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Mittwoch, 12. Dezember 2012 – Christlicher Kapitalismus

Hello, Freunde Uri Avnerys,

Uri hat Netanjahu vor Gericht besiegt. Der Chef von Gusch Shalom (Friedensblock) hatte gegen das Antiboykottgesetz der Regierung geklagt, das jeden Boykottaufruf gegen Produkte aus den illegalen Siedlungen unter Strafe stellen sollte.

Die EU ist wie immer doppelzüngig. Einerseits protestiert sie gegen die Siedlungen, andererseits importiert sie immer mehr Waren aus den besetzten Gebieten. Unter dem Druck von Deutschland und Frankreich wurde eine präzise Kennzeichnungspflicht der Herkunftsorte bislang verhindert, sodass die Käufer keine Möglichkeit haben, sich selbst zu entscheiden, ob sie durch Kauf illegaler Waren die Besatzungspolitik unterstützen wollen oder nicht.

Die Mehrheit der israelischen Bevölkerung sei wenig daran interessiert, welcher Wein oder welcher Gartenstuhl in einer Siedlung produziert werde, in Europa wachse hingegen der Unmut gegen das Unrecht der Siedlungspolitik.

Boykottieren sei einer der edelsten Formen des Protestes, anstelle von verbaler oder physischer Gewalt stehe die schlichte Verweigerung zur Kooperation, kommentiert Susanne Knaul in der TAZ. Der EU hält sie vor: „Wenn man keine Siedlungen haben will, sollte man nicht mit ihnen kooperieren.“

Ein verliehener Friedensnobelpreis will nicht nur vergangene Friedenstaten auszeichnen, sondern zu künftigen ermuntern. Kaum hat die EU in Oslo die begehrte Auszeichnung erhalten, verstärkt sie in Südamerika den Unfrieden.

Die Abgeordneten des Straßburger Parlaments haben das umstrittene

Freihandelsabkommen mit Kolumbien und Peru abgesegnet. Damit trete ein Vertrag in Kraft, schreibt Ruth Reichstein in der TAZ, der die Menschen- und Arbeitnehmerrechte in diesen beiden Ländern mit Füßen trete. Nirgendwo sei die Gewalt gegen Gewerkschaftler so groß wie in Kolumbien.

Die EU-Länder wollten nur Geschäfte machen. Dass Menschen dabei unter die Räder kommen, interessiere die Regierungen nicht. Wen juckt‘s hierzulande, wenn durch den Vertrag Milchbauern ihre Existenz verlieren oder Arbeiter in Kohleminen weiter ausgebeutet werden? Oder EU-Firmen dortigen Unternehmen lukrative Aufträge wegschnappen?

In Berlin gab’s eine Tagung über die Christlichkeit des Kapitalismus. (Dazu Tim Caspar Boehme in der TAZ)

Warum haben Deutsche so viele Schwierigkeiten, die herrschende Wirtschaftsform als genuines Produkt ihrer Religion zu erkennen? Wer das Abendland für christlich hält und dies seit 2000 Jahren, muss alles Abendländische für Gewächse des Christentums halten. In einer monolithischen Kultur ist alles vom Monolith geprägt. Von einem kristallklaren Glas Wasser kann kein Mensch vergiftet werden. Nur wenn der Gottseibeiuns heimlich Zyankali ins Glas geschüttet hat, ist das Schicksal des Trinkenden besiegelt.

Wenn der Kapitalismus nicht christlicher Herkunft ist, soll er griechische oder germanische Ursprünge haben? Hier beginnen schon die Schwammigkeiten.

Zumeist wird das Christentum für die Basis des Abendlandes erklärt, als ob es sonst keine Prägungen aufwiese. Wenn das so wäre, wären alle Tugenden und Verbrechen des Abendlandes christliche Produkte. Erst bei Nachfragen erhält man die Antwort, na ja, da gebe es noch einige griechische Elemente, die aber keine größere Rolle spielten.

Vor 200 Jahren sah man dies umgekehrt und erblickte vor allem Griechisches. Das Christliche war etwas, was überwunden werden musste. Ab den Brüdern Grimm und einigen Romantikern kam noch das germanische Element hinzu. Nun hatte man drei Grundelemente. Da konnte man trefflich streiten, welches Element dominant war und ob die drei Elemente zusammenpassten oder sich gegeneinander in die Quere kamen.

Hegel konstatierte auf Friede, Freude, Eierkuchen. Seine Philosophie wird zu Unrecht als Dialektik, als ewiger Zoff und Streit bezeichnet. Diese Epochen der Widersprüche waren einmal. In der letzten Epoche der Weltgeschichte mit dem preußischen Berlin als politischer und Hegel als denkerischer Zentrale war der Dauerhader vorbei. Von einigen Kleinigkeiten abgesehen, war die Geschichte der Menschheit zu sich gekommen.

Alle Animositäten zwischen hellenischen, christlichen und germanischen Elementen waren im Prinzip perdu. Die drei Geister – vornehmlich das Christliche und das Griechische, die Germanen beugten sich schnell dem südlichen Europa – hatten sich zwar mächtig ins Zeug gelegt, um den Rivalen aus dem Sattel zu heben, doch Hegel sah einen großen Mediator am Werk – den Weltgeist als eine Art Weltgeißler –, der alle Parteien ausreden ließ, bis sie sich nichts mehr Unfreundliches zu sagen hatten, das „Gezerre und den Krawall“ (die beiden Lieblingsausdrücke deutscher Edelschreiber für sinnvolle Auseinandersetzungen) sein ließen und zum finalen Einheitsbrei fusionierten.

Hegel hatte den dialektischen Streit für immer beendet erklärt. Was jetzt noch kommen würde, konnten nur Petitessen sein. Ob er sich getraut hätte – wenn er sie denn erlebt hätte -, Hitler und Stalin als Petitessen zu bezeichnen, wäre eine interessante Frage für einen Doktoranden, der noch wüsste, dass 1000 Jahre vor Gott wie ein Tag sind.

Seit dem schwäbisch-preußischen Friedensschluss mit allen unerledigten Widersprüchen der Welt plagt Deutschland sich mit dessen explosiven Folgen. Der Friede war nämlich wie Thomas Gottschalks harmonische Ehe. Auf die Frage, ob er nie an Scheidung gedacht hätte, antwortet Jauchs bester Freund immer: an Scheidung nie, aber öfter an Mord.

So kann‘s kommen, wenn Frieden verordnet und nicht erarbeitet wird. Plötzlich greift der sanfte Gatte zum Messer und beendet die erzwungene Idylle mit einem fröhlichen Schlachtfest. Zwei Weltkriege, an deren Eröffnung Deutschland nicht ganz unschuldig war, sollten jedermann die Augen öffnen über den erzwungenen Frieden, der von Denkern diktiert wurde, aber den Realitäten nicht entsprach.

Diese Stimmung einer lauen Harmonie aus Vernunft und Offenbarung beherrscht heute die intellektuelle Öffentlichkeit der BRD. Nur nicht streiten, Kinder, sonst kommt dieses Jahr nicht das Christuskind. Hegel bewies, dass die Deutschen keine Streitfähigkeiten mehr hatten. Wenn schon Rabatz, dann bitteschön nur in der Geschichte, die für immer vorüber ist.

Hegels Mediatorenfähigkeiten waren keinen Deut größer als die seines Landsmannes Geißler. Kaum war das Schlichtungstheater um Schtuttgart 21 vorüber, brachen die Unklarheiten und Widersprüche erst recht auf und nun ist die Kacke wieder am Dampfen.

Wenn Schwaben Preußen erobern, wird’s gefährlich. Das sieht man noch heute am mittleren Bürgerkrieg zwischen südwestdeutschen Kreativ-Immigranten und Berliner Originalschnauzen in Kreuzberg. Um es soziologisch zu formulieren: die latenten Systemdifferenzen konnten durch pseudo-kommunikative Diskurse – also Geschwafel – nicht im Status-Quo gehalten werden und explodierten, ohne von Hegel die dialektische Erlaubnis erhalten zu haben.

Da waren einfach zu viele Spannungen im europäischen Kessel, die sich ihren eigenen Weg suchten und für zwei Vulkanausbrüche sorgten. Wenn ein Mensch mit seinen inneren Konvulsionen, Schuldgefühlen und Widersprüchen nicht fertig wird, gibt’s zwei Möglichkeiten. Entweder bringt er andere um oder sich selbst. Deutschland tat immer beides, besonders im Zweiten Weltkrieg. Wenn es nach Morgenthau gegangen wäre, wäre von Deutschland nicht mehr viel übrig geblieben, nachdem SS-Deutschland seine unerledigte Dialektik ganz Europa übergestülpt hatte.

Inzwischen haben sich postsozialistische Verharmlosungen eingeschlichen, Kriegsursachen seien nichts als materielle Interessenkonflikte. Interessen haben keine Sprache, sie definieren sich nie von selbst, und der Geist ist an der Welt nicht uninteressiert. Besonders wenn er religiös ist. Konnte man das nicht an den Kreuzzügen sehen, an vielen europäischen Religionskriegen zwischen allen und allen?

Dass man mit religiösem Geist ganz Europa erobern kann – und heute die ganze Welt – hatte der Papismus in staunenswertem Maße bewiesen. Auch der Calvinismus ließ sich nicht lumpen und eroberte alles, was dem Papismus nicht gelang. Nur das deutsche Luthertum fetzte sich binnenföderal und blieb von der Welt abgeschnitten – bis es nach 400 Jahren doch noch zur Einheit und militärischen Größe fand und der Welt nachträglich zeigen musste, wie der germanische Berserker, christogen sozialisiert, den Hammer zu handhaben wusste.

Drei Christentümer also lagen im Wettbewerb im Kampf um die Weltherrschaft. Der Papismus herrschte mit archaischen Formen religiöser Strafandrohung und einer disziplinierten Jesuitengarde. Im Calvinismus und Luthertum war die Macht der Priesterkasten gebrochen. Jeder war sein eigener Priester und für sein Welt- und Seelenheil selbst zuständig – auch wenn die Seelen von Gott determiniert waren.

Die Selbstbewussten in Genf, Holland und England bewiesen ihre bürgerliche Energie durch politisch-wirtschaftliche Tätigkeit, um mit ihrer Hilfe den eigenen prädestinierten Erwählungsstand zu erforschen. Da war ein riesiger Widerspruch zwischen neuzeitlich erwachter Autonomie und religiös auferlegter Vorherbestimmtheit. Um mit menschlichen Methoden das göttliche Rätsel zu lösen, wurden die Engländer – vor allem die widerspenstigen Freikirchen und Sekten – zu Begründern der Ökonomie. Wer die Welt mit wirtschaftlichen Mitteln erobern konnte, auf dem musste der Segen des Herrn ruhen.

Für die eisenharten Puritaner, Quäker und Methodisten war Wirtschaften das Lösen eines göttlichen Problems: wer gehört zu den Auserwählten und wer zu den Verworfenen? Während die politisch bedeutungslosen Lutheraner sich auf Gnade und Barmherzigkeit verließen, sich den Obrigkeiten unterwarfen, begannen die Calvinisten mit ihrem Gott eine Wette zu schließen: Wetten, dass wir herauskriegen, wen du zu Spreu und wen du zu Weizen auserkoren hast?

Man könnte sich vorstellen, dass die Vorherbestimmungslehre die Menschen zu passiven Marionetten degradiert hätte. Das Gegenteil war der Fall. Der unerhörte Antagonismus zwischen neuerwachter Selbstbestimmung und göttlich-archaischer Fremdbestimmung entwickelte eine Dynamik, die ganz Amerika und danach die Welt bis heute in Atem halten sollte.

Was bei den Lutheranern überhaupt keine Rolle spielte, wurde von den Calvinisten in den Mittelpunkt ihres aktiven Lebens gerückt: der irdische Erfolg als Schätzgrundlage für den überirdischen Erfolg. Die von Gott vorgeschriebene Arbeit musste erfolgreich sein, denn Erfolg wurde zum Parameter der vermuteten Seligkeit.

In Amerika verwandelte sich die – trotz allen Erfolgs noch immer quälende – Unsicherheit im Erraten des Gnadenstandes in zunehmende Gewissheit. Schon die Benennung des riesigen neuen Kontinents als Gottes eigenes Land ließ keinen Zweifel, dass alle Unsicherheiten an der eigenen Berufung im eschatologischen Stadium des neuen Gartens Eden behoben waren.

Während die englischen Puritaner noch unterwegs waren, hatten die Amerikaner das Gefühl, angekommen zu sein. Lutherische Arbeit hingegen war nur Gehorsamserfüllung. Jeder bleibe in seinem Stand, in den Gott ihn berufen hatte. Erfolg, Aufstiegsorientiertheit? Ausgeschlossen.

Dieses Gefühl der Maloche als bloße Gehorsamsleistung prägte noch die soziale Marktwirtschaft der ersten Nachkriegszeit bis zum Siegeszug des Neoliberalismus. Selbständig werden? Wirtschaftliche Initiative ergreifen, zumal der Kapitalismus durch die 68er als Ausbeutungssystem diffamiert wurde? Das war jenseits von Eden.

Ein Deutscher war dran gewöhnt, dass Industrie-Patriarchen wie Krupp und Thyssen ihm einen lebenslangen Arbeitsplatz zur Verfügung stellen. Als Lehrling begann er in derselben Fabrik, die er als Rentner verließ. Arbeit war Untertanenethos, kein Mittel zur Selbstprofilierung. Hatte man seine Pflichten getan, stellte man sich hin und sagte seinem Gott: „Wir sind unnütze Knechte, wir haben nur getan, was wir zu tun schuldig waren.“ ( Neues Testament > Lukas 17,10 / http://www.way2god.org/de/bibel/lukas/17/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/lukas/17/“>Luk. 17,10)

Ein echter Yankee hätte diese Demutsformel nicht mehr verstanden. In seiner ökonomischen Demokratie stand ihm jeder Stand bis zur Spitze der Gesellschaft offen. Jeder konnte alles werden.

Solche Aufsteigerparolen hinwiederum waren für lutherische Ohren Empörung gegen Gott. Wirtschaft ist nicht dazu da, um weltlichen Erfolg zu erzielen, sondern um seinen Gehorsam vor Gott und der Obrigkeit zu erweisen. Arbeit war eine Demutsleistung, Strafe für den Sündenfall. Keine Methode zur eitlen Selbstdarstellung. Im Gegenteil, Reichtum war anrüchig, Armut galt als evangelische Tugend, die das Himmelreich gewinnen sollte.

Im Vergleich mit England war Deutschland immer arm gewesen. Erst in den letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts begann die erste Wohlstandswelle. Selbst das Proletariat partizipierte am neuen Reichtum in einem bislang unbekannten Maß, sodass selbst treue Marxisten die Revolution aufkündigten und zu Bernsteins Reformsozialismus überliefen.

Der soziale Kulturschock, der Einbruch des Neocalvinismus geschah unter Rot-Grün, als Schröder das Lohnniveau der unteren und mittleren Schichten reduzierte, um für den verschärften internationalen Wettbewerb präpariert zu sein. Über Nacht wurde aus postlutherischer Verehrung der Armen und Schwachen eine Missbilligung und Verhöhnung derselben. Aus jahrhundertelang eingedrillten Tugenden wurden Verächtlichkeiten.

Schröder & Co begannen just jene Klientel zu brüskieren, denen die SPD bislang ihre Macht verdankte. Wie im angelsächsischen Raum wurden plötzlich die Abgehängten und Obdachlosen zu moralischen Rohrkrepierern. War bisher der Groschen für den Bettler an der Ecke eine selbstverständliche Pflicht, kamen nun Skrupel auf, ob man solche von Gott Bestraften noch unterstützen durfte.

Bis heute hat die europäische Sozialdemokratie sich keinen Reim darauf machen können, wie sie den Wohlstand ihrer Länder steigern kann, ohne den sozialen Standard der Schwachen ständig zu schwächen.

Typisch, dass der mentale Hintergrund des Paradigmenwechsels bis heute von keinem Ökonomen oder Politiker der deutschen Gesellschaft erklärt wurde. Der Grund lag auf der Hand. Die Experten haben von der Theologie des Kapitalismus keine Ahnung. Sie wollen gar nichts davon wissen, sonst könnten sie nicht so flott leblose Formeln berechnen.

Der Bruch mit den lutherischen oder ordokatholischen Grundsätzen des rheinischen Kapitalismus war die einschneidendste Veränderung in der Geschichte der Nachkriegszeit, bedeutsamer als der Fall der Mauer.

Nachdem Amerika Nazideutschland befreit und beim Wiedereingliedern in den Bund der Völker mit riesigen Anstrengungen unterstützt hatte – nicht nur aus Altruismus, sondern um gegen das Reich der Bösen ein stabiles Bollwerk zu besitzen –, änderte sich unter Reagan die Unterstützungspolitik Amerikas mit dem Export des Börsen-Kapitalismus.

Ab jetzt wurden Deutschland und ganz Europa zum wirtschaftlichen Gegner, den man mit allen Tricks ausgebuffter Wallstreetzocker auf die Plätze verweisen musste. Die Zeit der wohlwollenden Patronage war vorüber. Das europäische Sozialmodell wurde auf allen Ebenen im Zweifel attackiert und weich gekocht.

Erst nach mehreren Finanzkrisen beginnt Europa in die Gegenoffensive zu gehen, auf die Unterstützung Englands, des Ziehvaters Amerikas, muss Brüssel verzichten. Während das biblizistische Amerika sich strikt weigert, das europäische Sozialmodell als Alternative zu betrachten, wird es in Europa darauf ankommen, wie viel „Amerika“ es in Zukunft akzeptieren muss und wie viel Kraft es aufbringt, seinen eigenen Weg zu verteidigen.

Selbst der arme Amerikaner will keine Unterstützung vom Staat. Jede soziale Unterstützung betrachtet er als Angriff auf seine Souveränität, eine Entmündigung seiner nie nachlassenden Chance, die Himmelsleiter nach oben zu klettern und durch eigene Kraft dem Herrn die Hüfte zu verrenken.

Deutlicher kann nicht demonstriert werden, dass Wirtschaft Religion ist. Und wer sich anmaßt, die wirtschaftlichen Fähigkeiten in Frage zu stellen, stellt zugleich das Seelenheil des Kämpfers um das Himmelreich in Frage. Wer nicht immer wieder von vorne beginnen, stets erneut seine Chancen wahrnehmen kann, dessen Schicksal ist beschlossen, dessen Seligkeit verwirkt.

Fallen kann jeder, doch ein echter Christ betrachtet jeden Fall nur als Prüfung seines strengen Herrn, die er immer wieder zu bestehen hat. „Wir wissen aber, dass denen, die Gott lieben, alles zum Besten dient, denen, die nach dem Vorsatz berufen sind.“

Für glaubensstarke Amerikaner sind Deutsche, die gegen alle Notfälle versichert sein wollen, Menschen, die vom Glauben abgefallen sind. Weder vertrauen sie sich, noch vertrauen sie Gott. Noch nicht lange her, dass Kanzlerprediger gegen das um sich greifende Versicherungswesen wüteten. Wer sich gegen alle Schicksalsschläge versichern lassen wolle, könne keinen Glauben haben.

Der neoliberale Hohn gegen die Vollkaskomentalität war nur die Fortsetzung dieser Predigt. Es geht nicht um ein abgesichertes Leben, es geht um ein riskantes Alles oder Nichts. „Das Himmelreich ist gleich einem Kaufmann, der schöne Perlen suchte. Als er aber eine kostbare Perle fand, ging er hin, verkaufte alles, was er hatte und kaufte sie.“ Was hülfe es dem Menschen, wenn er durch Staatsknete nicht verhungerte, nähme aber Schaden an seiner himmelsstürmenden Seele?

„Abermals ist gleich das Himmelreich einem verborgenen Schatz im Acker, welchen ein Mensch fand und verbarg ihn und ging hin vor Freuden über denselben und verkaufte alles, was er hatte, und kaufte den Acker.“ Man muss sein ganzes Leben einsetzen und riskieren, um das wahre Leben zu erringen. Ja, noch mehr: „Wer sein Leben retten will, wird es verlieren, wer aber sein Leben verliert um meinetwillen, der wird es gewinnen.“

Für die allesriskierenden Amerikaner sind die Deutschen keine echten Gläubigen mehr. Ein jämmerlich gesichertes Leben sei ihnen wichtiger als der große Preis der Erwählung – der für den Amerikaner nicht erst im Jenseits liegt. Wie sie einst alles auf eine Karte setzten und aufbrachen in die unbekannte Weite des Kontinents, so sehen sie noch heute ihr ganzes Leben als spirituelles Trekking auf dem Weg ins Lande Kanaan, wo Milch und Honig fließen.

Den größten Unterschied zwischen europäischem und amerikanischem Christentum haben wir noch gar nicht erfasst. Er betrifft das Böse. Während die Amerikaner kein Böses in ihrem way of life erkennen, haben die Europäer die unersetzliche Funktion des Bösen im Heilsplan Gottes nie vergessen. Man schaue sich das naive Bubengesicht von Bill Gates an, das rundum wohlwollende Patriarchengesicht von Warren Buffett: da gibt’s keinen einzigen skrupulösen Zug im Gesicht, dass ihr Reichtum nicht mit koscheren Mitteln zustande gekommen sein könnte.

Erfolgreiche Neocalvinisten sind naiv, rein und haben das gute Gewissen von Neugeborenen. Amerikaner kennen kein Böses in ihrer Seele, das sie täglich bekämpfen müssten. Das Böse haben sie vollständig ins Ausland exportiert. In diverse, stets wechselnde Reiche des Bösen. Sie sind die Guten, auf denen der Segen des Herrn ruht, solange der Kontinent reich, mächtig und erfolgreich ist.

Reiche Deutsche der alten Schule haben immer skrupulöse Gesichtsfurchen. Nie können sie das deutsche Lob der Armut und die Kritik am Reichtum völlig unterdrücken. Eher geht ein Kamel durchs Nadelöhr, denn ein Reicher ins Himmelreich. Alt-Europäer wissen, dass Gott das Böse benötigt, um das Gute zu vollbringen. Der Teufel ist ein unersetzlicher Diener seines Herrn. So wie es Augustin formulierte: „Gott hielt es für besser, selbst aus dem Bösen Gutes zu schaffen, als überhaupt nichts Böses zuzulassen.“

Ohne die Motivationskünste des Bösen – das die Menschen wider Willen zum Guten reizt – gäbe es keinen Ehrgeiz, durch Wirtschaft reich zu werden. Mandeville hatte das theologische Gesetz in ein säkulares verwandelt: private Laster sind öffentliche Tugenden. Goethes Mephisto war eine Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft. „Wenn bestimmten Teilen des Universums das Schlechte entzogen würde, so ginge vieles von der Vollkommenheit des Universums verloren, dessen Schönheit aus der geordneten Vereinigung von Bösem und Gutem ersteht.“ (Thomas von Aquin)

Amerikaner kennen keine Selbstkritik, wenn sie sich ihrer Wiedergeburt sicher sind. Ihr penetranter Optimismus ist Ausdruck ihrer neugeborenen Seele, die zum Sündigen unfähig geworden ist.

Europäer hingegen wollen zwar sein wie Amerikaner. Doch ihren gespaltenen Gesichtern sieht man an, dass das schlechte Gewissen ihr ständiger Begleiter ist. Aus ihrem zögerlichen und gebrochenen Tun kann man den unausgesprochenen Satz des Paulus hören: „Denn ich bin mir nichts bewusst, aber darum bin ich nicht gerechtgesprochen.“

So preschen die Amerikaner bedenkenlos und selbst-gerecht der Apokalypse entgegen. Die Europäer spurten hinter ihnen her, doch mit Bedenken, die sie nicht artikulieren können.

Die geistige Auseinandersetzung zwischen beiden christlichen Kontinenten hat noch nicht mal begonnen.