Kategorien
Tagesmail

Mittwoch, 04. Januar 2012 – Neidische Deutsche

Hello, Freunde Ungarns,

Paprika kann lebenserhaltend sein, die Puszta ist noch lange nicht verloren. Über 100 000 Menschen gehen auf die Straße, um gegen Orban zu demonstrieren, der keine Republik mehr haben, sondern die Religion stärken will, um mit klerikaler Hilfe die Demokratie abzubauen.

Warum gibt es bei uns keine Statements von Käßmann, Huber, Papst & Co gegen solche Cäsaropapismen? Warum wird hierzulande nie die Rolle der Religion erwähnt, die sich papistisch den Cäsaren unterwirft, indem sie das Volk den Pfaffen unterwirft?

Wie kann man das neonazistische Unwesen erklären und bekämpfen? Von Erklären und präventivem Verhindern hält Jan Feddersen nichts. Er reklamiert mutig Law und Order für die Linken. Wenn sonst nichts hilft, hilft der weiträumig verteilte Polizeiknüppel.

Götz Aly ist kein Unternehmer, sondern Historiker, vermutlich fühlt er sich als historischer Unternehmer, der in dumpfen Uniseminaren für Durchzug sorgt. Durch die neonazistischen Morde an türkisch-stämmigen Kleinunternehmern fühlt er sich in seiner These bestätigt, dass auch im Dritten Reich der Neid auf fremdartige Erfolgreiche die Deutschen ins Verbrechen geführt hätte.

Wären die Deutschen nicht so risikoarm, freiheitsallergisch, gemütlich und sicherungsbedacht, hätte es keine ultrarechten Morde an Fremden geben können. Fremdenfeindlichkeit sei verdeckte Unternehmerfeindlichkeit, so der

historisch-politische Erklärer mit dem fremdenfreundlichen Nachnamen. Schon der Antisemitismus der Nazis sei nichts als Neid auf Tüchtigere gewesen, die einer anderen Religion oder Rasse angehörten.

Zweifellos ist Neid ein wichtiger Bestandteil der Ablehnung erfolgreicher Minderheiten, die sich weit über ihre Quantität gesellschaftlichen Einfluss durch Geist, Geld und Macht zu sichern scheinen. Meistens sind es Klischees, die eine Rolle spielen, doch nicht alle Klischees müssen falsch sein.

Ob Klischees richtig oder falsch sind, hängt von ihrer Überprüfung ab. Dass Stradivaris einen unvergleichlichen Klang hätten, war bis vor kurzem ein ästhetisches Klischee der Sonderklasse, nun hat es sich als falsch erwiesen.

Neid beruht, wie Anerkennung und Bewunderung, auf subjektiven Einschätzungen. „Ich danke für ihre Einschätzung“, lautet der momentane Standardsatz deutscher TV-Moderatoren nach Interviews mit Kollegen. Bei Politikern würden sie das nie sagen: „Ich danke Ihnen für Ihre Einschätzung, Herr Wulff.“ Warum nicht? Weil Journalisten nur Journalisten für kompetent halten, objektive Einschätzungen der komplexen Lage abzuliefern. Wobei Ein-schätzen den objektiven Charakter einer Aussage sofort wieder reduziert.

Wer Gewicht, Größe gewisser Objekte, demonstrierende Menschenmengen oder reale Machtverhältnisse nur schätzen kann, weiß nichts Genaues. Schätzen heißt erfahrungsgesättigtes Vermuten, wobei Erfahrungen sehr irrtumsfähig sein können. Wie will ich einschätzen, ob ein Mensch, eine Gruppe, ein Unternehmer, diverse Medien zuviel, zuwenig oder angemessene Macht in der Gesellschaft besitzen?

Da ist zuerst ein schier hoffnungslos unentwirrbarer Sturzregen von Informationen, die auf einen Menschen im Laufe seines Lebens einprasseln: die empirischen Bestandteile der Schätzung. Wichtiger ist das zumeist unbewusste theoretische Bewertungsschema der Informationen, das zum Fazit der Einschätzungen führt.

Hier kommen wir am Problem der Gerechtigkeit nicht vorbei. „Ach wissen Sie, Herr Pleitgen, mit der Gerechtigkeit ist das so eine Sache. Jeder hat seine eigene Anschauung, was Gerechtigkeit sein soll.“ So begann die Auseinandersetzung mit dem neu aufkommenden Neoliberalismus im ARD-Presseclub. Da nickten die Moderatoren beflissen – und stellten die nächste Frage.

Erst als der Neoliberalismus allmählich zu sinken begann, wurde Gerechtigkeit ein bisschen unter die Lupe genommen. Wenigstens in den ersten fünf Minuten, um schnell im Dickicht der Schlagworte zu verschwinden. Sokratisch strenge Gespräche im deutschen TV? Da würde der Quotengott persönlich mit Blitz und Donner dreinschlagen. Selbst unsere Genies bevorzugen unternehmerisch-freies Assoziieren bei geistsprühenden Gipfelgesprächen.

Über sokratische Hebammenmethode präzisen Nachfragens und Duellierens mit Hilfe der Logik gäbe es nur homerisches Gelächter. In einem Managerhandbuch war zu lesen, Sokrates sei der abendländische Erfinder der Manipulationskunst. Mit Fang- und Suggestivfragen habe er seine Dialogpartner zur Zustimmung genötigt.

Alerte Zeitgenossen rivalisieren um alles, nur nicht um Erkenntnisgewinn, den man früher Wahrheit nannte. Nichts Schlimmeres als im logischen Duell wegen nicht stichhaltiger Argumente sein Gesicht zu verlieren.

Im wirtschaftlichen Fight abzustürzen, ist wohl peinlich, aber nicht ehrenrührig. Am Glücksspiel hat man sich versucht, das Glück hat einem im Stich gelassen, der Herr hat gegeben, der Herr hat genommen. Aber nach Regeln zu streiten und zu verlieren: das wäre öffentliche Kastration auf dem athenischen Marktplatz.

Aus all diesen Gründen wird heute nicht in notwendiger Strenge debattiert. Niemand will seine Macht durch mangelnden Geist riskieren. Also dozieren sie aufeinander ein, am liebsten synchron.

Wer über Gerechtigkeit nicht reden will, muss über Neid schweigen. Bin ich neidisch, wenn ich etwas für ungerecht halte? Konservative und Reiche deklarieren alle Kritik am Großen Geld als Neid, Linke erklären Neid als Empfindung mangelnder Gerechtigkeit. Solange kein Konsens über Gerechtigkeit herrscht, kann Neid nicht definiert werden.

Alle sozialen Einschätzungen beruhen auf Vergleichen. Ist jemand erfolgreicher als ich, den ich für weniger tüchtig halte, den beneide ich: seinen Erfolg halte ich für ungerecht. Könnte ich den objektiven Beweis fehlender Gerechtigkeit führen, wäre mein Neid gerechtfertigt.

Halte ich den Rivalen für kompetenter als mich, wäre ich in der Lage, den Überlegenen neidlos anzuerkennen. Kann ich mich objektiv mit anderen nicht vergleichen, bin ich zu ewigem Neid verurteilt. Das wiederum hängt von meinem Selbstwertgefühl ab. Bin ich selbstbewusst, kann ich andere anerkennen, auch wenn sie besser sind. Fühle ich mich wie ein Nichts, werde ich krank vor Neid.

In einer Gesellschaft selbstbewusster Individuen wäre Neid kein Problem. Die Nazigesellschaft kann nur aus psychischen Wracks bestanden haben, sonst wären sie auf andere nicht krankhaft neidisch geworden. Hier hätte Götz Aly ansetzen müssen, um den Neid herzuleiten und zu erklären, der nicht ursachenlos vom Himmel fällt.

Bei der Diagnose Neid zu verharren, ist oberflächlich und erkenntnislos. Es ist, als wollte man Wetter durch klimatische Gründe, Wasser durch Wasserhaftigkeit erklären. Aly begnügt sich mit neoliberal aufgebretzelter Anklage, die eher heutigen Zeitgenossen gilt als den Vorvätern des Grauens.

Warum waren Deutsche seelisch so am Boden, dass sie den Erfolg anderer nicht anerkennen konnten und sich gezwungen sahen, ihre Misere mit der Existenz fremder Sündenböcke zu erklären, die sie beneideten und hassten?

Die unmittelbaren historischen Ursachen kennt jeder: Niederlage im Ersten Weltkrieg, Versailles, Reparationszahlungen, Weltwirtschaftskrise. Da waren die Neoteutonen gerade dabei gewesen, nach langem Zurückgebliebensein sich ein Plätzchen in der ersten Reihe zu erkiesen, schon schlug der himmlische Vater zu.

Für deutsche, religiös sozialisierte Eliten war der Weltkrieg ein Gottesbeweis. Unerschütterlich glaubten sie an die Überlegenheit des deutschen Wesens, das sich in militärischen Mitteln offenbaren würde. „Immer wird für uns der evangelische Satz gelten: Die Wahrheit (und das Gutsein) wird euch frei machen – und nie der umgekehrte: die Freiheit wird euch zur Wahrheit und zum Guten führen“, schrieb Max Scheler in seinem Buch: „Die Ursachen des Deutschenhasses.“

Also wieder Neid. Diesmal der oberflächlichen Westländer gegen das von Gott mit Wahrheit privilegierte und gesegnete Deutschland. Die Niederlage führte zum desolaten Weltuntergangsgefühl, dass hienieden es nicht mit gerechten Dingen zugehen könne. Der Neid wurde zum Zorn, zur unbändigen Berserkerwut auf die Sündenböcke.

Eigentlich hätten sie mit ihrem treulosen Gott hadern müssen, doch das war zuviel verlangt von einer christlichen Nation. Also vergriffen sie sich an jenen, die sie für Gottes Büttel hielten, um sie ins Elend zu stürzen.

Gibt es bei Gott Gerechtigkeit auf Erden? Natürlich nicht, sonst wären wir ja schon im Himmelreich. Der Fromme muss sich mit irdischen Benachteiligungen abfinden, das letzte Wort wird erst im Jenseits gesprochen.

In erster Linie geht es gar nicht um gerechte Verhältnisse für den Menschen, sondern um Gerechtigkeit für Gott. Denn Gott ist ein eifersüchtiger Gott, Eifersucht ist nichts anderes als Neid. Beneidet Gott seine eigene Kreatur?

Viele Götter beneiden die Menschen, trotz Omnipotenz macht Jahwe keine Ausnahme. Gerecht ist für Ihn, wenn Er nicht mehr eifersüchtig sein muss auf die Fähigkeiten der Menschen, ihr irdisches Leben unabhängig und selbständig zu gestalten. Aller Heil und Segen der Irdischen muss durch Ihn kommen, die Kreatur darf nicht erwachsen werden.

Auch Gott leidet. Er ist eine transzendente Mimose. Er leidet unter mangelnder Dankbarkeit seiner Kinder und ihrem widerwärtigen Selbständigseinwollen, das Ihn zum alten Eisen werfen will. Gott will gebraucht werden: immer und ewig und in allen Dingen. Wozu hat er Allmacht erlernt, wenn seine Macht und Fähigkeiten nicht benötigt und abgerufen werden?

Der Verlorene Sohn ist der ideale Sohn. Erst versucht er es allein. Dann versagt er wunschgemäß, um dem Vater die Ehre der Unersetzlichkeit zurückzugeben.

Der Gläubige stellt den eifersüchtigen Gott in den Mittelpunkt seines Lebens. Er ist Nichts, der Herr ist alles. Der Ungläubige hingegen will selber etwas sein. Gott ist für ihn immer weniger, bis er ihn nicht mehr benötigt. Ade, Vater, Du musst ins Altersheim, dein Typ wird nicht mehr gebraucht.

Christentum ist religiös versteinerte Psychologie, Heilsgeschichte die Geschichte eines verschärften Generationenkonflikts und einer misslungen Ablösung der Kinder. Sie dürfen sich nicht lösen, sie müssen sich er-lösen lassen. Dabei hat Gottvater selbst zugegeben, dass er mit seinem Latein am Ende war, als er in der Mitte der Zeit die Geschäfte an seinen Sohn übergeben wollte. Doch auch der durfte sich nicht abnabeln und keine emotionalen Beziehungen zu seinen irdischen Geschwistern herstellen. Zur Strafe für seinen rebellisch geäußerten eigenen Willen: „Lass diesen Kelch an mir vorübergehen“, musste er mit dem Vater völlig verschmelzen: „Wie Du in mir bist, bin ich in dir“.

Als in Griechenland die Philosophie begann, sich von Traditionen und Autoritäten zu lösen, sickerte der emanzipatorische Virus auch ins Heilige Land und erzeugte das halbherzige Christentum, dessen Versuch, autonom zu werden, in einem kompletten Desaster endete. Der frei sein wollende Gläubige – der im ursprünglichen Judentum noch eine Art gleichberechtigter Partner Gottes war: wir glauben an Dich, wenn Du uns Glück und Segen bringst – wurde zum sündigen Nichts, der göttliche Erlöser zu Allem.

Als die Deutschen die christliche Heilspsychologie verinnerlichten, in der Aufklärung dagegen ankämpften, den Kampf schließlich verloren, war’s um sie geschehen: sie machten sich zu Nichtsen und beneideten den Rest der Welt. Am meisten die wahren Kinder Gottes, denen sie offensichtlich das Wasser nicht reichen konnten. Das Massaker der Eifersucht konnte beginnen.

Es war tatsächlich Neid, der die Deutschen ins Verderben trieb. Aber nicht Neid auf schnöden Erfolg, sondern auf die religiös erstarrte Liebe und Anerkennung eines Vaters, nach dem sie sich sehnten, sich zurückgestoßen fühlten, von dem sie sich gleichwohl nie lösen konnten.

Das fremdenfreundliche Land seiner utopischen Träume wäre für Götz Aly ein Land voller selbständiger Unternehmer, die alle ähnlich erfolgreich wären, um sich nicht gegenseitig zu beneiden. Das wäre eine Synthese aus deutscher Gleichheit und angelsächsischer Rivalität. Man könnte auch von einem hölzernen Eisen sprechen.