Kategorien
Tagesmail

Mittwoch, 16. Mai 2012 – Authentische Erfahrung

Hello, Freunde der Blonden,

Palästinenser sind selten blond, haben keine schönen Zöpfe, sehen nicht aus wie arische Vorzeigefrauen. Deshalb werden sie bei uns auch weniger beachtet, wenn sie in Hungerstreik treten.

Wenn Palästinenser Raketen über die Grenze schießen, werden sie hierzulande von Leuten, die sehr viel aus der deutschen Geschichte gelernt haben, heftig gescholten. Wenn sie keine schießen, nur ihr Leben durch Hungerstreik gefährden, werden sie ignoriert.

Deutschlands Geschichte wurde von Hungerstreikenden eher weniger geprägt. Bei den Palästinensern werden auch eher selten Fußballeuropameisterschaften ausgetragen, die in ZDF und ARD übertragen werden.

Deshalb hat Frau Timoschenko wesentlich bessere Karten in der deutschen Presse als alle Palästinenser zusammen. Es gibt wichtigere Probleme als Nahost. Fußball zum Beispiel.

Alles schilt die uneinsichtigen griechischen Linken, die partout nicht unterschreiben wollen, dass sich ihr Land krank sparen soll. Ansonsten soll alles bleiben, wie es ist. Die Reichen bezahlen keine Steuern und schippern mit ihren Yachten nach Monaco. Vor der Kamera zeigen sie sich empört über Fragen nach ihrer Steuernehrlichkeit: Diesem Staat geben wir keinen einzigen Cent. Es ist klar, dass

der demoralisierte Staat diese Reichen nicht verdient hat.

Ulrike Herrmann hält es für richtig, dass die Linken standhaft geblieben sind. Bei Neuwahlen haben sie die Chance, als stärkste Partei gewählt zu werden.

 

Freundschaften können gefährlich werden. Das hätte sich Aristoteles nicht träumen lassen, für den Freundschaft das Beste war, wozu Menschen fähig sind.

Eine Gesellschaft, die nicht prinzipiell auf Freundschaft aller Bürger beruht, war für ihn keine echte Demokratie (die er Politie nannte). „So notwendig wie Freundschaft ist nichts im Leben“. „Freundschaft ist eine Seele in zwei Körpern.“ „Gleichheit ist die Seele der Freundschaft.“

Die Grundlage einer modernen Wirtschaftsdemokratie ist nicht Freundschaft, sondern Rivalität und Kampf aller gegen alle. Würde Freundschaft an die Stelle der Rivalität treten, gäbe es keinen rigorosen Wettbewerb mehr, Wachstum und Konjunktur wären gefährdet. Also muss Freundschaft verhindert werden.

Das muss sie gar nicht, im öffentlichen Leben existiert sie nicht und niemand vermisst sie.

Es gibt aber noch diverse Gesellschaftsnischen, wo Freundschaften sich unbemerkt einschleichen und für viele Gefahren sorgen können. Es sind jene Nahtstellen, wo nicht Wettbewerb, sondern Unterstützung, Empathie, Hilfe, Pädagogik und Therapie erforderlich sind.

Da treffen feinfühlige Helfer und Erzieher auf Schüler, Patienten und sonstige Hilfsbedürftige, die darunter leiden, dass sie niemals Freunde hatten, keine Menschen, die sie als Gleiche und Gleichwertige akzeptiert hätten.

Man könnte ihnen nur helfen, wenn man sie ernst nähme, wie man echte Freunde ernst nehmen würde. Dummerweise sind solche Schutz- und Freundschaftsbedürftige oft abhängig von ihren Helfern, hilflosen Helfern zumeist, da sie selbst keine Freunde haben –, die allzu oft die Macht haben, ihr weiteres Leben zu bestimmen.

Bei Therapeuten ist das weniger der Fall. Doch auch sie sollen nur Freundschaft spielen, aber keine echte anstreben. Sonst wird man voneinander abhängig, wie man an den letzten wenigen intakten Paarbeziehungen, die es in Deutschland noch gibt, sehen kann. Die sind so was von immobil und unflexibel, wenn der eine einen Job in Hamburg bekommt und die andere in Kuala Lumpur.

Entweder schaltet man innerlich auf Fernstenliebe, wie das Soziologen-Ehepaar Beck/Beck-Gernsheim es vorbildlich demonstriert und beeindruckend sachliche Bücher drüber schreiben kann.

Oder man trennt sich lieber gleich, weil man viel Kerosin einsparen kann, wenn man keine Wochenendbeziehung eingeht.

Bei LehrerInnen ist es am schlimmsten. Sie würden am liebsten die besten Freunde ihrer SchülerInnen sein, um sie liebevoll zu fordern und zu fördern. Wenn nur nicht diese schrecklichen Gefahren wären, die jetzt über die neuen elektronischen Teufelsmaschinen noch verstärkt werden.

Die Schüler könnten bemerken, dass ihre LehrerInnen Menschen sind mit Tugenden und Fehlern. Bösartig wie sie sind, wenn sie nicht immer eine Eins bekommen, könnten sie aus Freundschaft hinterlistige, verleumderische Feindschaft machen oder noch schlimmer: zu viel Nähe wollen, weil sich bei Freundschaften schnell Gefühle einschleichen, die das Schulamt gar nicht gern sieht. Dann kommt noch der Trotz dazu.

Alle Welt soll authentisch werden und just die Gefühle zeigen, die sie hat, nur wir unterbezahlten PaukerInnen nicht? Das ist ungerecht. Und schon haben wir die nächste Affäre zwischen Lehrer und der Vierzehnjährigen. (In Amerika sind die verbotenen Beziehungen zumeist umgekehrt, dort sind es immer Lehrerinnen, die nach ihren Abhängigen begehrlich werden.)

Da Kinder und Jugendliche hierzulande so erzogen werden, dass sie bis kurz vor 18 am besten gar nicht wissen sollten, ob sie Männlein oder Weiblein sind, auch nicht im Geringsten selbstbewusst und autonom über sich entscheiden sollen, müssen ausgewiesene Autoritäten ihnen sagen, dass sie noch viel zu jung sind, um echte Gefühle zu entwickeln.

Ein verantwortlicher Jugendlicher, der mit einer hervorragenden ethischen Kopfnote das Abitur machen will, fragt vorsichtshalber beim Rektor an, ob er echte Gefühle hat, wenn er in seine Lehrerin verknallt ist oder ob er jenem tückischen Virus anheim gefallen ist, der in allen Schulen grassiert und sofort mit Stumpf und Stil ausgerottet werden muss, bevor Schlimmeres passiert: dem pädagogischen Eros.

Schüler sollen in der Schule was Sinnvolles lernen, damit sie dem Arbeitsprozess als nützliche Glieder zur Verfügung stehen. Von Gefühlen lernen hat niemand was gesagt.

Kurz: Kapitalismus und Gefühle, Kapitalismus und Freundschaft sind unverträglich.

Wer den Kapitalismus stürzen will, müsste nur echte Gefühle importieren. Vielleicht ganz billig aus China? Detaillierte Kenntnisse über Deflation und Inflation wären nicht nötig. Schon wär der Kapitalismus am Arsch. (Tschuldigung für diesen abscheulichen koprophilen Ausdruck, Jakob Augstein). Gott sei Dank will das niemand.

 Morgen beginnt der Katholikentag in Mannheim. Wie immer werden frisch und neu die uralten Trompetenstöße von Jericho wiederholt: Wofür steht eigentlich der Katholizismus? Der Katholizismus im Aufbruch!

Die Kirchen sind schon so oft aufgebrochen, dass man sich nur wundern kann, sie noch immer im Land anzutreffen. In Österreich regt sich sogar Widerstand gegen den Vatikan. Doch der wird in Mannheim nicht ans Mikrofon gelassen. Sonst implodiert noch der Wasserturm.

 

Authentische Gefühle, authentische Menschen. Nun soll es sogar authentische PolitikerInnen geben, die gewählt werden wollen. Zumeist weiblicher Natur.

Doch die Echtheitswelle wurde selbstredend von Männern erfunden. Jaja: von Berlusconi. Der wollte partout kein gestelzter Politprofi sein, sondern so lüstern, geld- und machtgeil wie jeder normale Mensch auf der Welt.

Monti dito, wenn auch spiegelbildlich andersrum: er ist so anständig und sachgemäß wie kein normaler Politiker auf der ganzen Welt. Auch Sarko war hundsordinär bling-bling.

Und nun stehen unsere deutschen Frauen vor der Pforte und begehren Einlass! Wer hätte noch zu Zeiten des Gedöns-Schröder einer Ossifrau wie Merkel eine Chance gegeben? Nie geschminkt, eine Frisur wie mit der Hecken-Schere geschnitten, geschieden, keine Kinder, rockuntauglich und alle Blazer zu kurz? Dazu einen Mann namens Sauer?

Oder Mutti Kraft, die Stullen fürs ganze Ruhrgebiet schmieren kann – und ihrem kranken Nachbarn auch? Politiker wollen auch nur Menschen sein dürfen.

Da kommt ein Seelen-Tsunami auf uns zu. Fehlt nur noch, dass die Presse die Hosen runterlässt und zu menscheln beginnt. Gottlob wird das nicht passieren. Dafür hat sie BILD, die erledigt das stellvertretend für die ganze Zunft.

Bascha Mika weiß nicht so recht, was sie mit den neuen „Langweilern“ anfangen soll, selbst, wenn sie weiblichen Geschlechts sind. Sie wird doch keine Angst vor feministischer Depolitisierung haben? Bascha, sei ein Schatz und sag Ja zum Leben.

Wer authentisch sein will, muss Erfahrung haben. Mit sich und der Welt. Er sollte sich und Gott und die Welt kennen.

Grimmelshausens Simplicius war anfänglich ein gefühlsechter Volltrottel. Erst, nachdem er die verruchte Welt – damals die überlegene französische – kennengelernt hatte, wurde aus dem ehedem linkischen, inzwischen welterfahrenen Deutschen ein – Einsiedler, der die Schnauze voll hatte von Verstellung und Konformität und wieder authentisch werden wollte, wenn auch auf Kosten der Gesellschaft und der Politik. Ein typisch deutscher Gottsucher, dem die Welt ein Sündenbabel war.

Kinder und Naive können nicht unauthentisch sein. Das Unechte beginnt, wenn man viele Rollen spielen muss. Welche davon ist die echte? War Angie unecht, als sie gestern Abend den frisch gewählten französischen Präsidenten freundlich begrüßte, obgleich sie dessen Rivalen offiziell im Wahlkampf unterstützt hat?

Höflichkeit ist die gesellschaftlich anerkannte Form der Lüge, sagte Schopenhauer. Doch der war ein miesepetriger Privatier und hatte von Politik keine Ahnung.

Besser, ich lüge gesellschaftlich, als dass ich jemandem authentisch an die Gurgel gehe. Insofern ist Höflichkeit eine urbane Errungenschaft des Citoyen. Nicht alle Gefühle sind gesellschaftsfähig, Ehrlichkeit und Gefühlsechtheit können gelegentlich tödlich sein.

Das 1000-jährige Reich war gefühlsecht und verachtete die humanistischen Gefühlsheuchler des Westens. Was die Schergen hassten, machten sie authentisch nieder, was sie niedermachten, hassten sie aus tiefster Seele. Vorsicht vor germanischen Barbaren, die jedem gleich gefühlsecht die Fresse polieren wollen.

Am besten wäre natürlich, wenn Höflichkeit nicht nur aufgesetzt, sondern von Herzen käme. Das ginge nur, wenn man seine Gefühle an die Brust nähme und sie erziehen würde. Für Deutsche undenkbar, sie würden ja ihre intuitive Offenbarungsquelle verlieren.

Flaubert hingegen schrieb ein weltberühmtes Buch über die „Education sentimentale“ oder die Erziehung der Gefühle. Doch solchen Franzosen ist eh nicht über den Weg zu trauen. Schließlich ist noch immer Luther unser Held, der roh und undiplomatisch den Papst in die Hölle wünschte. Ohne ihn wären wir nie – brave Untertanen geworden, die vor jedem Winkelfürsten den Buckel machten.

Mannhafte Protestanten als Bettvorleger: so schnell kippt’s, wenn man nichts von der Welt dialektischer Gefühle wissen will, die ineinander kippen, obwohl sie widersprüchlich und sich ausschließen, obgleich sie identisch scheinen. Wen ich liebe, hasse ich auch, weil ich ihn liebe und von ihm abhängig bin.

Wir töten, was wir lieben, ist der emotionale Kernsatz unserer Naturschändungen. Wäre der Erlöser nicht am Kreuz gestorben, würden ihn die Deutschen nicht lieben. Lebende Helden sind ordinär. Man bejubelt sie, insgeheim aber neidet man ihnen den Erfolg.

Deutsche seien in den Tod verliebt, behaupten die flatterhaften Franzosen. Sie liebten das Tote mehr als das frische Leben. Fromm spricht von Nekrophilie. Nur tote Helden sind wahre Helden. Nur früh sterbende Genies sind wahre Genies wie die Romantiker, für die die Jahreszahl 33 eine magische Zahl war. In diesem Alter starb ihr Erlöser am Kreuz.

Älter zu werden war eine Blasphemie. Weshalb deutsche Junggenies früh in der Schule dahindarben oder auf dem Feld der Ehre verrecken mussten, damit sie es in die Enzyklopädie schafften.

Das Genie ist früh komplett, sagte Jakob Burckhardt, das väterliche Über-Ich des genialen Freidrich Nietzsche, der nicht rechtzeitig sterben konnte und zur Strafe verrückt werden musste.

Heute werden die Deutschen immer älter, ein klares Zeichen, wie ordinär und ungenial sie geworden sind. Das bekümmert sie derart, dass sie kurz nach der Pension in die Demenz flüchten, um nichts mehr zu sehen und zu hören, ihre ganze Biografie zu vergessen und ins selige Nirwana abzutauchen.

Wärest du früh gestorben, hätt ich dich für ein Genie gehalten.

Die hebräischen Urväter hatten viele Schafe und Frauen, starben alt und lebenssatt. Da zeigte sich noch kein Erlöser am Horizont.

Die Deutschen durften seit Beginn der Neuzeit weder glücklich sein noch alt werden. Beides war primitiv und ein Verrat an der jenseitigen Heimat.

In Wirklichkeit lieben die Deutschen gar nicht den Tod, sondern das ewige Leben. Dorthin aber kommt man nur im Durchgang durch den Tod. In den Kindertotenliedern beklagt Rückert die toten Kinder und beglückwünscht sie zugleich: sie haben‘s geschafft. Sie sind zu Hause angelangt:

Oft denk ich, sie sind nur ausgegangen!

Bald werden sie wieder nach Hause gelangen!

Der Tag ist schön! Oh sei nicht bang!

Sie machen nur einen weiten Gang!

 

Jawohl, sie sind nur ausgegangen

Und werden jetzt nach Hause gelangen!

O sei nicht bang, der Tag ist schön!

Sie machen nur den Gang zu jenen Höhn!

 

Sie sind uns nur vorausgegangen

Und werden nicht wieder nach Hause gelangen!

Wir holen sie ein auf jenen Höhn

Im Sonnenschein

Der Tag ist schön auf jenen Höhn!  

 

Es ist ein Wettbewerb der Generationen im Lauf zur Seligkeit, jenen Höhn im Sonnenschein. Die Kinder sind die ersten, die dort sein werden. Die Eltern trauern um sie, weil sie nicht mehr auf Erden sind. Sie freuen sich, dass sie es für immer geschafft haben. Sie beneiden sie, weil sie selbst noch nicht so weit sind. Doch sie werden sie einholen.

Der tief verdeckte Wettbewerb der Generationen um ewiges Glück ist ein Hauptproblem – der ökologischen Frage. Alle Eltern haben ein schlechtes Gefühl, dass sie ihre Kinder einer desaströsen Welt überlassen. Sie wünschen ihnen, dass sie alt und lebenssatt sterben könnten.

Doch wenn nicht, dass sie schnell den Abgang kriegen auf jene Höhen. Also muss die Erde schnell und effizient vernichtet werden, damit wir bald wieder alle vereint sind.

Wenn Mütter ihre Kinder aus verzweifelter Liebe töten, um ihnen ein schlimmes Schicksal zu ersparen, gelten sie als Mütter der Hölle. Dabei tut die jetzige Menschheit nichts anderes als jene Mütter. Griechen sprachen von Euthanasie: ach komm, du schöner Tod.

Jetzt wollt ich über authentische Erfahrung geschrieben haben.