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Mittwoch, 17. Oktober 2012 – Gumbrechts Pessimismus

Hello, Freunde des Sparens,

Sparen ist nicht Horten. Es könnte aber dazu werden, wenn der Sparstrumpf immer mehr anschwillt, ohne dass er hin und wieder entleert werden kann. Merkels Vorbild ist die schwäbische Hausfrau, die angebliche Weltmeisterin im Sparen.

Es soll allerdings schon virtuose Sparer gegeben haben, die waren Millionäre, als sie das Zeitliche segneten und niemand hatte es bemerkt. Sie lebten unauffällig wie du und ich und häuften Summen an, mit denen sie nichts anzufangen wussten. Doch so horten-affin ist die schwäbische Hausfrau nun auch wieder nicht.

Man sollte gelegentlich Originalquellen studieren, um die Genialsten unter den Deutschen besser kennen zu lernen. Der Schelling, der Hegel, der Schiller und der Hauff, die sind bei uns die Regel, die fallen in Schwaben gar nicht auf.

Natürlich kommt keine einzige Frau vor, dabei ist die schwäbische Hausfrau wirtschaftsnobelpreisverdächtig. Bitte im Chor mitsingen:

Schaffe, schaffe, Häusle baue,

Und net nach de Mädle schaue,

Und wenn die Villa steht,

Dann gibt’s noch lang kei Ruh,

Ja, da spare mir, ja da spare mir,

Für eh Mercedes und eh Kuh – und dann die ewge Ruh, Amen.

Oder so ähnlich. Das ist ja nicht der Song einer schwäbischen Gassenkehr-Lady, sondern eines Mannes. Wer sonst schaut sich nach Mädle um?

Wüssten wir nicht haargenau, dass der Kapitalismus in Schottland als calvinistischer Nessi aus Loch Ness gekrochen kam, müssten wir die pietistischen Schwaben verdächtigen. Denn den basso continuo des ruhelosen Sammelns, Hortens haben die Schwaben auch auswendig gekannt. Immer unterwegs, um die Zeit auszukaufen und hübsch knausrig sein: Mir gäbet nix.

Das ursprüngliche Sparen ist nicht dasselbe wie Akkumulation. Im schwäbisch-autarken Dorf hat sich die Trennung von Besitzern und Nichtbesitzern noch nicht eingestellt.

Akkumulieren liegt vor, wenn Besitzer immer mehr und Nichtbesitzer immer weniger haben. Also das Matthäus-Theorem: wer hat, dem wird gegeben, wer nichts hat, dem wird genommen, was er hat. Akkumulare heißt anhäufen. Anhäufen können sich nur Leute leisten, die nicht aus der Hand in den Mund leben.

Nebenbei muss auch mal angemerkt werden, dass Marx mit seinem komplizierten Wissenschaftsjargon nicht nur für Aufklärung, sondern auch für langfristige Verdummung unter den Proleten gesorgt hat. Linke betrachten Marx-Schriften wie Christen die Heilige Schrift. Dort wird schon alles richtig stehen und unsere Hohenpriester kennen sich aus, sagen sich malochende Kleingeister – im selben blinden Geist wie Großmütterlein, das bei schwierigen Fragen des naseweisen Enkels auf den Pastor verweist: frag den Pfarrer, Kind, der weiß es besser als ich.

Marx wollte der Newton der Geschichtsgesetze sein. Also musste er den hochgestochenen Jargon der Naturwissenschaftler imitieren, um sich Respekt vor Insidern zu verschaffen. Das gelang ihm derart gut, dass vor wenigen Dekaden die Hälfte der Welt Marx zitierte, obwohl kaum jemand die deutschen Urschriften entziffern konnte. Vermutliche nach dem Motto: was ich nicht verstehe, muss richtig sein.

Die ersten Proleten waren noch vorbildlich neugierig und büffelten wie die Teufel, um die Klassenfeinde auch mental zu besiegen. Doch kaum waren die ersten Nöte vorüber, die ersten Aufsteiger der arbeitenden Klasse in den getäfelten Salons angekommen, war‘s aus mit dem Lernen. Die etablierte Partei imitierte den Gegner und organisierte sich hierarchisch wie Krupp und Flick – und die Genossen lernten Solidaritätsgehorsam gegenüber Parteiobmännern wie Lutheraner die Untertänigkeit unter Fürsten.

Die SPD ist kein schwer manövrierbarer Tanker, wie Peter Glotz noch heroisch-lamentierend formulierte. Es gibt kaum einen Schrott der Schröder & Co, den die anerkennungssüchtige Partei bisher nicht absegnet hätte. Ohne Mithilfe der SPD und der Gewerkschaften hätte es keinen Einbruch der Heuschrecken gegeben, pardon, liebe Heuschrecken.

Inzwischen gibt’s kein Basislernen in den Ortsvereinen mehr, keine Debattenkultur, sondern heiligmäßige Inthronisierungsreden. Die Kanzelrhetorik hat die Partei genauso erfasst wie alle anderen Parteien, der Anteil an Pastoren war bei den Postproleten meistens höher als bei den Profichristen.

Hält Steinbrück seine Bewerbungsrede, kann man in Phönix beobachten, wie gebannt das Fußvolk dem Kandidaten lauscht, ob er der richtige Offenbarungsträger ist oder ob sie eines andern warten sollen. Die von-oben-nach-unten-Redekunst hat – wie in der Kirche – das Streiten und Besprechen auf gleicher Höhe eliminiert. Aufgrund einer Sonntagsrede, in der sie nur zu hören kriegen, was sie ohnehin schon hätten wissen können, heben oder senken sie in Verzückung oder Enttäuschung des Augenblicks den Daumen.

Die Philosophie des Augenblicks eines frommen Dänen, der mit Marx nicht das Geringste am Hut hatte, hat die Partei der gottlosen Materialisten von innen her erobert. Der Augenblick war die kleinste Messeinheit zeitlicher Offenbarung oder jenes seligen Moments, wo der Messias zur Tür hereinkommen wird.

Kierkegaard und Marx waren beide Geschichtsanbeter. Irgendwann muss die Ähnlichkeit der Systemzwillinge auf den Tisch kommen. In der alle entscheidenden prophetischen Rede ist sie es.

Als die erste Finanzkrise über den Ozean schwappte, hatten die alten Marx-Schwarten Hochkonjunktur. In den TV-Nachrichten sah man beglückte linke Gesichter – strukturell von derselben inneren Erleuchtung wie bei Zeugen Jehovas bei der Erwartung des Herrn auf dem nächsten Hügel –, die ekstatisch ins Mikrophon flüsterten: bei Marx steht schon alles, er hat alles vorausgesehen.

So wurde aus Newton II ein Seher und Prophet, nicht anders als der skurrile Gründer der Sekte Mormon. Seitdem grassiert in den Medien der unwiderstehliche Satz: Ökonom X hat die Krise vorausgesehen, also ist er unfehlbar geworden. „Wenn aber ein Prophet weissagt, so wird man daran, dass sein Wort eintrifft, erkennen, dass in Wahrheit der Herr diesen Propheten gesandt hat.“ Willkommen in der modernen Wiederauferstehung der Künder und Propheten.

Sinnvoll sparen kann man nur, wenn die Existenzgrundlage durch Einschränken nicht gefährdet wird. Sparen ist nicht Knausern am Essensetat, bis man die Konsolidierung zwar erreicht hat – aber im gleichen Moment verhungert ist. Genau diesen Verhungerungskurs verschreibt Merkel den überschuldeten Südstaaten, damit sie sich retten, indem sie nationales Harakiri begehen. Nach Griechenland nun auch Portugal. Ulrike Herrmann in der TAZ.

 

Von dem deutsch-jüdisch-amerikanischen Gelehrten Hans Ulrich Gumbrecht ist ein Buch erschienen mit dem Titel „Nach 1945 – Latenz als Ursprung der Gegenwart“, in dem er nichts weniger als die deutsche Vergangenheitsbewältigung für gescheitert erklärt.

In der ersten Nachkriegszeit sei die schreckliche Verbrechenszeit noch wie verschleiert gewesen. Es war eine Epoche der Latenz. Mit der Studentenrevolution sei der Versuch gemacht worden, die Vergangenheit ganz transparent zu machen. Doch die Studentenrevolution sei „eigentlich gescheitert“. Es habe sich nichts verändert.

Auch der „deutsche Herbst“ – die Zeit der RAF-Terroristen – habe zwar das gleiche Programm gehabt wie die Studentenrevolte, doch auch er sei ins Abseits gedrängt worden. Auch 89 habe man noch immer die Hoffnung gehegt, nicht nur die westdeutsche, sondern auch die kommunistische Vergangenheit durchzuarbeiten. Vergebens.

Der Höhepunkt aber sei erst mit dem Terrorakt von 9/11 erreicht worden. Es war für Gumbrecht, als ob der Deutsche Herbst „mit tödlicherem Wahnsinn im frühen 21. Jahrhundert angekommen wäre“.

Obwohl Deutschland wie kein zweites Land in der Welt so intensiv und aufrecht versucht habe, die Vergangenheit zu bewältigen, sei das Ergebnis, abgelesen an 9/11, völlig missglückt.

Gumbrecht schien es plötzlich, als ob „man sich nicht befreien kann von dem akkumulierten Antisemitismus der Geschichte, der sich ja nicht nur in Deutschland akkumuliert hatte, sondern über 2000 Jahre akkumuliert hatte, und dass man sich nicht befreien kann von dem akkumulierten Antiamerikanismus, dem akkumulierten Ressentiment nach dem Zweiten Weltkrieg … Sondern dass … die Intensität dieser negativen Vergangenheit gewachsen ist und sie dann letztlich … in einer zerstörerischen Weise im Jahre 2001 die USA erreichte.“

Das sei das Ende seiner Illusion gewesen, dass man sich „durch Reflexion von der Vergangenheit … befreien könnte.“

Gegen den Trend zur Versöhnung und Verharmlosung beharrt Gumbrecht auf der These, dass die Bürde bleibt: „eine Vergangenheit zu erben, von der man ausgeschlossen werden will, aber nicht kann“. Es bliebe nur die Konsequenz, Verantwortung für etwas zu übernehmen, für das „wir“ nicht schuldig seien.

Doch nicht nur das Projekt Vergangenheitsbewältigung sei gescheitert, sondern der allgemeine Glaube, dass die Zukunft vom Menschen gestaltet werden könne. An den kommenden Katastrophen wie der demografischen Entwicklung oder der Begrenzung der Rohstoffe könnten wir nichts mehr ändern. „Da haben wir gar keine Gestaltungsmöglichkeiten der Zukunft, sondern wir haben Überlebensprobleme.“

Vorbei also der Glaube des Sozialismus, aber auch des Kapitalismus, die Zukunft sei vom Menschen gestaltbar. Das Ganze bedeute, dass wir uns von der Vergangenheit mit keiner Faser lösen könnten. Wir werden täglich von der Vergangenheit überschwemmt. Wir seien eine verlorene Generation und müssten mit der Illusion aufräumen, wir könnten durch Bearbeiten der Vergangenheit die Zukunft gewinnen.

Er, Gumbrecht, sei zum begeisterten Amerikaner geworden, weil Gottes eigenes Land es gewesen sei, dem Deutschland die heutige vorbildliche Demokratie zu verdanken habe.

Der Schluss des Beckett-Stückes „Warten auf Godot“ sei für ihn zum Lebensmotto geworden: „Sie laufen, aber legen keinen Weg zurück.“ Das bedeute für ihn „das beständige Warten, das Offensein für die Ankunft von etwas, was sich im Leben meiner Generation nie eingestellt hat“.

(TAZ-Interview von Elke Dauk mit Hans Ulrich Gumbrecht)

Quietistischer Stillstand mit messianischem Ausblick: Gumbrechts Fazit klingt nach Adorno. Erst wenn ich alle Hoffnung aufgegeben habe, kann sich ein Hoffnungsschimmer am Horizont zeigen. „… weil die vollendete Negativität, einmal ganz ins Auge gefasst, zur Spiegelschrift ihres Gegenteils zusammenschießt“ (Minima Moralia 153).

Was Broder schon 1986 als Phänomen des „ewigen Antisemitismus“ beschrieb, hat Gumbrecht fast 30 Jahre später mit düsteren Aussichten bestätigt. Antisemitismus und Antiamerikanismus – vermutlich als sekundärer Antisemitismus – können nicht durch Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten bewältigt werden. Die Vergangenheit bleibt eine Macht, die uns allseits dominiert. Die Zukunft gewinnt apokalyptische Züge.

Der Mensch ist nicht in der Lage, sein Schicksal zu gestalten. Die Geschichte rollt unwiderstehlich über uns hinweg. Wenn es nicht mal den vorbildlichen Deutschen gelingt, ihre Vergangenheit in den Griff zu kriegen, wem soll es dann gelingen?

Auch hier öffnen Resignation, Skepsis und Pessimismus der Religion die Tür – auf das Unerwartete, das wir noch nie erlebt haben. Wenn es der Mensch nicht kann, müssen außermenschliche Mächte für die unverhoffte Überraschung sorgen.

Gumbrecht irrt, wenn er den Sozialismus und Kapitalismus für Ideologien hält, in denen der Mensch als Gestalter seiner Zukunft betrachtet wird. Das trifft weder für Marx noch für Hayek zu.

Wäre Marx dieser Ansicht gewesen, hätte er seinen berühmten Satz auf den Kopf stellen müssen: nicht das Sein bestimmt das Bewusstsein, sondern das Bewusstsein bestimmt das Sein. Und Hayek hielt den Glauben an die Machbarkeit des Schicksals für einen „modernen Aberglauben“. Auch Hegel deklarierte, der Mensch lerne nichts aus der Geschichte.

Insofern befindet sich Gumbrecht in exquisiter Gesellschaft. Im Grunde gibt es eine große Übereinstimmung in der Moderne, dass der autonome Mensch eine lachhafte Idee wäre. Selbst im optimistischen Amerika glauben mehr als zwei Drittel, sie würden die Wiederkunft des Messias persönlich erleben.

Die Verbindung von deutschem Herbst zur Katastrophe von 9/11 ist skurril und abenteuerlich. Den Antiamerikanismus als sekundären Antisemitismus einzustufen, kann man nur unter der Voraussetzung, dass Amerika von Israel gelenkt wird. Eine solch unterstellte Weltmachtstellung des Judentums gilt in jedem Antisemitismus-Test als klassisches Symptom für Judenfeindlichkeit.

Ist das Unternehmen Antisemitismus-Bewältigung auf der ganzen Linie missglückt, bleibt nur grenzenloses Misstrauen den Deutschen gegenüber. Wie kann man glauben, dass eine 2000-jährige religiöse Menschenfeindlichkeit innerhalb weniger Jahrzehnte ausradiert werden kann? Zumal die Macht der Religionen steigt und steigt?

Wenn der religiöse Hass auf das primär auserwählte Volk durch keine Erinnerungsarbeit vermindert werden kann, ähnelt das sekundär auserwählte Deutschland einer schlafenden Bestie, die in jedem Augenblick aufwachen kann, um ihr übles Werk zu verrichten.

Nur nebenbei muss festgehalten werden, dass Gumbrecht auch die Freud‘sche Lehre der Vergangenheitsaufarbeitung durch Erinnern und Wiederholen vom Tisch räumt. Von dem berühmten Talmudspruch gar nicht zu reden: Das Geheimnis der Versöhnung liegt in der Erinnerung.

Man kann Zeitläufte so pessimistisch betrachten wie Gumbrecht es in seltsam unscharfen Worten demonstriert. Doch jede Theorie ist eine selbsterfüllende oder selbstzerstörende Prophetie.

Jeder Negativ-Prophet sollte wissen, dass seine Sicht der Dinge zum Verlauf der Dinge beiträgt und eben das Unheil beschleunigt, das er aus Distanz zu beobachten glaubt.