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Mittwoch, 22. August 2012 – Pädagogischer Eros und Sex

Hello, Freunde des süßen Weins,

Yona Metzger ist die höchste Autorität der ashkenasischen, der aus Mittel- und Osteuropa kommenden Juden und bescheinigt den Deutschen in der Beschneidungsfrage: kein Antisemitismus. Da kommt Freude auf, dass ein echter Fachmann den ersehnten Persilschein verteilt.

Was macht der gelehrte Rabbiner mit den notorischen 20% Antisemiten, die jährlich den ausgewiesenen Fachleuten ins Netz gehen? Er wird sie doch nicht aus Freundlichkeit – oder nein, gar aus strategisch durchsichtigen Gründen – ein wenig übersehen haben? Erklimmt die deutsch-jüdische Herzensbeziehung ein ganz neues Niveau: nicht Auge um Auge, sondern Nettigkeit um Nettigkeit?

Im bekannten Schenkungsritual Potlatch diverser Indianerstämme muss jeder Stamm den andern durch Geschenke übertrumpfen, bis der Konkurrent die Waffen streckt und sich geschlagen gibt. Wenn schon Wettbewerb, dann auf diese Art, wo man den anderen keine glühenden Kohlen, sondern die besten und schönsten Dinge aus Busch, Wildbächen und Urwald aufs Haupt sammelt. Nur so, liebe Schwestern und Brüder, können wir den vermaledeiten Kapitalismus um die Ecke bringen, ohne Hungers sterben zu müssen.

Völlig unverständlich, dass es noch keine Potlatch-Partei gibt. Nicht mal die rasend schnell denken könnenden Piraten – die es mit jedem Computer aufnehmen – sollen den Begriff Potlatch kennen. Da sie den Ehrgeiz haben, das kürzeste,

lakonischste und dennoch vielsagendste Parteiprogramm der Weltgeschichte zu verfassen, würde sich – ohne Scheiss – dieser fremd und geheimnisvoll klingende Begriff aus der Sprache der nordwestlichen Pazifikküste in idealer Weise anbieten.

Das Programm sollte einen Begriff in allen Farben und Schrifttypen enthalten: POTLATCH. Der Erfolg wäre riesig. Nur mit dieser Geheimwaffe ließe sich Mutter Merkel in den verdienten Ruhestand abdrängen. Heiliges Indianerehrenwort.

Ein Pirat soll laut Hörensagen schon dazu übergegangen sein, den Potlatch „anzudenken“ (so der Originalbegriff der Brainstormer, Vorläuferbewegung der Shitstormer, nein, hat nichts mit Hölderlins „Andenken“ zu tun) und sammelt schon persönliche Spenden auf sein eigenes Haupt. Als Gegenleistung soll er versprochen haben, keine einzige Talk-Show mehr auszulassen, damit seine Spender und Wähler sich seiner optischen und rhetorischen Fähigkeiten rund um die Uhr erfreuen können.

Pardon, verfranst, wo waren wir? Ah ja, Metzger und Beschneidung. Ein hochrangiger Vertreter der Bundesrepublik, der sich leider nicht zu erkennen gab, fühlte sich geehrt, dass ein Geistlicher aus den Tiefen Osteuropas sich mit ihm an einen runden Tisch setzte und ihm einen ehrenwerten Deal unter Ehrenmännern anbot: unbetäubte Beschneidung gegen staatlich ausgebildete religiöse Beschneider.

Das heißt, nicht ganz ohne Betäubung. Vor der Beschneidung soll dem Säugling ein Tropfen süßen Weins verabreicht werden. Ob Säuglinge in diesem Alter nicht nur schmerzunempfindlich, sondern auch besäufnisfest sind, diese Frage wird im deutschen Recht eher unterbelichtet behandelt, was auf eine vermutete Säuglingsallergie kinderloser deutscher Juristen zurückzuführen sein wird. Hat man Vosskuhle etwa mit Säugling auf dem Arm ins Plenum schreiten sehen?

Dabei hörten wir die ganze Zeit, Beschneidung ohne Betäubung gebe es nicht. Jetzt kennen wir die Auflösung des Rätsels: süßer Wein. (Mit Siebeck wollen wir hoffen, dass der Wein nicht künstlich mit Zucker gepanscht ist.) Eine ordinäre künstliche Betäubungsspritze lehnt der Rabbiner entschieden ab mit der einleuchtenden Begründung: „Alles Künstliche steht im Widerspruch zum jüdischen Religionsgesetz.“

(Markus Decker in der FR über den Oberrabbiner Yona Metzger)

Jetzt verstehen wir blitzartig, warum Joachim Radkau in seinem Wälzer „Die Ära der Ökologie“ ein Kapitel über die fast nicht vorhandene ökologische Bewegung in Israel schreiben konnte. Diese Bewegung ist auf heiligem Boden gar nicht notwendig, denn alles Künstliche ist dort streng verboten.

Im Land, wo Milch und Honig fließt, dürfen Milch und Honig weder durch Melkapparate noch durch kalte Pressungen des bienenfleißig gesammelten süßen Stoffs (oder waren es heiße Pressungen?) verkünstelt werden.

Maschinen und technische Apparate sind dort nicht erlaubt, weshalb Netanjahu weder Drohnen noch Atombomben besitzen kann, das hätten die Oberrabbiner mit einem himmlischen Machtwort verhindert.

Yona Metzger kann konsequenterweise nicht per Flugzeug, Eisenbahn oder Dienstwagen, sondern nur per pedes rabbinorum oder auf dem Rücken eines geduldigen Muli angereist sein. Auch sein akkurat geschnittener Bart war offensichtlich per geschliffenem Naturstein in Form gebracht, womit auch die Frage nach dem Instrument des heiligen Rituals beantwortet ist.

Von deutschen Medizinern, die keinerlei Offenbarungsaura vorzuweisen haben und künstliche Skalpelle benutzen, hält der tolerante Metzger nicht viel.

Und nun lasse man sich folgenden Satz langsam auf der Zunge zergehen, den der FR-Schreiber Markus Decker irgendwo in seinem Artikel versteckte: „Zudem war von einer deutschen Ideologie der körperlichen Unversehrtheit die Rede.“

In der Tat, gäbe es die lästige Ideologie des Verletzungsverbots nicht, könnte man überbelegte Gefängnisse von Mördern und Totschlägern entleeren, die alle Opfer einer nicht mehr in die Zeit passenden Übersensibilität sind, die sich Metzger vermutlich nur als übertriebene Reaktionsbewegung auf den Holocaust erklären kann.

Die Deutschen können nur übertreiben, einmal Brutalinskis, dann pazifistische Heulsusen. Gottlob gibt es deutschenfreundliche Oberrabbiner wie Yoan Metzger, die haltlosen Eingeborenen das rechte aristotelische, pardon, talmudische Maß beibringen können und kleine Knäblein von einem unnatürlichen Häutchen befreien wollen, mit dem echte Männer ohnehin nichts anzufangen wissen. Ein natürlicher Penis ist ein natürlich beschnittener Penis.

Kurz: Die Verhandlungen ideologiefreier Religionsvertreter mit der nach allen Seiten offenen Bundesregierung über zukünftige weinbetäubte Beschneidungen mit naturidentischen Steinzeitwerkzeugen gehen ihren erfreulichen Gang.

Das macht den Reiz säkularer Staaten aus. Liest man deren säkulare Gazetten, liest man Religiöses in allen Variationen und pittoresquen Färbungen. Man könnte den Verdacht hegen, Religion mache erst in einem weltlichen Staat richtig Spaß.

Wenn zur Religion niemand mehr gezwungen wird, kann sie ihrem Namen „Frohe Botschaft“ zum ersten Mal in ihrer Geschichte alle Ehre machen. Froh zu sein, bedarf es wenig und wer froh ist, ist ein überzeugter homo erectus orans und laborans, genau das, was der arbeitsame Kapitalismus zur reibungsfreien Profitvermehrung benötigt.

Versteht sich, dass nur diejenigen froh sein können, die nicht verdammt werden. Versteht sich auch, dass niemand sich mehr grämt über die Verdammten als diejenigen, die verdammen müssen. Weiß jemand, was ein bekenntnisorientierter Unterricht ist?

Siehste, wieder nicht in Religion aufgepasst. Religion ist jenes artengeschützte Fach, wo alle schlafen, nur einer macht rotzfreche Bemerkungen und der kriegt aus Dankbarkeit die Eins – und studiert später Theologie. Oder er retardiert und wird Profi-Agnostiker.

Im Zuge der Gleichheit wird nun in NRW bekenntnisorientierter Islam-Unterricht eingeführt. Natürlich zu Recht, warum sollen nur christliche und jüdische Kinder unter der geistlichen Rute leiden? Auch das entspricht dem Grundsatz der hierzulande herrschenden Wirtschaftsform: Leid wird verallgemeinert oder sozialisiert, Freude und Wohlbehagen privatisiert und individualisiert.

Irgendwie muss man den Segen der kreativen Ungleichheit unters Volk bringen. Im Himmel gibt’s schließlich auch keine Gleichheit. Die Einen sitzen dem Herrn zur Rechten, die andern zur Linken. Und in der Hölle erst!

Nach Dante – der als erster Reporter frei im Zielgebiet recherchieren durfte – soll‘s mindestens neun höllische Abteilungen geben. Weitere Anbauten sollen erst finanziert werden, wenn qualitativ bessere Folter- und Quälmethoden mit Hilfe fortschrittlicher Wissenschaften wie Stresspsychologie oder grenzüberschreitender Gehirnforschung entwickelt worden sind.

Die Amerikaner haben auf diesem Gebiet in Guantanamo schon Erfreuliches geleistet. Selbst bei Laien – überbelasteten Vätern, Kinderärzten oder Psychiatern in geschlossenen Abteilungen – setzt sich Waterboarding in Serienentwicklung immer mehr durch.

Pascal Beucker nutzt die Gelegenheit in der TAZ, um die Abschaffung allen bekenntnisorientierten Religionsunterrichts zu fordern. Er vertrüge sich nicht mit einer säkularen Gesellschaft, in der rund ein Viertel der Menschen ohne Glauben sei.

Eben drum muss doch der Bekenntnisunterricht verstärkt werden: es gibt viel zu wenige Menschen in dieser Gesellschaft, die mit religiösen Werten die Reste unserer Demokratie zusammenhalten.

 

Christian Füller hat sich Verdienste erworben in der Aufklärung sexueller Gewalt bei Abhängigen, besonders in pädagogischen Eliteschmieden wie der Odenwaldschule. Nach jeder aufgedeckten Tat gäbe es eine große Entrüstung über die Aufklärer, nicht über die Täter, die zumeist verdiente Trainer, sympathische Vertrauenslehrer oder sonstige verdiente Pädagogen seien.

Die stärkste Lobby der Täter sei zumeist ihr Umfeld, das fast immer auf deren Seite sei: „Was, dieser Mann soll…? Völlig unmöglich, der Mann war vorbildlich und engagiert!“

Merkwürdigerweise gibt’s in Deutschland nur männliche, in Amerika nur weibliche TäterInnen, die sich an ihren Schützlingen vergreifen. Oder wird es hierzulande gar nicht als Delikt angesehen, wenn Frauen Minderjährige verführen?

Bislang galt es als unwahrscheinlich, dass Mütter sich inzestuös verhalten könnten. Allmählich kommt ans Licht, dass nach diesem Phänomen gar nicht geforscht wurde, weil man es für unmöglich hielt. Doch je mehr der Schleier fällt, umso mehr wächst die Zahl triebgesteuerter Mütter.

Beim Thema eheliche Gewalt nicht anders. Allmählich zeigt es sich, dass auch Männer von ihren Frauen geschlagen werden, und dies immer öfter. Traditionell hat man Frauen in Heilige und Huren eingeteilt, die eigenen Frauen waren stets die Heiligen.

Füller konstatiert, dass bei sexuellen Delikten die Opfer zumeist ein zweites Mal attackiert werden. Nämlich dann, wenn sie Solidarität – mit den Tätern erlebten. Es ginge bei all diesen Fällen im pädagogischen Nahbereich nicht nur um Befriedigung. Unter dem Deckmantel „liebster und bester Absichten“ ginge es um die Exekution von Macht.

Die von Füller erhobenen Tatsachen werden richtig sein. Seine Analyse indes bleibt unvollständig. In der Verbindung von Macht & Sexualität kann man entweder a) alle sexuellen Handlungen strikt verbieten, oder b) die Macht abschaffen. Reine Verbotsmaßnahmen bleiben ein ewiges Haschen nach Wind.

Füller hält den pädagogischen Eros offenbar für die Erfindung des Teufels, der seine Umtriebe in Sakristeien, Turnvereinen und Schulen gesinnungsmäßig bemänteln muss. Dann hätten die Griechen etwas in die Welt gesetzt, was nur bei lüsternen Heiden möglich war.

Das ist aberwitzig und fällt unter die Rubrik: drückt bei der altgriechischen Kultur auf sämtliche Löschtasten: wir beziehen unsere hehren Prinzipien allesamt aus dem Umfeld reiner und unbefleckter Religionen.

Mit diesem Wüten gegen die Macht des Eros im Geist neuer Kirchenväterchen, mit Drohungen und Kontrolle, werden wir nur stets neue Fälle von Missbrauch hervorrufen. Die ganze Verdammung des Sex durch abendländische Verfluchungsprediger hat die Europäer in zwei Jahrtausenden nicht dazu gebracht, ihre Triebe ad acta zu legen.

Es ist eine Double Bind-Situation der Gesellschaft: ungerührt der fortschreitenden Sexualisierung der Jugend zuzuschauen, gleichzeitig alle Bedürfnisse, die sich bei menschlicher Nähe fast zwangsläufig einstellen, mit verschärften Verboten und moralischen Drohgebärden zu belegen. Damit erhöht man nur das Klima der Angst und der Verdächtigungen.

Man erinnere sich der entsprechenden Vorgänge an amerikanischen Schulen, als beim ersten Rückschlag gegen die freizügige Hippiebewegung jeder Lehrer die Tür seines Gesprächszimmers offen hielt, damit die Redenden von der vorbeimarschierenden community observiert werden konnten.

Die von Füller aufgefahrenen Drohkulissen, denen niemand aus Angst vor Verdächtigungen zu widersprechen wagt, werden in amerikanisierten Schreckensszenarien enden. Kontrolle, Kontrolle, jeder ist ein potentieller Verbrecher. In Amerika die Frauen, in Deutschland die Männer.

Dabei gibt es eine viel sinnvollere, ja die einzig humane Alternative: das Ausschalten der Macht. Verbunden mit konsequenter Erziehung der Jugendlichen zu mündigen Jungen und Mädchen, die sich ihre libidinösen Partner selbst auswählen.

Die Schule als schicksalsentscheidende Machtinstitution muss zerschlagen werden. Pädagogen sollen Kinder bei der Suche nach ihren individuellen Fähigkeiten fördern und ermutigen. Und nicht per Dauerzensuren und Beurteilungsgewalt einschüchtern und ihr fragiles Selbstbewusstsein frühzeitig brechen.

Nur so können freie Menschen freien Menschen gegenüberstehen, die über Gefühle und Bedürfnisse autonom entscheiden. Nicht der eingeschüchterte Lehrer, sondern das angstfreie Kind, der selbstbewusste Heranwachsende, die selbstsichere Elevin werden fähig sein, den Machtmissbrauch im Keim zu ersticken.

Sex mit einer 16-Jährigen soll per se eine Untat sein – wie Füller andeutet –, selbst wenn die 16-Jährige eine kühne und selbstbewusste Amazonin wäre? Das berühmteste Vor- und Urbild aller liebenden Frauen in der europäischen Literatur war Julia – eine Zwölfjährige (manche sagen eine 14-Jährige).

(Christian Füller in der TAZ: Wir, das Täterumfeld)

Es besteht der dringende Verdacht, dass die Verschulungsmaschinerien der Gesellschaft ein unabdingbarer Bestandteil unserer sinnenfeindlichen und außengesteuerten Wirtschaftswelt sein müssen. Würde man die lächerlichen Drillanstalten ersatzlos zerschlagen, könnte sich das Ausgebranntsein, die wachsende Zahl psychogener Erkrankungen keinen Tag länger durchhalten.

Geistig und sinnlich allseitig entwickelte Menschen sind inkompatibel mit der Idiotie des nackten Übertrumpfens, Beschämens und Zensiertwerdens.

 

Übrigens, unter den Gehirnforschern gibt’s auch ganz andere. Einer davon ist Gerald Hüther, der im SPIEGEL ein gewaltiges Plädoyer für das Genie jedes Kindes hält.

Die Schule sei eine Erbsensortieranlage, Begabung werde mit guten Noten verwechselt, kognitive Fähigkeiten stünden einseitig im Mittelpunkt.

Wichtig sei das eigene leidenschaftliche Entdecken der eigenen Fähigkeiten beim Tüfteln und Ausprobieren.

Teamfähigkeit komme in der Schule zu kurz. Jedes Gehirn entwickle sich, wie es mit Begeisterung in Gang gesetzt werde. Der Frontalunterricht müsse abgeschafft werden.

Nur an einem Punkt geht Hüther in die Irre. Die Lehrer, sagt er, könnten nichts dafür, dass die Schule zu der heutigen Drillkaserne verkommen sei.

Doch, auch sie können dafür. Vielleicht sogar am meisten. Würden sie sich weigern, die geistigen Kinderverkrümmungsanstalten zu bedienen, wäre die Schule als neoliberales Propädeutikum tot.

Über sexuelle Schändungen und pädagogischen Eros spricht Hüther nicht.

(Spiegel-Interview von Christian Bleher mit dem Hirnforscher Gerald Hüther)

„Die Frage ist nicht, wie lange jemand lernt, sondern was. Und ob er dabei die Lust aufs Weiterlernen nicht verliert.“

Fragt sich nur, ob Hüther seine klugen Sätze der Hirnforschung entnommen – oder in sie hineinprojiziert hat.