangszeit hinnehmbar gewesen sein, dass Deutschland dem Leugnen des Holocausts mit einem Paragraphen zu wehren versuchte, allmählich wäre es an der Zeit, an eine selbstbewusste Demokratie zu denken, in der Meinungsverschiedenheiten weder von der Polizei noch vom Verfassungsschutz gelöst werden müssen. Auch massive und gefährliche Querschläger sollte eine stabile Demokratie aushalten, ohne weinerlich-autoritär nach dem Büttel zu rufen. Nicht die Öffentlichkeit, nicht die Politiker überprüfen ihre Kollegen und Konkurrenten, der Verfassungsschutz muss die schlecht geschriebenen Manuskripte einiger Linker illegal hacken, entziffern und bewerten.

In Frankreich wird mit Gesetzeskraft bestraft, wer den türkischen Völkermord an den Armeniern leugnet. Sarko benötigt die Stimmen der 500 000 Armenier in seinem Land, damit er noch eine kleine Chance zur Wiederwahl hat.

So nähern wir uns unaufhaltsam der platonischen Zensur-Utopie, welcher Sokrates als frei denkender Mensch als Erster zum Opfer gefallen wäre.

Alles imitieren die Europäer an den Amerikanern, nur nicht deren Selbstbewusstsein, das Meinungen auch dann frei und unbestraft lässt, wenn dieselben dem Geist der Demokratie im Tiefsten widersprechen.

Im Wikipedia-Artikel über „Holocaustleugnung“ steht ein Satz, der Popper die Tränen in die Augen getrieben hätte: „Die Geschichtswissenschaft sieht Holocaustleugnung als pseudowissenschaftliche Geschichtsfälschung und Geschichtsklitterung an, die „in Hass statt irgendeines anerkannten Maßstabes von Vergewisserung, Evidenz und Wahrheit“ begründet sei, und lehnt deshalb eine „ergebnisoffene Debatte“ um die dargebotenen Thesen in der Regel ab.“

Jede Wissenschaft muss ergebnisoffen sein, alles andere ist Diktatur selbsternannter unfehlbar Wissender. Selbst wenn Ergebnisse noch so evident, subjektiv gewiss und wahr sein mögen, niemand hat das Recht, den Prozess der Wahrheitsfindung per Ukas zu stoppen. Schon gar keine Wissenschaft, die sich vorstellt als „Die Geschichtswissenschaft“.

Während auf der Vorderbühne der ach so lässigen und toleranten Postmoderne alle Wahrheiten abgenickt, weil nicht ernst genommen werden, ernennen sich anonyme wissenschaftliche Zirkel zum göttlichen Maßstab der Wahrheit, um jeden weiteren Prozess der Wahrheitssuche zu verbieten.

Gewiss, jede Freiheit kann missbraucht werden. Doch sollte eine lebendige Demokratie sich vor einigen Arschlöchern und Dumpfbacken ängstigen müssen, dergestalt, dass das Abendland unterginge, wenn jene sich in der Öffentlichkeit lächerlich machen?

Wer die Bevölkerung für derart schwach auf der Brust hält, dass sie mit ihrer demokratischen Gesinnung den Verführungskünsten von Rattenfängern nicht widerstehen könne, der hat sein Vertrauen in die Gesellschaft komplett an der Garderobe abgegeben.

Ach so, Niall Ferguson. Wenn der Westen gerade dabei ist, seine Weltgeltung einzubüßen, müssen Elfenbeinturmbewohner mit Gelehrsamkeit und Scharfsinn kommen, um ihn vor dem Abgrund zu retten. Der Westen kann nicht untergehen, denn dazu ist er gar nicht fähig. Von Natur aus und dank angelsächsischer Genies bleibt er allen andern Kontinenten überlegen. Andere Genies scheint der Autor nicht zu kennen.

Von Natur aus? Nein, sondern aus folgenden hart erarbeiteten Vorteilen: Vorzüge des Wettbewerbs, wissenschaftliche Revolution, Eigentumssicherung und Repräsentativverfassung, moderne Medizin, wachstumsstimulierende Konsumorientierung sowie Fleiß- und Sparethik.

Wer viele Argumente hat, hat gar keine, sagte Nietzsche. Woher aber stammen all diese zauberhaften Überlegenheitsfaktoren? Mit der Religion hängen sie nicht zusammen, wie noch David Landes behauptete und der war ein Tropf. Hier lässt uns der forsche Forscher ratlos zurück.

Dennoch gibt’s gewisse morsche Symptome im westlichen Gebälk, die der Autor nicht ganz übersehen kann: nachlassende Arbeitsfreude, schwächende Selbstzweifel und – verminderter Kirchgang. Nach Fergusons Logik dürfte Kirchgang mit Religion nix zu tun haben.

Doch dem Autor kann geholfen werden. Das Europaparlament sollte unverzüglich die folgenden Gesetze erlassen: Wer bei nachlassender Arbeitsfreude und konjunkturschwächenden Selbstzweifeln ertappt wird – auch in der Kantine bei zwanglosen Gesprächen mit KollegInnen, die er subversiv anstecken könnte –, der wird mit wöchentlichen Kirchgängen nicht unter fünf Jahren bestraft.