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Mittwoch, 25. April 2012 – Wachsen und Ernten

Hello, Freunde der Isländer,

der isländische Ex-Premier stand vor einem Sondergericht: er habe das Kabinett nicht rechtzeitig über die gefährliche Lage auf dem Finanzmarkt informiert. Freigesprochen. Zwar habe er Fehler gemacht, strafbar aber war das nicht, weil der Zusammenbruch damals ohnehin nicht mehr hätte vermieden werden können.

Kann ein Politiker wegen seiner politischen Entscheidungen juristisch zur Verantwortung gezogen werden?

Hier hilft uns die feinfühlige deutsche Sprache weiter. Verantwortung übernehmen ist Lieblingssport der Politiker, zur Verantwortung gezogen werden: das ist für Leute, die ein weggeworfenes Käsebrötchen unverantwortlich dem Verzehr zuführen und sich damit ein weggeworfenes Eigentum widerrechtlich unter den Nagel reißen.

Sagen wir mal so: mit dem kostbaren Gut, schuldfähig und strafwürdig zu sein, sind die niederen Ränge der gesellschaftlichen Pyramide privilegiert. Die höheren Ränge hingegen mit Schuldunfähigkeit und straffreier Verantwortung schwer bestraft.

Der isländische Ex-Premier überlegt, wegen dieser flagranten Benachteiligung nach Straßburg zu gehen. Nun muss er den Rest seines Lebens unter Gewissenspein und Seelenqualen verbringen, weil er seine Schuld nicht hinter Gittern abarbeiten kann. Wen wundert es, dass zu diesen unmenschlichen Bedingungen immer weniger junge Menschen bereit sind, Politiker zu werden?

Mit einer freiwilligen Obergrenze sollen

Spitzenmanager und Vorstände sich selbst begrenzen. Das ist ein unbegreiflicher Angriff auf Grenzen, die zu Unrecht ontologisch unverrückbar sein wollen. Moderne Grenzen erkennt man an ihrer Transzendierungsfähigkeit.

Grenzen sind dazu da, jederzeit angegangen oder überstiegen werden zu können. Wenn Menschen ver-rückt werden, Grenzen aber nicht, müssen beide in die Psychiatrie. Schließlich sind Menschen keine Grenzen. Sie sind nach oben unbegrenzt verrückbar oder transzendenzfähig.

Menschen, die nach oben am weitesten verrückt sind, nennt man Gläubige. Ohne Verrückbarkeit nach oben gibt es kein Wachstum.

Gibt es kein Wachstum, gibt es auch kein Denken, sagt der oberste BASF-Denker Bock. Denn auch Denken muss ständig wachsen, sonst stirbt es ab. Ohne Wachstum würden nämlich die Verteilungskonflikte in Europa und Deutschland zunehmen. Das will Kurt Bock verhindern.

Wer heute in die obersten Etagen vordringen will, braucht dazu ein adäquates Gesicht wie Kurt Bock. Eine Mischung aus kühnem Strategen, furchtlosem Lenker und pastoral-gütigem Patriarchen.

In Fragen des Wachsens und Schrumpfens hat die BASF viel Erfahrung. Wächst sie nicht, ist sie bereits geschrumpft, die Stadt Ludwigshafen muss darunter leiden. Dann gibt’s weniger Zaster für den OB und den Umbau der hässlichsten Stadt der BRD zur künftigen Metropole der Kurpfalz unter freundlicher Eingemeindung der unbedeutenden, aber schlösserbewehrten Städte Mannheim und Heidelberg.

Wie immer seit 150 Jahren muss die BASF bei ungenügendem Wachstum – allerdings sehr ungern – damit drohen, ihren Firmensitz nach Antwerpen zu verlagern. Was soll sie verteilen, wenn nichts dazukommt? Alles andere ist ja bereits verteilt.

Das wäre eine Umverteilung von oben nach unten. Die da unten würden geradezu daran ersticken, wenn alles, was sich oben angesammelt hat, nach unten regnete. Da ist es schon besser, wenn per Wachstum von unten nach oben verteilt wird, denn Wachstum ist vor allem das Verdienst der Unteren. Doch das Verdienst und der Verdienst driften immer weiter auseinander.

Wir wollen der Stadt LU nicht unrecht tun. Gerade weil sie eine City ohne Gestalt und Schöne ist (weshalb die ARD zu Recht die schöne Ulrike Folckerts als Tatort-Kommissarin nach LU schickte, um ein wenig Glanz in die düstere Hütte zu bringen), ist sie eine Stadt der Zukunft.

„Orte wie Ludwigshafen sind die ersten Seestädte auf dem Land, fluktuierend, aufgelockert, am Meer einer unstatischen Zukunft“, schrieb ein nicht unbekannter Philosoph, der in der Proletenstadt das Licht der Welt erblickte, schon als Gymnasiast über die Rheinbrücke ging, um sich in der Mannheimer Schlossbibliothek in die Marx-Schwarten zu vertiefen, denn in seiner ärmlichen Heimatstadt gab es keine Bücher.

„Unstatische Zukunft, fluktuierend“: das klingt unvergleichlich eindrucksvoller als der armselige Bock‘sche Begriff Wachstum. Seltsam, dass die PR-Abteilung des Weltkonzerns das Bloch-Zitat noch nicht entdeckte, um auf die heimlich-unheimliche Konvergenz von Kapitalismus und Marxismus hinzuweisen.

Es ist mitnichten so, dass der Sozialismus den fairen Wettbewerb mit dem Kapitalismus verloren hätte. Seine Kerngedanken haben in gleichem Maß gesiegt.

Sie waren vollständig identisch mit denen des früheren Gegners: nach oben ins Unbegrenzte fluktuieren, der Natur oder der Materie die Lebenssäfte absaugen, den festen Boden unter den Füßen in eine wankende und schwankende Fahrt auf hoher See verwandeln (= unstatisches Meer), die Malocher auf Existenzminimum halten, öffentlich entmündigen und eine Internationale der am härtest Arbeitenden herstellen: das sind die leitenden Manager oder die Nomenklatura des Geldes, die längst den Politikern am Katzentischchen sagen, wohin die Reise auf unsicherer See gehen soll.

Kapitalismus ist jene fluktuierende Meeresflut, die den Menschen allen sicheren Boden unter den Füßen wegspült. Es gibt sogar eine Planwirtschaft, wenngleich unter anderem Namen. War sie im Sozialismus Inbegriff allmählichen Wachsens und Annäherns ans Reich der Freiheit, ist sie im Neoliberalismus Expansionskern der ständig expandierenden Evolution.

Wie im real existierenden Sozialismus die Wachstumsziele der Zukunft per Planwirtschaft festgelegt wurden, so im irreal existierenden Mammonismus die Renditequoten. Mindestens 20 % jährlich Zugewinn, darunter wollte es Ackermann partout nicht machen. Wenn die heutigen BIP-Zahlen Europas nicht 3% Zuwachs durchschnittlich erbringen, sind wir bereits vom Hungertod bedroht.

Der Ursprung der Wachstumszwänge liegt in der Vorstellung, dass lineare Zeit linear-unbegrenztes Zunehmen bedeutet. Je weiter die Zeit voranschreitet, je mehr haben wir uns auszubreiten.

Geschichte ist Wachstumsgeschichte. In den Anfängen der Zeit wird gezeugt und gesät. „Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde“. ( Altes Testament > 1. Mose 1,28 / http://www.way2god.org/de/bibel/1_mose/1/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/1_mose/1/“>1.Mose 1,28) „Darum will ich dein Geschlecht zahlreich machen wie die Sterne des Himmels und wie Sand am Meer.“ ( Altes Testament > 1. Mose 22,17 / http://www.way2god.org/de/bibel/1_mose/22/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/1_mose/22/“>1.Mose 22,17) „So speicherte Josef den Weizen auf, über die Maßen viel wie Sand am Meer, sodass er davon abstand, es zu messen, denn es war unermesslich viel.“ ( Altes Testament > 1. Mose 41,49 / http://www.way2god.org/de/bibel/1_mose/41/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/1_mose/41/“>1.Mose 41,49)

Das sind Bilder der Unendlichkeit, übertragen auf die Geschichte, die ein Ende haben wird – um für immer unendlich zu werden. Die Erde muss mit Menschen abgefüllt werden, sonst bleibt der Mensch der Natur hilflos ausgeliefert.

Endzeit ist Erntezeit: „ Die Ernte ist das Ende der Welt.“ ( Neues Testament > Matthäus 13,39 / http://www.way2god.org/de/bibel/matthaeus/13/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/matthaeus/13/“>Matth. 13,39) Am Schluss überschaut der Herr des Hauses die Scheuern und Scheunen, öffnet seine Bücher und zieht Bilanz. Erntehelfer sortieren das Unkraut vom Weizen, das Unkraut wird mit Feuer verbrannt.

Zwischen Säen und Ernten muss unaufhörlich gewachsen werden. Am Anfang ist alles klein und unscheinbar, die höhnischen Wettbewerber lachen und verhöhnen es. Doch was die rechten Erfolgs-Gene in sich trägt, kommt aus der Tiefe des Raums und setzt auf die Strategie des Unterschätztwerdens und des finalen Endspurts.

Wer zuletzt lacht, lacht am besten. „Und das Himmelreich ist gleich einem Senfkorn, das ein Mensch nahm und auf seinen Acker säte. Dieses ist zwar kleiner als alle andern Samensarten, wenn es aber herangewachsen ist, so ist es größer als die Gartengewächse und wird ein Baum, sodass die Vögel des Himmels kommen und in seinen Zweigen nisten.“ ( Neues Testament > Matthäus 13,31 ff / http://www.way2god.org/de/bibel/matthaeus/13/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/matthaeus/13/“>Matt. 13.31 ff)

Nicht die Vögel der Erde, sondern die Vögel des Himmels, der Baum ist in den Himmel gewachsen. Ein Bild mächtiger Allpräsenz. Der neutestamentarische Himmelsbaum hat den altbiblischen Turm zu Babylon ersetzt und überwunden, der siegreiche Baum das Schandholz des Kreuzes ausgetrickst.

In der Geschichte wächst aus unscheinbaren Anfängen das Unvorstellbare, das alle Konkurrenten überrundet, überwächst und überwuchert. „Lege deine Sichel an und ernte, denn die Stunde des Erntens ist gekommen, weil die Ernte der Erde dürr geworden ist. Und der auf der Wolke saß, legte seine Sichel an die Erde und die Erde wurde abgeerntet“. ( Neues Testament > Offenbarung 14,15 f / http://www.way2god.org/de/bibel/offenbarung/14/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/offenbarung/14/“>Offbg. 14,15 f)

Die Erde wird abgeerntet. Sie hat ihre Pflicht getan, ist dürr geworden, bringt nicht mehr die erforderlichen Wachstumsraten. Sie muss gehen. Die besiegten Wettbewerber werden ausgemistet und eliminiert.

Nicht nur das Gute war gewachsen, sondern auch das Böse, das endlich ausgerottet werden muss, sonst könnte es noch übermütig und gefährlich werden. „Kommt tretet, denn die Kelter ist voll. Die Kufen überfließen, denn die Bosheit ist viel.“ ( Altes Testament > Joel 4,13 / http://www.way2god.org/de/bibel/joel/4/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/joel/4/“>Joel 4,13)

Der eigentliche Wettbewerb, der zwischen dem Guten und dem Bösen, ist entschieden. Das unendliche Freudenfest der finalen Sieger kann beginnen.

Blochs Metapher vom unstatischen Meer bedeutet, dass die Epoche des festen Landes zur Vorgeschichte gehört und im Verlauf der spiralig wachsenden Heilsgeschichte ad acta gelegt werden muss. Das Unbewegliche und Statische muss dynamisch und flüssig werden.

Ich bin liquide, ich bin flüssig, sagen jene, die mit flüssig-dynamischen Geld bereits die nächste Epoche der Weltgeschichte erreicht haben, um dem nicht-liquiden, bornierten Landmenschen den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Der feste Boden hat ausgespielt. Auf die Schiffe, Genossen, die Zukunft liegt auf dem Meer der Unendlichkeit.

Damit war das Schicksal Ludwigshafens besiegelt. Irgendwann hörte es auf zu wachsen, seitdem ist die Stadt zum Schrumpfen verurteilt. Selbst das Bloch-Archiv liegt schon unter der Erde.

Wo das Wachstum noch nicht vorgedrungen ist, herrscht das Gesetz des Schrumpfens und des Todes. Auf der Erde leben 1,4 Milliarden Heranwachsende zwischen 10 und 19 Jahren. 1,4 Millionen sterben weltweit durch Gewalt, Aids oder frühe Geburten, man könnte kurz von Armut und armutsbedingten Folgen sprechen. Fast 2,2 Millionen Kinder sind von Aids infiziert. Selbstmord unter Jugendlichen gibt es vor allem in Russland, Weißrussland und Kasachstan.

Wenn nur ein bisschen Wachstum verteilt werden kann, obgleich die Erde von Reichtümern geflutet wird wie Sand am Meer, müssen weitere Millionen ins Gras beißen.

Eine Minderheit der Menschheit schwimmt in unstatisch liquiden Geldmassen, die Mehrheit verdorrt auf der abgeernteten dürren Erde.

Doch keine Angst, wenn die Erde zur abgmahten Wiesn geworden ist. Der Regisseur Cameron und Google-Chef Page wollen sich mit Schrumpfen nicht begnügen. Sie planen das Wachsen über den Planeten hinaus. Sie wollen Asteroiden in die Nähe der Erde lenken, um sie wirtschaftlich auszubeuten. Das war keine Information aus Avatarfilmen, das war ernst gemeint.

Warum werden die Deutschen immer älter? Weil immer mehr Menschen sich die Begräbniskosten nicht mehr leisten können.

Der Streit ums Betreuungsgeld steht kurz vor der Schlichtung – nach bewährtem Rezept auf Kosten jener, die eh dem Staat auf der Tasche liegen. Hartz4-Eltern sollen weiterhin jeden Pfennig von ihrem Satz abgezogen kriegen. Dafür sollen jene das Geld bekommen, die es gar nicht nötig haben. Wer nichts hat, dem wird noch genommen, was er hat. Die Regierung bleibt unerschütterlich bibelfest und gesinnungstreu.

Während die Schriftstellerin Monika Maron den Wulff-Satz, der Islam gehöre zu Deutschland, (nicht anders als ihr Kollege Mosebach), mit Haut und Haaren verwirft, stellt Najem Wali in der TAZ ein Buch vor, in dem der amerikanische Autor John Freely erzählt, wie die griechische Philosophie über das muslimische Bagdad nach Europa gekommen ist.

Selbst die Griechen haben viele Anregungen und wissenschaftliche Kenntnisse aus arabischen Ländern übernommen.

Vermutlich hat Günter Jauch dieses Thema noch nicht in seinem Quiz behandelt, woher sollten deutsche Schriftsteller wissen, wie Aristoteles über Mesopotamien nach Europa zurückkehrte? Die ersten Anfänge einer freieren Denkungsart in Europa wären ohne diesen „Umweg“ nicht denkbar gewesen.

Die Aufklärungswellen der Neuzeit wurden von arabischen Gelehrten angeregt, die sich dem griechischen Genius nicht entziehen konnten.