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Mittwoch, 23. Mai 2012 – Lust

Hello, Freunde des Genießens,

die Deutschen malochen zu viel. Malochen ist kein selbstbestimmtes Arbeiten, das es im Kapitalismus nicht gibt. Wer sich mit Haut und Haaren verkaufen muss, um zu überleben, verkauft nicht seine Arbeit, sondern seine erpressbare Malocher-Energie. Marxens Arbeitswerttheorie ist eine Malocherwerttheorie. Unter Ausbeutern gibt’s keine Arbeit, mit der man sich selbst bestimmen kann.

Erst die Arbeit, dann das Vergnügen? Wenn Arbeit nicht Vergnügen wäre, wäre sie Malochen. Der Satz des Paulus: wer nicht arbeiten will, der soll auch nicht essen, erhält nur Sinn, wenn man von lustbetonter Arbeit nicht leben kann und seine Arbeitskraft an andere verkaufen muss, die über die Qualität meines Lebens bestimmen können.

Malochen ist die Quittung für ein schreckliches Vergehen vor Gott und eine Sündenstrafe. Wörter wie Vergnügen oder Genießen sind im lustfeindlichen Neugermanien kontaminiert. Wer sagt schon nach einem Fest: es war vergnüglich, es war ein Genuss, weil ich frei von Kontrollmechanismen war?

Das würde ja bedeuten, man habe seine Kontrollmechanismen aufgegeben, ohne völlig die Kontrolle zu verlieren. Würde man sie nämlich völlig verlieren, würde man die Gesellschaft sprengen, glaubt Pastor Gauck, der Freiheit immer von Verantwortung kontrollieren und einhegen lassen muss.

Ohne Kontrolle scheint‘s hierzulande nicht zu gehen. Wer kontrollieren muss, misstraut sich und seinen Mitmenschen. Nur mit Urvertrauen in Mensch und Natur kann ich loslassen und mich meinen triebgesteuerten

Elementen überlassen, ohne befürchten zu müssen, dass sie die Gemeinschaft in die Luft sprengen.

Genau dies aber verstehen Deutsche unter Feiern: Dinge tun, die im Normalzustand verboten sind. Außer Rand und Band sein und haarscharf an Katastrophen vorbeischliddern. Wie heißen die Formeln in TV, wenn eine Stadt feiert? Da ist der Bär los, da steppt der Bär. Hier hört und sieht man noch die germanischen „Bär-serker“, die tierisch werden müssen, um auf die Pauke zu hauen.

(Tiere verlieren so gut wie nie ihren Kopf, sonst wären sie verloren; nur wenn im Okawanga-Delta zu viele Früchte von den Bäumen fallen und zu gären beginnen, kommt‘s zu kollektivem Wanken, selbst bei Elefanten.)

Von Genuss spricht sowieso kein normaler Mensch. Genießer sind verbissene und grantige Gourmets, die aus Essen und Trinken eine elitäre und teure Wissenschaft gemacht haben. Vor der Gourmetwelle waren Genießer ältere Herren nach dem dritten Schoppen, wenn sie ihren brüchigen Altherren-Tenor einschalteten, um altdeutsches Liedgut der Nachwelt zu erhalten, das niemand hören wollte.

Selbst im Ausnahmezustand sind die Deutschen noch kontrolliert und stehen unter dem Kommando ihrer kollektiven Mythen. Kein Fußballfest ohne die säkulare Ganzkörpertaufe mit dem Riesenbierhumpen. Wenn alle gleich im beliebten Gerstensaft schwimmen, ist die Regression in die Urmasse wieder hergestellt und das Stadium der sündigen Individualisierung überwunden. Die Hochkultur ist abgestreift. Alle sind gleich, zwar nicht vor Gott, aber vor der Urhorde.

Das Gleichsein vor der Mutter ist das tiefste Bedürfnis der Geschwisterhorde, doch in einer hochindividualisierten Rivalitätsgesellschaft die Sünde wider den Geist. Dieses Bedürfnis darf nur im Zeichen geistesabwesender Volltrunkenheit befriedigt werden, sodass man bei Nüchternheit nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden kann.

Mit echten Orgien haben diese Ballermannkompromisse so viel zu tun wie klammheimliches Anschauen eines Pornos mit dionysischen Festen gewisser heidnischer Dörfer oder Stammesgruppen, die einen gemeinsamen embryonalen status integritatis herstellen. Sei es, um das Band des Kollektivs zu erneuern und zu festigen. Oder sei es, um den Himmel zur Kopulation mit der Erde zu animieren, damit der Frühjahrsregen strömt und die Ackerscholle fruchtbar wird.

Nur dionysische Orgien sind das kompromisslose Außerkraftsetzen aller Ich- und Überich-Instanzen, die Heimkehr ins Es, das nicht mit destruktiver Dumpfheit identisch sein muss – wenn die Menschen gelernt hätten, sich ihrem Es anzuvertrauen und es zu humanisieren.

Wäre die westliche Zivilisation fähig, in periodisch-orgiastischen Festen alle zivilisatorischen Fesseln abzustreifen, hätte sie keine ökologischen Probleme mehr. Denn die Orgie ist der emotionale Kern der Naturverbundenheit.

Hab ich Vernunft und Instinkt verbunden, kann ich mit meinen befreiten Instinkten die befreiten Instinkte der anderen nicht sinnlos zerstören. In hochreligiösen Kulturen haben Orgien einen schlimmeren Ruf als Völkerverbrechen. Obgleich sie ganz im Gegenteil die Gemeinschaft und die Gemeinschaftsgefühle beleben und stärken und nicht in rasender Gewalt zerstören.

Nur Orgien sind wahre Liebesakte, die die sinnlichen und psychischen Bedürfnisse des Clans, des Dorfes be-frieden: ergo zum Frieden bringen.

Ein standardisierter Liebesakt à deux ist nur ein verkümmerter Rest der Liebe zu allen Menschen, mit denen man zusammen arbeitet und lebt. Diese natürlichen Liebesfähigkeiten sind von den herrschenden Hochreligionen zum absoluten Bösen erklärt und fast gänzlich zerstört worden.

Wenn alle natürlichen Bedürfnisse des Teufels sind, müssen alle unter dem friedlosen Zustand sinnlichen und psychischen Hungers leiden, den begehrten Mitmenschen als Quelle der Versuchung meiden und ihm aus dem Wege gehen. So werden Menschen in Misstrauen und Hass auseinanderdividiert und das emotionale Band der Gemeinschaft dauerhaft zerrissen.

Wenn endlich jeder gegen jeden ist, kann die Erlösung nur noch von oben kommen. Nächstenliebe ist die äußerste Perversion echter Liebe, die den leidenden Menschen nicht als sinnlich Bedürftigen anerkennt, sondern als einen, den man mit Almosen abspeisen kann: in absoluter emotionaler und räumlicher Distanz vom „Hilfsobjekt“, das als Obdachloser niemals jene glänzende Charityveranstaltung besuchen dürfte, von deren opulenten Tischen einige Brosamen für ihn abfallen.

Körperliche „Liebesdienerinnen“ werden seit Bestehen der männlichen Hochkulturen als sündige Huren jenen heiligen Frauen gegenübergestellt, die sich dem Besitzanspruch der Männer widerspruchslos unterworfen haben.

Kein Nächstenliebender käme auf die Idee, das Objekt seiner Liebestätigkeit als Freund zu betrachten. Man gibt seinen Groschen, dann nichts wie weg vom Ort des halbseidenen Geschehens.

Die zivilisatorischen Fesseln, die mir meine instinktive Freiheit einschnüren, bestehen vor allem in Schutzklauseln des privaten Eigentums, die von Männern der Hochkulturen erfunden wurden, um ihre Macht zu sichern. 99% aller Moral des geistig überlegenen Westens beziehen sich auf die Verteidigung des Privateigentums, auf die Absage an Gleichheit und Gemeineigentum der Urhorde.

Der Urbruch mit der gleichen und kommunistischen Urhorde der Menschheit ereignet sich auf religiöser Ebene, wo ein Gott sich ein bestimmtes Volk als Privateigentum sichert und alle Nebenbuhler als Götzen verflucht und vernichtet: „Ich bin der Herr, dein Gott. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir“.

Mein Gott ist nicht dein Gott, unser Gott nicht euer Gott. Bekanntlich war das noch kein Monotheismus, denn Stammesgott Jahwe anerkennt die Existenz anderer Stammesgötter. Doch von Anfang an im rivalisierenden Modus des Eliminierens. Fast das ganze westlich-christliche Über-Ich steht unter dem Zeichen des Mein und Dein, der Separierung und der Exklusivität.

„Ich bin ein eifersüchtiger Gott“, bekennt der himmlische Privatier, der sich seine Beute unter den Völkern erwählt – beileibe nicht, weil das Volk so vorbildlich war, im Gegenteil: erst die grundlose Wahl und Erhöhung machte es zu einem besonderen Volk – und nun die anderen Völker mit deren Göttern aus dem Feld schlagen muss, um am Ende der Geschichte sich die Gesamtbeute der Welt unter den Nagel zu reißen.

Die Geschichte wird zur zeitlichen Arena, auf der die Völker mit unterschiedlichem Startkapital beginnen, mit diesem wuchern, um im dramatischen Endspurt den finalen Sieg zu erringen.

Feiern und Privateigentum schließen sich aus. Feste sind Orgien der Gemeinschaft und der Gleichheit. Mit Separierung eines Teils der Menschheit wird die Gleichheit zerrissen. Jedes Volk, jeder Clan, jedes Individuum muss ab jetzt sein eigen Ding verfolgen – gegen die Interessen aller anderen. Das ist Gift für rauschartiges Zusammenfließen aller künstlich Getrennten und Atomisierten.

Hier sehen wir die Urspaltung der Menschheit, die die Spaltung der Moral in Egoismus und Altruismus hervorbrachte. Das Ego muss vom Alter-Ego getrennt werden. Die Sorge um Heil und Wohlergehen des Ego schließt das Bemühen um das Wohlergehen des Alter-Ego aus.

Die grundlegende Moral einer Religion, die auf exkludierendem Privateigentum erwählter Menschen beruht, ist der Heilsegoismus: der Vorläufer und Urheber des wirtschaftlichen Egoismus. Pflichtgemäße Nächstenliebe als Altruismus ist der vergebliche Scheinversuch, die ursprüngliche Gemeinschaft der Menschen wieder herzustellen.

Caritas und gnädiges Almosengeben dienen nur dem eigenen Heil und können am Unheil des anderen nichts ändern. Seligkeit und Heil sind Privatissima, für die jeder selbst zuständig ist, die jeder nur allein für sich erwerben und bewahren kann.

Ihre Genuss- oder Lustfähigkeit verknüpfen die Deutschen mit erworbenem Verdienst, externem Lohn und externer Strafe. Erst, wenn sie für andere etwas geleistet haben, das vorzeig- und beweisbar ist, dürfen sie sich mit Vergnügen belohnen.

Dabei geht es nicht nach spontanem Bedürfnis, nach Selbsteinschätzung. Ich muss anderen nachgewiesen haben, dass ich durch erpresste Arbeit mein bisschen Feierabendlust redlich verdient habe. Die Lust muss heteronom verdient worden sein, damit ich mir erlauben kann, die Zügel locker zu lassen.

Bei solch außengeleiteter Legitimation kann ich mir meiner Lust niemals sicher sein. Hab ich wirklich genug geschwitzt und mich angestrengt, damit meine Vorleistung der Belohnung auch gerecht wird? Bin ich nicht dabei, mich zu verwöhnen, wenn ich für einmal Müll Runterbringen mir schon ein Gläschen Bordeaux genehmige?

Hier tut sich der neue politische Spalt auf zwischen mediterranen Völkern, die die Fähigkeiten zu besitzen scheinen, verdienstlos und ohn alle Werke des Gesetzes sich des Tages zu freuen – und den protestantischen Nordstaaten, die erst ihre Malochernormen erfüllen müssen, um sich abends ein kühles Helles zu genehmigen.

Seltsamerweise hat sich die Dogmengeschichte hier auf den Kopf gestellt. Die Protestanten müssen erst ihre Werke vorzeigen, um sich ein himmlisches Leckerli zu verdienen, sie werden zu praktizierenden Pelagianern. Die südlichen Katholiken lassen Verdienst Verdienst sein und vertrauen auf die unverdiente Gnade des Carpe diem (Genieße den Tag), die sie schon deshalb verdient haben, weil sie sich gar keiner Gnade mehr unterwerfen.

Was nur bedeuten kann: die Südländer haben ein unvergleichlich höheres Selbstwertgefühl als die Nordlandbewohner. Offensichtlich haben sie sich von göttlichen Belohnungen und Bestrafungen in hohem Maße emanzipiert. Mit anderen Worten: Katholiken sind die besten Heiden. Was man an den Bayern eindrücklich studieren kann.

Deutsche können nur krakeelen und lärmen, um ihr übermäßig unterdrücktes Es ein wenig zu kanalisieren. Sie haben so viel Wut im Bauch, dass sie fürchten, die Welt zum Einsturz zu bringen, wenn sie einmal ungehemmt ihre unterdrückte Seele zum Detonieren brächten.

Das ist der Grund, warum sie nach dem Fest keinen befreiten Eindruck machen, sondern einen zerknitterten, zerknirschten und verkaterten. Der deutsche Ballermannlöwe brüllte und endete als Alkoholleiche.

Lust kann ich nur erleben, wenn ich meinem Willen zur Lust folgen darf. Ich muss wollen dürfen, was ich will, wenn mein Wille den Willen anderer nicht schädigt, sondern bereichert. In welchem Maße die heutigen, so sex-aufgeklärten Deutschen lust-inkompetent sind, zeigt das Spiegel-Interview von Wlada Kolosowa mit der Sexologin Ann-Marlene Henning.

Lust ist das Erlebnis meiner Freiheit, die auf Überich-gesteuerte Verantwortung verzichten kann. Echte Freiheit benötigt keine von außen kommende Kontrollinstanz. Unverantwortliche Freiheit wäre keine Freiheit, sondern Chaos, Willkür und Destruktion.

Nach wie vor steht das Unbewusstsein der Deutschen unter dem Gesetz der verbotenen Fleischeslust. Alles ist Fleisch. Alles ist niederträchtig, wenn es aus dem folgt, was ich will. Ich soll tun, was ich nicht will  das ist die Forderung des Heiligen:

„Wandelt im Geist, so werdet ihr die Lust des Fleisches nicht vollbringen. Denn das Fleisch gelüstet wider den Geist, der Geist aber wider das Fleisch. Denn diese liegen miteinander im Streit, damit ihr nicht das tut, was ihr wollt.“ ( Neues Testament > Galater 5,16 f / http://www.way2god.org/de/bibel/galater/5/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/galater/5/“>Gal. 5,16 f)