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Mittwoch, 05. Dezember 2012 – Opfer und Täter

Hello, Freunde der Schrittzähler,

lässt sich Schrittzählen noch übertreffen? Wie wär‘s mit Gedankenzählen oder ES-Tomografieren? Der Staat verkabelt seine Versager und kann sich per Mausklick ständig ins Innenleben seiner Überflüssigen einschalten. Man könnte über eingebaute Chips auch an Fernlenkung der einmaligen Individuen denken.

Deutschland braucht keine Fußfesseln für seine Arbeitsverweigerer. Gefängnisse könnten wir uns sparen. „Ob ich sitze oder stehe, du weißt es, du verstehst meine Gedanken von ferne. Meine Seele kanntest du wohl, mein Gebein war dir nicht verborgen, da ich im Dunkeln gebildet ward, kunstvoll gewirkt in Erdentiefen. Deine Augen sahen all meine Tage, in deinem Buch standen sie alle,“ sang der vollverkabelte Psalmist.

Arbeitsämter wissen noch lange nicht so viel über ihre Schäfchen wie Gott über seine Kunden. Aber sie arbeiten dran.

 

Familienberater Jan-Uwe Rogge kennt das Geheimnis der Religionswerdung. Kinder haben die Religion erfunden, denn sie glauben an Magie. Magie ist Lenkung auf übernatürliche Art, und alles, was nicht Natur ist, ist in unseren Breiten schon Religion. „Geht’s der Natur entgegen, (= geht’s gegen die Natur), so geht’s gerad und fein“, singt Gerhard Tersteegen, der fromme Liederdichter.

Die Frage, ob man Kinder mit der Mär vom Weihnachtskind anschwindeln darf, will der Familienberater partout nicht beantworten. Kinder kann man gar nicht anschwindeln, denn sie wollen angeschwindelt werden, pardon, selber magisch glauben. Zwischen

drei und neun (!) Jahren seien Kinder in der magischen Phase.

Wenn sie also fragen, ob‘s den Weihnachtsmann gibt, einfach zurückfragen und schon erzählen Kinder, was die Eltern hören wollen. Mit neun Jahren endet ohnehin die magische Phase – und die Mär vom Christkind, woraus wir schließen können, dass Fromme auf dem magischen Stand von Neunjährigen stehen bleiben, was manches Rätsel der Gläubigen erklären würde.

So sicher, wie Kinder wissen, dass sie als Schneeflocke im Bauch der Mutter gezeugt wurden, (vermutlich durch Nikolaus, den Herrscher der Schneewolken), so wissen sie alles intuitiv übers christliche Kindlein in der Wiege. Da müssen sie im Religionsunterricht nicht mal die Weihnachtsgeschichte gehört haben, die wir somit getrost abschaffen könnten.

Herr Rogge muss ein wiederauferstandener Tertullian sein, um die Mär von der anima naturaliter christiana – von Natur aus ist die Seele christlich – der gottlosen Moderne zu verkünden. Lasset die Kindlein zu ihm kommen und wehret es ihnen nicht, auf dass der Familienberater von Unmündigen und Unweisen das Evangelium lerne.

Wie erklären wir uns nur, dass Kinder die schärfsten Realisten sind – ohne Magie als Widerspruch zu empfinden? Sollte Herr Rogge etwa Phantasie mit Magie verwechselt haben? Doch solche Fragen fallen nicht mehr ins Fach „magische Familienberatung“. Es muss uns nicht bange sein um die Zukunft des Glaubens, der Herr gibt’s den Kleinen und Reinen im Schlaf.

(SZ-Interview von Katja Schnitzler mit Jan-Uwe Rogge)

 

Eric T. Hansen, der mit Boxhandschuhen seine Schreibmaschine traktiert, ist eine Mixtur aus magischem Erwählungsglauben, offensivem Witz und leutseliger Geschwätzigkeit. Solch kesse Mischungen gibt’s in deutschen Biblizistenkreisen nicht. Hansen hat Gott als Coach der amerikanischen Geschichte angestellt und der erledigt seinen Job als Lückenfüller der Erkenntnis fabelhaft.

Wenn Amerikaner ihr bisschen Geschichte überblicken, staunen sie immer wieder, wie herrlich weit sie es gebracht haben, obgleich sie nicht „unbedingt die hellsten Köpfe sind“ und dennoch wurde was aus ihnen. Wie oft war der neue Kontinent gefährdet und wie oft entkam er dem Schlamassel per Zufall. Natürlich nicht per Zufall, sondern durch Gottes Fügung.

In Griechenland wurde das rationale Denken geboren, als man den Zufall nicht mehr als Wille der Götter betrachtete, sondern ihm durch kausale Erklärungsversuche auf die Pelle rückte. Die auserwählten Amerikaner sind wieder in den vorkausalen Mythos zurückgekehrt, indem sie aus jedem positiven Zufall messerscharf schlossen: Someone is watching over us.

Smith nannte dieses Phänomen Unsichtbare Hand. Die Amerikaner haben es in diesem Punkt schon weiter gebracht: sie sehen die Hand den ganzen Tag über, neben und unter sich, besonders im Konsumrausch und neuerdings beim Oil-Fracking, das die USA aus allen Abhängigkeiten von seltsamen arabischen Staaten befreien und die Konjunktur ankurbeln wird. Die Energieapokalypse ist erneut vertagt. Dennis Meadows darf sich grün und schwarz ärgern.

Bei allen unlösbar scheinenden Problemen sind einige „ungewaschene, gläubige Hinterwäldler“ davon überzeugt: „Keine Sorge, Gott wird uns den Weg schon weisen“. Amerika hat so viel positive Zufälle erlebt, dass Hansen sich über den amerikanischen Erwählungsglauben nicht wundern kann. Eher darüber, dass die Deutschen nicht ähnlich fühlen. Haben sie in der Nachkriegszeit doch auch viel Erstaunliches und Erfolgreiches erleben dürfen.

Hier irrt Mr. Hansen. Deutschland war nicht nur das auserwählteste Land weit und breit, im tiefen Grunde ist es dies noch heute – die Deutschen tarnen sich nur mit dauerbüßendem Zweckpessimismus. Noch immer müssen sie ihre historische Schuld durch Griesgrämigkeit und notorische Bedenkenträgerei abtragen.

Umgekehrt gefragt: wenn die USA tatsächlich mal abschirren und von ihrem hohen Ross niedersteigen müssten, was wäre dann mit Lückenbüsser Gott? Würde er sich nicht auch, wie vor kurzem in Deutschland, in sein Gegenteil verwandeln? Im Grunde befinden sich die Amerikaner noch immer im honey moon mit ihrem Gott. Was, wenn das verflixte siebte Jahr kommt und die ersten Scheidungsgerüchte entstehen? Dann werden sie die Symbiose von verborgenem und offenbaren Gott hautnah erleben oder: wer sich mit Gott einlässt, kriegt‘s garantiert mit dem Teufel zu tun.

(Eric T. Hansen in der ZEIT)

 

Ist uns da etwas entgangen? Oder ist Brumliks Zurückstufung der israelischen Demokratie in eine Ethnokratie – man müsste von Willkürherrschaft einer Volksgruppe sprechen – einer plötzlichen Erleuchtung zu verdanken? Gewiss hat er den Staat bisher nicht unkritisch gesehen, allein, was ein Publizist nicht regelmäßig publiziert, ist seine Privatsache und keine öffentliche Angelegenheit.

Warum eine Ethnokratie – man will wohl den Begriff Diktatur einer Ethnie vermeiden – „zunächst nicht autoritär sein soll“ erschließt sich nicht. Wenn es keine allgemeinen Gesetze für alle gibt, ist die Gruppe autoritär.

Brumlik beruft sich auf den orthodoxen Juden Gershom Gorenberg, der nichts weniger als eine Neugründung Israels fordert. Was bedeutet, das zionistische Experiment ist selbst in jüdischer Perspektive gescheitert und müsste eine zweite Chance auf dem Boden von Menschenrecht und Völkerrecht erhalten. Der deutsche Titel des Buches „Israel schafft sich ab“, ist derart alarmierend, dass alle Philosemiten Deutschlands nicht mehr zum Schlaf der Gerechten finden dürften.

Im Land der zweitbesten Freunde Israels ist die Reaktion auf diesen präsuizidalen Warnruf – gleich Null. Wo ist die Springerpresse mit Aufrufen zur Rettung des Landes? Wo sind all die besonders Verantwortlichen vor der Geschichte, die alle Schandtaten der Jerusalemregierungen mit feigem Kopfnicken unterstützten?

Deutschland hat sich erneut schuldig gemacht, indem es sich nicht mehr schuldig machen wollte. Es hat die falschen Konsequenzen aus seiner historischen Schuld gezogen und sehenden Auges die junge Nation ins Verderben stürzen lassen. Es ist, als ob man einem Selbstmordkandidaten auf dem Dach des Hochhauses zurufen würde: spring doch, meine besondere Verantwortung hindert mich daran, dich zu retten.

Zudem hat sich Deutschland am Elend des palästinensischen Volkes mit schuldig gemacht.

Was momentan geschieht, ist ein Totalbankrott der deutschen Gesellschaft in ihrer Beziehung zum jüdischen Volk, vornehmlich zu deren politischen Eliten. Der CDU-Parteitag hat sich gerade mit Selbstbelobungen und Schalmeienklängen gefeiert, das Thema Israel kam gar nicht vor. Absurder und perverser kann Freundschhaft nicht sein.

Wenn man eine Freundschaft an solidarischer Kritik erkennen kann – warum dann nicht in den deutsch-israelischen Beziehungen? Liegt hier keine Freundschaft vor oder ist der Grundsatz falsch? Kann man all seine Freunde wohlwollend kritisch behandeln, nur bei besonderen Freunden gilt das Gegenteil?

Hier zeigt sich der Sonderwege-Autismus der Deutschen in besonders verhängnisvoller Weise. Universelles Denken – ja, für den ordinären Alltag. Doch geht’s ans Besondere, muss das Universelle als plattmachende Gleichmacherei verabschiedet werden. Ziehet die Straßengaloschen aus, wir betreten heiligen Boden.

Ab jetzt gelten besondere Gesetze für beiderseits Auserwählte. Opfer und Täter schlossen sich in einer heiligen Symbiose zusammen, die vor lauter Schuldheiligkeit, Bußidolatrie und wahrnehmungsloser Reedukation die Bodenhaftung verlor. Waren Juden und Deutsche bereits vor dem Verhängnis wie Esau und Jakob – wer ist der wahre Erwählte und wer hat die echte Linsensuppe? –, fügten beide rivalisierende Zwillinge ihrer gemeinsamen, ineinander verbissenen Geschichte ein neues Kapitel bei: Schuld, Vergebung, Versöhnung und Wiedergutmachung auf allerhöchstem Weltniveau.

Wie die Stimmen und Mienen schon heiligmäßig tremolieren, wenn’s ums Bekennen der Besonderheiten geht. In den Talkshows kann man schon an der feierlichen Modulation der Stimmen hören, welches Thema jetzt angesprochen wird.

Wenn die jährlichen Rituale fällig sind – so gut wie immer ohne ordinären Pöbel – hört man den Weltgeist ohne Schimmel durch die guten Stuben des Parlaments reiten.

Die Deutschen wollten vorbildliche Sünder sein, doch sie versanken in hybridem Sündenstolz und übersahen vor Selbstkasteiung nicht nur die Fehlbarkeit der Opfer – auch Opfer sind nur fehlbare Menschen –, sondern auch den palästinensischen Bruder, der unversehens ins Getümmel gezogen wurde.

Warum ist Gorenberg für Brumlik über jeden Verdacht erhaben? Weil er rechtgläubig ist? Garantiert der rechte Glaube etwa Unfehlbarkeit, obgleich viele Rechtgläubige theokratische Ultras sind? Ist ein „überkandidelter Linker“ per se unglaubwürdig? Wird hier von der Klischee-Einschätzung einer Person auf seine Meinungen geschlossen? Oder werden erst Meinungen überprüft, um auf den Meinenden zurückzuschließen?

Woran soll man von außen den Selbsthass eines Menschen erkennen, ein Begriff, der schon bei Theodor Lessing nicht klar war? Ist jede Form von Selbstkritik automatisch Selbsthass? Oder ab welcher Grenze beginnt er dazu zu werden? Jede Form von jüdischer Selbstkritik wird bei Broder inflationär als Selbsthass verflucht, Selbsthass ist schlimmer, als vom Teufel besessen sein.

Solche Rundumkeulen taugen zu nichts als zu allgemeiner Drohung vor jeder Form von Kritik und haben die Beziehungen zwischen kritiklosen Narzissten und kritischen Selbsthassern verseucht. Warum gibt es keine öffentliche Debatte zwischen Broder und Uri Avnery? Zwischen Graumann und Moshe Zuckermann? Zwischen Michel Friedman und Gideon Levy?

Wer drückt sich hier und welche deutschen Medien unterstützen die Debattenflucht derer, die in einer solchen Debatte den Kürzeren ziehen würden? Bestimmten Lokalmatadoren wird von den Öffentlich-Rechtlichen ganz selbstverständlich das Privileg eingeräumt, bestimmten Andersdenkenden ganz selbstverständlich aus dem Weg zu gehen.

Es ist absolut notwendig, den Deutschen auf die Finger zu schauen. Man kann sie nicht sich selbst überlassen. Man kann ihnen keinen Zentimeter über den Weg trauen in ihrem selbstgefälligen Vergangenheitsbewältigungsbombast. Wären sie nicht in der europäischen Völkergemeinde eingebunden, wären wir schon längst wieder auf Sonder-Abwegen.

Bis in die 90er Jahre gab es noch erkenntnisreiche Beiträge und erhellende Hinweise von jüdischer Seite zur Aufklärung der Vergangenheit. Seitdem verhärteten sie sich in erkenntnislose Strafrituale mit Hilfe eines allpräsenten Antisemitismus-Paragrafen, der inzwischen keinerlei Wirkung mehr zeigt, obgleich die wahren Quellen des Antisemitismus noch nicht mal gesichtet wurden.

Mit Gorenberg fordert Brumlik eine strikte Trennung von Synagoge und Staat, während er in der hiesigen Beschneidúngsdebatte just diese Trennung missachtet und rein theologische Argumente für ausreichend hält, um den – im Zweifelsfall – antisemitischen Gottlosen die Krallen zu schneiden.

Mit keinem Wort geht Brumlik auf die verhängnisvolle Rolle der Ultras im israelischen Gemeinwesen ein. Anstatt eine radikale Religionskritik vorzulegen, wird das Religiöse – sofern es nicht „missbraucht“ wird – in aller Form rehabilitiert.

So wichtig Brumliks Forderung nach einem Neuanfang ist, sein Artikel klingt wie eine Übersprungshandlung ohne Saft und Kraft. In notwendiger Israelkritik sind deutsche Juden bislang nicht rühmlich hervorgetreten. Zumeist wollen sie gefragt werden, ob Kritik an dem jungen Staat überhaupt gestattet sei. Dann hört man, sie selbst würden die Verhältnisse äußerst kritisch betrachten.

Doch dabei bleibt‘s, was sie zu sagen hätten, bleibt ungesagt. Vor kurzem hörte man noch den Zusatz: in Israel gäbe es viel kritischere Stimmen als bei uns. Toll, dann kann man hier ja für immer die Klappe halten. Offensichtlich gilt hier das neutestamentarische Motto: Wer sich selbst richtet, wird nicht gerichtet werden Schon gar nicht von ehemaligen Tätern.

(Micha Brumlik in der SZ)

Einen typischen Artikel in opfer-überidentischer Gehorsamsleistung kann man im SPIEGEL finden, getarnt als Rezension des Buches „Allein unter Deutschen. Eine Entdeckungsreise“. Verfasser ist der New Yorker Tuvia Tenenbom, Sohn von Holocaust-Überlebenden: „das erstaunliche Porträt einer Nation, in der mancher die Israelis für die wahren Nazis hält“. (Sebastian Hammelehle im SPIEGEL: Willkommen im Land der Täter)

Natürlich wird nicht genannt, wer die Israelis für Nazis hält. Ein paar „krude Dumpfbacken“, die repräsentativ für Deutschland sein sollen?

Wenn Kritik an einem Land lange Zeit unter Kuratel stand, kann man sich an fünf Fingern ausrechnen, dass jede Dennoch-Kritik affektiv übers Ziel hinausschießt. Das weiß jeder Kraut- und Rübenpsychologe. Äußerungen im Affekt muss man – wenn man verstehen will – nicht zum Nennwert nehmen. Das Grass-Gedicht war aus Sorge überzeichnet. Bei solch verständlichen Fehlleistungen Exorzismus mit Feuer und Schwefel zu betreiben, zeugt von Dauerspannung aus überzogenen Rachezwängen, die sich als Rache nicht erkennen dürfen.

Auf seiner Reise durch Deutschland trifft der Autor auf wenig offene Judenhasser. Ist das keine Leistung? Wie oft wird von Avi Primor, Alfred Grosser und anderen erklärt, Deutschlands Antisemitismus halte sich vergleichsweise in Grenzen? Warum kommen so viele Juden nach Berlin? Weil dort die Judenhasser en masse zu Hause sind?

Warum werden in solchen Artikeln so gut wie nie andere Stimmen erwähnt? Warum wird permanent der Grundsatz verletzt; audiatur et altera pars, die andere Seite muss auch gehört werden?

Wie erkennt man unoffene Judenhasser? Eben daran, dass sie nicht offen sind. Wobei unterstellt wird, dass die meisten Deutschen Judenhasser sind, die nur zu feige seien, es einem Juden ins Gesicht zu sagen. Kann es, halten zu Gnaden, auch einen jüdischen Deutschenhass geben, der sich als unparteiliche Objektivität tarnt?

Die Enttarnung der unoffenen Judenhasser funktioniert wie bei der Inquisition. Wer gesteht, ist schuldig; wer nicht gesteht, ist erst recht schuldig, dazu hinterhältig und verstockt. Beweise? Dass er nicht gestanden hat. Im deutsch-jüdischen Verhältnis geht’s zu wie bei den mittelalterlichen „Beweisverfahren“.

Selbstverständlich wusste der Buchautor schon vor seiner Reise, welch hinterlistige und feige Antisemiten fast alle Deutschen sind, denen er den Star stechen wollte. Seltsam, dass er fand, was er offenbar schon immer wusste. Selbstredend in lässigem und selbstironischem Ton formuliert, was für deutsche Rezensenten schon den Wahrheitsbeweis des Buches ausmacht.

Die normalen Deutschen, die der Rechercheur trifft, „legen Wert auf eine propere Optik, sind ziemlich bierselig und haben ein Faible dafür, in der Masse aufzugehen.“ Hat die deutsche Antisemitismus-Forschung nicht längst bewiesen, dass es eine Korrelation zwischen Bierkonsum, properer Kleidung und Judenhass gibt? Fehlt nur noch die Kontrollgruppe der Philosemiten, die man an ihrem überproportionalen Verbrauch von Lindenblütentee erkennt.

Ein Gutteil der Leute würde den Holocaust durchaus bedauern, „äußerten sich aber explizit israelkritisch“. „Sie feiern die toten Juden, sind aber an ihrer Kritik an Israel unbeirrbar“, so Tenenbom. Kommentar des Schreibers: „Nur die toten Juden sind die guten Juden.“

Hier dampft der deutsch-jüdische Wahnsinn. Gibt es auf einmal „die Juden“? Gibt es nicht unendlich verschiedene jüdische Individuen? Ist es ein neues aristotelisches Gesetz der Logik, den Staat Israel nicht kritisch sehen zu dürfen, wenn man den Holocaust bedauert? Geht es hier nicht um völlig verschiedene Vorgänge in Raum und Zeit, um völlig verschiedene Persönlichkeiten?

Ist, wer das Alte Testament kritisiert, automatisch ein Hasser der Juden, weil das Alte Testament von den Juden geschrieben wurde? Geht es im Holocaust nicht um Schuld der Deutschen, die Juden zum Opfer gemacht haben? Geht es im Nahostkonflikt nicht um Schuld der Israelis, die Palästinenser noch immer zu Opfern machen?

Sind Opfer für alle Zeiten unschuldig? Täter für alle Zeiten schuldig? Können Opfer per se keine Schuld auf sich laden? Stehen sie durch ihr Opfersein über allen Gesetzen und Menschenrechten? Und umgekehrt: sind Täter – die gar keine Täter mehr sind – für immer unfähig, Unrecht von Recht zu unterscheiden?

Wie gönnerhaft es klingt, wenn den Deutschen eingeräumt wird, sie mögen sich als Hüter der Menschenrechte gerieren. Doch das berge die Gefahr der „Selbstgerechtigkeit“?

Wer die Einhaltung universeller Gesetze anmahnt, kann nicht selbst-gerecht sein. Er hütet nicht das Gesetz seines privatistischen Selbst, sondern das Gesetz aller. Wär‘s anders, müssten alle Richter und Staatsanwälte selbstgerecht sein. Hüter der Gesetze sind zu preisen, sofern sie keine Heuchelei mit ihnen betreiben.

Umgekehrt: ist nicht der Staat Israel selbst-gerecht, wenn er alle Völker- und Menschenrechte nach Belieben missachtet und das eigene Recht über alle Völkerrechte stellt? Ist es nicht eine besondere Art selbstgefälliger Unantastbarkeit, stets die anderen zu analysieren, die eigene Haltung aber fast immer auszublenden?

Immer ist es das Setting der Psychoanalyse, das hier zur Anwendung kommt. Die einen sind durchanalysiert und haben keinerlei Wahrnehmungsverzerrungen, den Knick in der Optik können dann nur die andern haben. Broder, ein Meister dieser Technik, übertrifft sich selbst, wenn er seinem Kontrahenten Augstein die Haltung vorwirft: Stinken würde immer der andere.

„Wie muss es den Nachfahren von Holocaust-Opfern vorkommen, von den Kindern und Enkeln der damaligen Täter über das Verhalten der Juden oder Israelis belehrt zu werden?“ Das kann man durchaus fragen, sofern es um die Erkundung von Gefühlen und nicht um die Bewertung von Sachargumenten geht. Kinder und Enkel aber von Tätern sind keine Täter mehr. Und haben nicht nur das Recht, sondern die Pflicht, jedermann gegenüber in der Welt ihre politische Meinung zu sagen. Vor allem, wenn es um Einhaltung grundsätzlicher Rechte geht. Das gilt vor allem gegenüber Freunden.

Ob die Deutschen mit ihrer Kritik an Juden ihr eigenes schlechtes Gewissen erleichtern wollen, ist a) nicht verboten und b) nur dann falsch, wenn die sachliche Kritik falsch ist. Motivationen spielen keine Rolle bei der Beurteilung von Meinungen und Erkenntnissen.

Das hat selbst der Erfinder der Psychoanalyse eingeräumt, der eine Sachdebatte nicht durch Motivationsanalyse ersetzen wollte. Das hat auch Popper in seiner grundlegenden Kritik an den Immunisierungsprozessen der Psychoanalyse klar herausgearbeitet.

Der gesamte jüdisch-deutsche Nichtdialog ist eine aus dem Ruder gelaufene kollektive Psychoanalyse-Karikatur, wo vermutete Affekte eine größere Rolle spielen als eindeutige Fakten und stichhaltige Gedanken.

Darf man Israelis mit Nazis vergleichen? Deutsche Stimmen obrigkeitshöriger Korrektheit kümmern sich um die Stimmen selbstkritischer Juden und Israelis nicht die Bohne. Sie plappern nur korrekt die Meinungen der beiden Regierungen daher.

Welcher israelische Jude sprach von Judennazis? Wer sprach den Satz, die Besetzungspolitik sei eine „nazistische Politik“? Es war Jeshajahu Leibowitz, die Vaterfigur von Uri Avnery. Wer nennt den jetzigen Außenminister Netanjahus – sowie einige vorgesehene Minister für sein neues Kabinett – Faschisten? Uri Avnery.

Solche Namen kennt man im deutschen Kopfnicker-Feuilleton nicht mehr. Die Stimme Zuckermanns, die der linken Zeitung Haaretz hört man hier so gut wie nie. Was sollen selbstkritische Israelis von solchen Kotau-Übungen der gleichgeschalteten deutschen Presse halten, die nichts anderes tut, als ihre übergroße Schuld durch Ausschaltung des eigenen Gehirns und durch Eliminierung aller sachlichen Argumente zu mildern?

Vergleiche sind selten Eins-zu-Eins-Vergleiche, sondern zumeist affektive Übertreibungen, die eine unterdrückte Sorge oder eine tabuisierte Kritik zum Ausdruck bringen. Wenn Israel eine konsequente Friedenspolitik betreiben würde, wie viel Antisemitismus wäre hierzulande noch zu finden?

Wer Kritik an Israel als Antisemitismus bezeichnet, will den wahren Ursachen des Antisemitismus aus dem Wege gehen. Wenn die Deutschen ihre Vergangenheitsbewältigung dadurch beweisen wollen, dass sie den Opfern Generalamnestie für alle völkerrechtswidrigen Verbrechen ausstellen, waren all ihre kreuz-tragenden Aktionen Sühnezeichen vergeblich.

Die Feigheit vor dem Freund schädigt nicht nur den Feigen, sondern auch den Freund. Das wurde vor wenigen Tagen in der UNO-Abstimmung über einen neuen Status des Palästinenserstaates vor aller Welt publik.

Wir können es drehen und wenden, wie wir wollen: Israel ist schon lange keine demokratische Villa im Dschungel mehr. Der einst so hoffnungsvoll gestartete Staat hat die Seiten gewechselt. Er ist zum Dschungel geworden.

Dies zu sagen, gebietet die besondere Verantwortung der Deutschen für Israel.