Kategorien
Tagesmail

Mittwoch, 21. November 2012 – Sklaverei

Hello, Freunde der harmonischen Dienstgemeinschaft,

die bayerische, mit dem Derben, Schlitzohrigen bis Hinterfotzigen kokettierende Mundartformel: Hund samma, hat mit Dieter Hundt, dem Präsidenten der Deutschen Arbeitgeberverbände nichts zum dua. Hundt will die üppig bemessene Elternzeit von drei Jahren auf ein Jahr reduzieren. Das ist doch nicht hinterfotzig, schließlich ist Hundt ein Freund arbeitswilliger, in der privaten Heimchenöde verkümmerter Frauen, die erst im Kapitalismus rote Backen kriegen und vor Selbstbewusstsein strotzend abends nach Hause kommen, um mit ihren glücklich von der Kita heimkehrenden Kindern unbeschwert herumzutollen.

Seine beiden Kinder hat er vermutlich von seiner Frau erziehen lassen, die er dafür großzügig entlohnt hat. Diese Praxis nennt man hierzulande christliche Ehe. In besseren Kreisen fallen Kinder ihren Erziehungspflichtigen etwa 10 bis 14 Jahre zur Last. Dann verschwinden sie in Internaten, ausländischen Eliteuniversitäten und kommen erst als fertige Menschen- und Unternehmensführer zurück, um den Familienbetrieb oder sonstwie Verantwortung in der Industrie zu übernehmen.

Inspiriert vom gestrigen Urteil zugunsten der Kirche gegen die Gewerkschaft Verdi, plant Hundt etwas schlechthin Geniales, das alle schädlichen Arbeitskämpfe in Zukunft verhindern wird. Alle kapitalistischen Betriebe sollen ab sofort in konsens-orientierte christliche Dienstgemeinschaften umgewandelt werden. Der Gemeinschaft muss wieder gedient werden dürfen, ohne gleich nach übermäßigen Löhnen zu rufen.

Damit die Dienstklasse nicht leitungslos umherirrt, will Hundt für eine konsens-orientierte Herrenklasse sorgen, die aus guten Familien kommt, sich

zu benehmen weiß und von den Nöten und Sorgen der Dienenden schon mal gehört hat. Was sich von selbst versteht: die Dienerschaft bleibt gegenüber den Herren „in einer deutlich unterlegenen Position.“

„Ihr Sklaven, seid in allen Dingen euren leiblichen Herren gehorsam, nicht mit Augendienereien wie Leute, die den Menschen gefallen wollen, sondern in Aufrichtigkeit des Herzens, weil ihr den Herrn fürchtet! Was immer ihr tut, daran arbeitet ihr für den Herrn und nicht für Menschen.“

Kirchen dürfen über sich selbst bestimmen, indem sie über eine Million Abhängiger bestimmen. Der dritte Weg steht nun der Gewerkschaft offen, alle anderen Wege sind nur für Heiden und Gottlose. Verdi traut sich nicht, fundamental gegen Gottes Stellvertreter anzurennen. Spätestens in Karlsruhe würde Bsirske vom heiligen Drachen Michael mit der Binde über den Augen besiegt werden.

Hundt ist optimistisch, dass es gelingen wird, dem leuchtenden Vorbild der Kirche zu folgen. Der dritte Weg muss der einzige und alleinseligmachende werden. Der nächste operative Schritt der konsens-orientierten Werteschöpfer liegt ausgearbeitet schon in der Schublade. Ab dann wird die neue Dienstschicht um Gotteslohn dienen dürfen. Schließlich sollen sie nicht für Menschen, sondern für den Herrn malochen.

Nein, wir haben keine Arbeitssklaven. Wir haben Hartz4-Menschen, die wegen verwahrloster Arbeitsverweigerung bestraft werden müssen. In mehr als einer Million Fällen innerhalb eines Jahres. Durchschnittlich wurden die staatlichen Zuwendungen der Renitenten um 106 Euro gekürzt. Bei einem Monatssatz von 374 Euro ist das nach Adam Riese fast ein Drittel.

Die paulinische Drohung ist somit Wirklichkeit geworden: wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen. Selbstredend fragt niemand nach dem Grund der Abwesenheit bei den Vorladungsunwilligen. Erwachsene Menschen müssen gebeugt werden, damit sie spuren.

 

Nach Aristoteles ist ein Sklave ein beseeltes Werkzeug. Das ist immerhin über dem Status moderner Lohnabhängiger, deren Seelen niemanden kümmern. In der Sklavenfrage war Aristoteles schrecklich reaktionär. Typisch für seine Zeit ist er nicht, schon längst war die Menschenrechtsbewegung aufgekommen, die dem großen Schüler Platons heftig widersprach.

Nehmen wir das Urteil von Theodor Gomperz, der über die aristotelische Haltung in Sklavenfragen geradezu empört ist. Wie konnte ein solch riesiger Denker und Gelehrter in diesen Menschheitsfragen einem derart „ungeheuerlichen Irrtum“ erliegen: „Dieser ist um so denkwürdiger, da die Berechtigung der Sklaverei längst angefochten und die Frage, ob diese Institution auf natürlichem Recht oder auf bloßer Satzung und Willkür beruhe, in den Philosophenschulen und selbst auf der Bühne bereits vielfach verhandelt war.“

Für Aristoteles war die Jagd nach Sklaven eine Unterart der Jagd. Man erbeutet Sklaven wie wilde Tiere, die man allerdings im Käfig pfleglich behandeln muss.

Es gibt von Natur aus zweierlei Menschen. Diejenigen, die von Natur aus zum Herrschen und diejenigen, die zum Dienen bestimmt sind, obgleich sie dieser Bestimmung widerstreben. Doch Beherrschtwerden ist für sie kein Unglück. Im Gegenteil, die Unterjochung gereicht ihnen zum Segen.

Es ist dieselbe Argumentation wie bei seinem Lehrer Platon. Die meisten Menschen sind zur glücklichen Lebensgestaltung nicht fähig, zu ihrem Wohl müssen sie gezwungen werden. Zwangsbeglückung im perfekten Staat war der Kern des platonischen Urfaschismus.

Bei Aristoteles gibt es freie und knechtische Menschen. Die Freien sind die Griechen, die Knechte die Barbaren der restlichen Welt. „Barbarentum und Sklaventum sind von Natur identisch.“ Die gesamte Menschheit, mit Ausnahme der Griechen, soll zur ewigen Knechtschaft bestimmt sein. „Uns versetzt dieser Ausspruch in starres Staunen“, so Gomperz.

Nach Aristoteles sind die Völker des Nordens voller Kühnheit, ermangeln aber der Intelligenz und der Kunstfertigkeit und sind zu Einrichtung guter Staaten und zur Beherrschung ihrer Nachbarn nicht fähig. (Die Kluft zwischen dem nördlichen Europa und Griechenland gab‘s schon damals.) Die orientalischen Menschen hingegen sind intelligent und kunstfertig, doch ihnen fehlt‘s an Tapferkeit.

Allein die Griechen sind ein Volk der Mitte und vereinigen alle positiven Talente der anderen Völker ohne deren Nachteile. Nur der Grieche ist „zugleich mannhaft und zum Denken befähigt. Darum hat er seine Freiheit bewahrt, besitzt die besten Staatseinrichtungen und kann, wenn er einer einheitlichen Verfassung teilhaftig wäre, über alle herrschen.“

Heute macht man es sich leicht und reduziert das ganze politische Griechentum auf die Sklavenfrage. Nicht nur die Amerikaner, die von den Griechen nichts wissen wollen, damit sie und ihr Gott die Demokratie und Freiheit erfunden haben können, auch der Feminismus und alle christogenen Bewegungen behandeln die Griechen, als seien sie allesamt wüste Sklaventreiber gewesen.

Die Marxisten sprechen unisono von Sklavenhaltergesellschaft, als ob das Naturrecht der Gleichheit nicht schon damals entstanden wäre. Von zeitlosen Natur- und Menschenrechten halten Marxisten nichts. Sie können auch nicht erklären, wie in einer Sklavenhaltergesellschaft die universelle Moral entstehen konnte. Das widerspräche vollständig ihrem Satz: Das Sein bestimmt das Bewusstsein.

Die Sophisten hatten zu wenig Marx gelesen und dachten gar nicht daran, ihr vor Intelligenz und vor Menschlichkeit sprühendes Bewusstsein von irgendeinem Sein bestimmen zu lassen. Im Gegenteil, sie waren herumwandernde Widerleger der Marx‘schen These und bewiesen, dass vernünftiges Denken die Realität verändern konnte. In einer derart durchschlagenden Art und Weise, dass wir 2500 Jahre danach noch immer vom philosophischen Bewusstsein der Griechen profitieren.

Auch das Entstehen der griechischen Kunst konnte Marx nicht erklären. Er bewunderte das Schöne, die Tragödien und Komödien – die er in- und auswendig kannte und auf Spaziergängen deklamierte –, doch der Frage wich er aus: wie konnten diese unerreichbaren Produkte des Bewusstseins in einer Sklavenhaltergesellschaft entstehen?

Hegels dialektische Fortschrittsspiralen hatten dasselbe Problem. Der junge Hegel war ein glühender Bewunderer und scharfer Kritiker des Christentums gewesen. Wer seine – damals nicht veröffentlichten – Jugendwerke liest, die an Schärfe und Klarheit Nietzsches Antichrist übertreffen, kann sich nur wundern, dass derselbe Mann einige Jahre später das Christentum für die Spitze des abendländischen Geistes halten konnte.

Die Hegelsche Wendung um fast 180 Grad wurde zu einer typischen Entwicklung vieler deutscher Jünglinge und Denker. Was sie in der Jugend denken, legen sie an der Schwelle des Erwachsenendaseins ab und behaupten für den Rest ihres Lebens das Gegenteil. Man könnte vom deutschen Biografieknick sprechen, um zu verstehen, warum sie sich einerseits gern aufrecht, ja revolutionär geben, andererseits jedem Trend hinterherlaufen.

Die Wendung bei Hegel war für ihn eine große Krise. Bei seinen deutschen Epigonen genügt eine von Vatern finanzierte Weltreise direkt nach dem Abitur und der neue Wertschöpfer steht alsbald braungebrannt vor der Tür.

Doch so ganz ungerupft kam das Christentum bei Hegel nicht davon. Sein Wappen war die lutherische Rose im Kreuz, doch das Kreuz war keine schwärmerisch jenseitige Angelegenheit mehr. Der Endpunkt der Entwicklung war hienieden. Das war schon die Vorwegnahme der amerikanischen Himmelsheimholung auf Erden. Gottes eigenes Land war bei Hegel Preußen und die Hitlerianer hatten keine Probleme, das 1000-jährige Reich in der Mitte Europas zu installieren.

Wie begründete Hegel seinen Sinneswandel, indem er das bewunderte Griechenland dem anfänglich gehassten Christentum unterordnete? Sein Geschichtsmodell war eine nach oben gerichtete Fortschrittsspirale. Nach rückwärts nimmer, nach vorne immer. „Die Weltgeschichte ist der Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit – ein Fortschritt, den wir in seiner Notwendigkeit zu erkennen haben.“

Zu erkennen, nicht mehr. Und sich danach richten. Selbständig zum Fortschritt beitragen – das gibt’s nicht. Geschichte lässt sich von Menschen nicht dreinreden. Wir können nur schauen und hinterherlaufen.

Berühmt ist sein Satz: „Um noch über das Belehren, wie die Welt sein soll, ein Wort zu sagen, so kommt dazu ohnehin die Philosophie immer zu spät. Als der Gedanke der Welt erscheint sie erst in der Zeit, nachdem die Wirklichkeit ihren Bildungsprozess vollendet und sich fertig gemacht hat. … Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau lässt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.“

Nach eschatologischem Licht klingt das nicht. Immerhin befinden wir uns auf der Zielgerade der Menschheit. Über dieses Kapitel sprechen die Hegelianer nicht gern. Einerseits allezeit Forschritt, am Ende aber kommt die Dämmerung.

Die Aufklärer hatten sich als Lichtbringer bezeichnet. Hallo, was haben wir da für ein seltsames Phänomen? Das kann man nicht mit dem Hinweis erklären, dass Hegel als junger Stiftschüler schon als alter Mann bezeichnet wurde und er deshalb seine ach so optimistische Fortschrittsgeschichte in der Dämmerung des Alters hat enden lassen. Zum Finale hat er sich nicht geäußert. So wenig wie sein Schüler Marx, der im Reich der Freiheit nur zu jeder Tageszeit fischen wollte.

Alles drängte dem Ende entgegen, doch das Ende blieb dunkel und stumm. Das ist wie Freuds Zielgehemmtheit. Man nimmt sich etwas vor, investiert alle Energie, steht kurz vor der Erfüllung – und alles aus. Es ist wie Lust- und Paradiesverbot. Endlich hat man die Schöne im Bett – und nichts regt sich.

Unterwegs sein ist alles, das Ziel ist nichts. Wir haben auf Erden keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.

Das Lustverbot hat theologische Gründe. Die Verheißung der Wiederkunft durch den Herrn, der sein Wort partout nicht einhält, muss durch seine Gläubigen stellvertretend erfüllt werden: die Fortschrittsspirale wird mit aller Energie verfolgt. Doch kurz vor knapp entsteht das Gefühl hybrider Schuld. Dürfen wir das unvollendete Werk des Messias in menschlicher Eigenmächtigkeit vollenden?

Plötzlich bricht die ganze aufwärts gerichtete Energie zusammen. Ihr ganzes Werk müssen sie im Stich lassen und auf den Erlöser Himself warten.

Bei den Nationalsozialisten wär das auch nicht anders geworden, wäre da nicht die ungeheure Wut und Kränkung durch die Niederlage im Ersten Weltkrieg und der Versailler Demütigungsvertrag gewesen. Der heilige Zorn katapultierte die Neugermanen durch die Eingangspforte ins Dritte Reich hinein, ins Innere des Endziels.

Bei Hitler war dieses Zögern und Zaudern oft zu beobachten. Diese Frage an das Schicksal: sind wir es tatsächlich, die berufen sind, das Endspiel zu gewinnen? Sind wir dieser Auszeichnung gewachsen, haben wir sie verdient, sind wir ihrer würdig? Noch in den letzten Tagen vor der absoluten Niederlage phantasierten Goebbels und Hitler von einer entscheidenden Schicksalswende durch Roosevelts Tod.

Die deutschen Macher waren gehorsame Geschichtsdeuter und devote Vollstrecker eines stets zu entschlüsselnden Vorsehungswillens. Ohne Rapport mit der Vorsehung – nachdem der Rapport mit dem unfähigen deutschen Volk zerstört war – ging beim Liebling der Vorsehung nichts.

Die Deutschen waren unbändig stolz darauf, als erste Nation der Weltgeschichte (die Amerikaner zählten nicht, sie hatten Gottes eigenes Land als Geschenk erhalten) aus eigenen Kräften das eschatologische Reich betreten zu haben. Doch der Führer benötigte stets die transzendente Rückversicherung, das Zeichen von oben: du bist mein lieber Sohn, an dem ich mein Wohlgefallen habe.

Hegels Umwertung aller Werte – das Christentum hat den Sieg über die Griechen zu Recht verdient – erklärte er mit dem lapidaren Satz, „die Orientalen hätten gewusst, dass Einer frei sei“ (der König, Kaiser oder Despot). Die griechische und römische Welt hätten gewusst, dass einige frei seien – die Bürger der Republik, nicht die Sklaven. Doch erst wir wüssten – durch das Christentum –, dass „alle Menschen an sich, das heißt, der Mensch als Mensch“ frei sei. Und diese Einteilung bestimme den Fortlauf der Geschichte.

Marx musste den ideellen Weltgeist nur umtaufen in materielle Verhältnisse, die von nun an die Regie führten. Das Hinterdreinlaufen des Menschen hinter den Triebkräften der Geschichte blieb gleich. Bis heute hat sich diese Duckmäuserei vor angeblich höheren Mächten nicht geändert. Der Deutsche ist wie Robert Guck in die Luft, um die Zeichen zu sehen, die von den Bergen kommen.

Hegels gigantische Fehldeutung bestand darin, dass er den Griechen die Freiheit und Gleichheit aller Menschen wegnahm und dem christlichen Dogma imputierte. Mit diesem Raub der humanen Freiheitsfackel aus dem Tempel der Griechen hatte Hegel der deutschen Gräcomanie das Sterbeglöcklein geläutet. Ab der Romantik – obgleich Hegel scharfer Kritiker der Romantiker war, blieb er selbst einer, des Glaubens, die Aufklärung Kants überwunden zu haben – hatten die deutschen Ehrgeizlinge keine Lust mehr, immer nur Lernende der Griechen zu sein. Sie wollten sie übertrumpfen, auf allen Gebieten überflügeln.

Das gelang nur mit der absurden kollektiven Fehleinschätzung, dass sie die griechischen Lehrmeister überwunden hätten. Noch heute lügen die Deutschen sich in die Tasche, sie könnten auf die Alten verzichten, wenn sie nur geflissentlich das Neue anbeteten.

Indem Hegel eine starre lineare Zeitachse konstruierte, wollte er einen Rückfall in frühere Zeiten verhindern. Seit Hegel glauben wir, von früheren Epochen nichts mehr lernen zu müssen. Dies wäre ein illusionärer Wunsch, in die Vergangenheit zurückzukehren. Frühere Zeiten ließen sich nicht mehr herstellen. Aus der Geschichte lernt man nichts, deklarierte der Schwabe.

Lernt man nichts aus der Geschichte, lernt man überhaupt nichts. Nur aus dem Verflossenen kann man seine Schlüsse ziehen. Nur aus seiner durchsichtigen Biografie kann der Mensch lernen. Nur aus ihrer durchsichtigen Geschichte kann die Menschheit ihre Schlüsse ziehen.

Schon bei den Aufklärern hatte die Abwendung von der Geschichte begonnen. Bei Hegel gab‘s nur noch ein Vorwärts in die Zukunft, die Vergangenheit war Grau in Grau. Doch Hegels Zukunft war ein Vorwärts in die Dämmerung.

Erst die blonden Bestien verbannten die Dämmerung und torkelten in messianischer Besoffenheit in das lichtdurchflutete 1000-jährige Reich. Ab jetzt sollte, wie in der Offenbarung des Johannes, die Sonne nie untergehen.

Dieses lineare Zeitgerippe stracks aufwärts müssen wir zerschlagen. Es gibt keine gottgewollte Spirale mit dem Verbot, aus der Geschichte zu lernen. Erkenntnisse veralten nicht, Weisheiten werden nicht ranzig. Wir müssen überall lernen, in allen Zeiten, in allen Kulturen. Alles andere wäre hirnverbrannt. Da könnten wir gleich alle Bibliotheken verbrennen, wenn wir sie nicht zur Erkenntnisérweiterung benutzten.

Sollen wir uns freiwillig die Hälfte des Gehirns amputieren, um den Erkenntnisschatz der Menschheit zu verschmähen? Ebenso gut könnten wir uns die Haxen brechen, damit wir beim Wettrennen verlieren.

Sind wir weiter gekommen als die Griechen? Nicht mal in der Sklavenfrage – wenn wir mit Aristoteles die Erwerbsarbeit als begrenzte Sklaverei definieren. Alles, was nicht aus absoluter Freiheit geschieht, ist unfrei, sagte der Stagirite. Zur Unfreiheit gehört der Zwang, zu arbeiten, um sich zu ernähren.

Wenn diese Definition stimmte, lebten wir heute in einem Stadium verschärfter Sklaverei.

Nur Muße war freiheits-verträglich. Nur in Muße kann ich dem folgen, was mir wirklich entspricht, ohne dass der Zwang der Erwerbsarbeit auf mir liegt. Das war ein elitärer Freiheitsbegriff, der die eigene Tätigkeit in Muße absetzen musste von banausischer Erwerbsarbeit. Banausen waren Menschen, die zum Arbeiten gezwungen waren, um nicht zu verhungern.

Der Mußebegriff des Aristoteles war ein Verrat an der Hesiod‘schen Preisung der harten körperlichen Arbeit, in der der Bauer seine Kräfte beweisen und stolz darauf sein konnte, unabhängig und frei sein Leben zu gestalten. In Bolivien gestalten die Indios die notwendige Arbeit als gemeinsame Feier.

Bei dem aristokratischen Denker beginnen die Probleme wie heute in jeder deutschen Studenten-WG: wer macht die niedrigen, wer die angenehmeren Arbeiten? Da will einer etwas Besseres sein, indem er sich am Putzen der Küche nicht beteiligt.

Eine Elite, die sich vor notwendigen Arbeiten drückt, braucht Diener, Sklaven, die die verschmähte Arbeit leisten, damit die Besseren ihrer edlen Beschäftigung nachgehen können. Demokratisch ist das nicht. Notwendige Arbeit und selbstgewählte Muße dürfen nicht schichtenmäßig aufgeteilt werden. Jeder hat seine Pflicht zu erledigen, damit er frei ist für seine Kür.

Wenn Arbeit nicht als Strafe Gottes definiert wird, muss sie auch nicht als entfremdet und minderwertig empfunden werden. Andere Nationen singen beim gemeinsamen Säen und Ernten. Arbeiten und körperliches Bemühen ist für sie ebenso libidinös wie abendliches Tanzen, Singen und Schwatzen auf dem Dorfplatz.

Selbstbestimmte Arbeit ist nicht minderwertiger als freie Muße. Jedes Zoon politicon hat ein Anrecht darauf, kollektiv benötigt zu werden und sich seinen individuellen Lieblingsbeschäftigungen zu widmen.

Im Kapitalismus sind alle diese Dinge unmöglich. Die Niedrigen müssen malochen, die Vornehmen gehen ihrem Müßiggang nach, den sie Vollzeitbeschäftigung nennen. Seine Muße nutzte Aristoteles, um das gelehrteste Werk aller Zeiten zu verfassen. Muße war für ihn kein Müßiggang.

Bei aller elitären Arroganz war Aristoteles dennoch vom neuen Geist des beginnenden Menschenrechtsgeistes angesteckt. Obgleich er ursprünglich die Möglichkeit ausschloss, dass zwischen Sklave und Herr ein Freundschaftsverhältnis möglich sei, rang er sich schließlich zur Erkenntnis durch:

„Scheint doch zwischen zwei Menschen, sobald sie beide an Gesetz und Vertrag teilnehmen können, niemals volle Rechtlosigkeit zu bestehen, und so kann denn der Sklave, insofern er Mensch ist, auch an der Freundschaft Anteil haben.“

Gibt es in der Gegenwart Freundschaft zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer? Aristoteles hätte unsere fortgeschrittene Zeit für sklavischer gehalten als die damalige Sklavenhalter-Polis in Athen. Waren doch seine Banausen selbständige Handwerker, keine Lohnabhängigen. Fabriken gab es zwar, doch dort waren vor allem Sklaven beschäftigt.

Im Kapitalismus gibt es keine Freundschaft. Weder unter den Verlierern, noch unter den Siegern des Rattenrennens.

Das heutige Sklavendasein ist noch verhärteter als das antike: Es bildet sich ein, frei zu sein.