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Mittwoch, 01. Februar – Gefälliges Mitschwatzen

Hello, Freunde des gefälligen Mitredens,

dem Volk aufs Maul schauen, das wollte Luther, übersetzte die Bibel ins maulende Deutsch des Volkes und „schenkte den Deutschen ihre Sprache“. So die Legendenbildung der Gelehrten und Großen-Männer-Verehrer.

Es war umgekehrt, die urtümliche Sprache war die des Volkes, das sich mit Hilfe Luthers selbst eine Sprache schenkte, der wackere Augustiner diente nur als Protokollant.

Heute haben die Intellektuellen eine neulateinisch-denglische Meta-, Labor- und Elfenbeinturmsprache entwickelt, die sie selbst nicht verstehen. Was sie auch gar nicht müssen, Hauptsache, „sie können schreiben“. Noch niemand hat behauptet, dass sie lesen können. Hat mal jemand einen Pisatest mit Erwachsenen gemacht, wer einen üblichen Floskeltext „Auf Seite drei“ in mündiger Rede rekapitulieren kann?

Mündigkeit ist die Salonausgabe der Mäuligkeit, die keinen guten Klang mehr hat. Wer heute nölt und mault – stimmts, Alan Posener? –, der hat schlechte Karten im höheren Chor der Hofberichterstatter des Zeitgeistes.

Hat mal jemand untersucht, wie viel Prozent einer voluminösen Tageszeitung wirklich gelesen werden? Ich schätze zwischen 2,75 und 3,99%. Also die Schlagzeilen, zuerst in Sport, dann Regionales, die Klatschgeschichten der verliebten, getrennten, nackerten, angezogenen, verschuldeten Alzheimer-VIPs, der letzte Blick gilt der Politik, dann Kaffee und

Abmarsch ins feindliche Leben. Für dieses Drüberlesen in einsdreißig müssen täglich riesige Wälder in Kanada, Finnland und in der Taiga dran glauben.

Gottseidank ist Natur unmündig und kann nicht maulen. Was nicht bedeutet, dass sie sich nicht zu Wort melden kann, doch dann rasselts und die Zeitungen haben ihre Lieblings-Schlagzeilen: immer öfter schlägt Natur zurück.

Galilei konnte in der Natur lesen wie in einem heiligen Buch, allerdings nicht in Buchstaben, sondern in Zahlen und Figuren geschrieben. Bücher kann man zuschlagen und weglegen, wenn man keine Lust mehr auf Offenbarungen hat. Natur kann man auch schlagen, zuschlagen und weglegen, wenn man sie zur Ader gelassen hat – dachte man bisher.

Doch in letzter Zeit wird sie dreister und will partout kein Buch mehr sein, das man nach Notzüchtigung gelangweilt in die Ecke pfeffert. Was will sie uns damit sagen, diese immer zickiger werdende Tante, die ihre besten Jahre auch schon überschritten hat?

Demokratie ist nichts für Feingeister, die sich abends bei Freunden zum pöbelfreien Diner im Kaminzimmer treffen, um das materielle Sättigungsgeschehen mit Esprit zur Vollendung zu bringen. Seit Kant den unverzeihlichen Fehler machte, das Volk zum sapere aude aufzurufen, will jeder Hornochse mitreden.

Nur gut, dass der Königsberger nicht lutherisch sprach: „Leut, machts Maul auf“, sondern lateinisch, weswegen die so verführerisch fremd klingende Formel von Gymnasiallehrern, Berufsgrantlern, flachen Atheisten und sonstigen Typen, die dem Verfassungsschutz das Leben schwer machen, so gern deklamiert wird. Das sapere aude versteht eh niemand.

Früher quacksalberten die Heiligenversteher in Küchen- und Kirchenlatein, damit das ungewaschene Volk mentalmäßig nicht überfordert werde und sich lieber die Bilder – die Vorläufer der heutigen Comics mit Jesus als Supermann – an den Kirchenwänden anschaue. Dito treibens die Intellektuellen von heute, am liebsten erzählen sie „Geschichten“ und „denken in Bildern“. Womit endgültig bewiesen, dass wir zukunftsfest ins Mittelalter zurückgekehrt sind.

Da gab’s neulich mal den mittleren Aufstand einiger BWL-Studis, die tatsächlich die Forderung erhoben, ihr Fach verstehen zu wollen: Professoren, erklärt uns endlich die Krise. Studenten glauben noch immer an das Gute und daran, dass ihre ökonomie-sprechenden und mathematisch denkenden Superlehrer ihr Fach selbst verstehen.

Diesen Beweis sind uns letztere bis zum heutigen Tag schuldig geblieben. Ja, die meisten gaben an, sie hätten weder was vorausgesehen, noch würden sie im Nachhinein irgendwas verstehen. Da gab es einen einzigen deutschen Professor mit Namen Max Otte, ich glaub aus Worms, der wurde fleißig von Phönix eingeladen, weil er den Crash vorausgesehen haben wollte. Vermutlich war’s nur ein deutscher Apokalyptiker, der rein zufällig nicht ganz daneben lag. Die Verhältnisse müssen sich ziemlich normalisiert haben, denn Herr Otte war schon lange nicht mehr in der illustren Phönixrunde zu sehen.

Die Herren über die Medien haben ein feines Gespür für Zeitgeistzeugen. Wenn’s aufwärts geht, besetzen Metzger, Hundt und Henkel die Runden, wenn’s kriselt, Sozialbischof Hengsbach, der prächtige Philosoph Precht mit einem seiner vielen Ichs und das fotogenste Gesicht der Piraten. Geissler ist immer dabei.

Diesen dreisten Bätschelerbürschchen antwortete tatsächlich ein veritabler Katheder-Asozialist, sie sollten erst mal ökonomisches Wissenschaftslatein lernen und sich an Leib und Seele säubern, bevor sie das Allerheiligste betreten dürften. Ganz ungewöhnlich für smarte Aufwärtsstrebende, maulen die noch immer.

Womit wir bei Harry Nutt von der FR/BZ wären, der seiner Presseschau über Davos das Sätzchen vorausschickt: „Inzwischen gehört schneidige Kapitalismuskritik wieder zum Repertoire des gefälligen Mitredens.“ Man muss wissen, dass Nutt zu den linken Mittlern gehört, die keinen gesteigerten Wert drauf legen, dass ihr Publikum dies mitkriege.

Da wir gerade bei der „Phänomenologie der Mittler“ sind, müssen wir nebenbei bemerken, dass diese Berufsgruppe sich gern in der Mitte zwischen Denendaoben und dem Fußvolk aufhält. Sie reichen Offenbarungen von oben nach unten und übermitteln die Dumpfatmosphäre fein dosiert von unten nach oben, damit Diedaoben nicht ganz den Kontakt zu den Eingeborenen verlieren.

Sie selbst, die Mittler, haben eigentlich keine große Meinung. Sie halten sich alles offen, erfinden sich ständig neu und hassen Rechthaber wie sich selbst.

Als der neoliberale Tsunami der letzten Jahre unser armes Vaterland überschwemmte, waren die linken Mittler so offen und tolerant gegen alles, was sie bislang verabscheut hatten, dass sie keine veralteten Gerechtigkeitsthesen festhielten und schon mal die besorgte Frage stellten: wer eigentlich soll diesen luxuriösen Sozialapparat bezahlen, bevor unsere staatlich geplagten und Arbeitsplätze schaffenden Weltfirmen fluchtartig das Land verlassen und sich nach Ungarn absetzen müssen?

Man beachte die Quote benutzter Trendwörter, dann weiß man, was der Kairos geschlagen hat. Vor kurzem noch hat‘s in allen Medien rauf und runter outgesourct, heut kehren alle Steuerflüchtlinge leise weinend zurück, von der Erkenntnis erfüllt, dass es nirgendwo so schön, zuverlässig und profitsicher zuginge wie in deutschen verdi-gesicherten Landen.

Es war das Volk, die Basis, der außerparlamentarische Raum, Herr Nutt, die den Widerstand gegen Big Money aufrechterhielten. Unter viel Gehöhne der Schreiber über die ewig alten Parolen des Klassenkampfes. Nun springt sie schnell wieder auf den neuen Zug der Kapitalismuskritik, die fliegende Truppe der „Beobachter“ – und verweist das Volk auf die Plätze gefälliger Mitschwätzer.

Warum gibt es eigentlich keine pfiffigen Medienwissenschaftler, die das Gesamtprofil der Tageschreiber, ihre gedanklichen Konjunkturkurven der letzten Jahre rekonstruieren und mit ihren je neuen und wendigen Erkenntnissen der Jetztzeit konfrontieren?

Die Gazetten leben vom gnädigen Vergessen des viel zu wenig nachtragenden Publikums. Mit der Meute kann man’s machen, die ist in der Regel gutmütig. Die Brahmanen der Feder sitzen immer richtig, passen auf wie Schießhunde, dass ihnen niemand den Posten der Fenstergucker und Mauerschauer wegnehme.

Prophete links, Prophete rechts, Eliten oben, die Vielzuvielen unten: die sehr gut schreiben könnenden Protokollanten stets in der angewärmten Mitte. Wie wär’s, ihr Bodyguards der Mächte, wenn ihr euch mal ganz neu erfinden und – den Abgang machen würdet? Wir weinen euch bestimmt eine Träne nach.

Dirk Schümer sieht Europa längst in der postdemokratischen Epoche. Mit anderen Worten: Demokratie ade, du hast genug gepennt. EU-Kommission, Zentralbank, Ratingagenturen, Hedgefonds und Zocker haben das Kommando übernommen und spielen dieselbe Rolle in Brüssel wie das kommunistische ZK in Peking.

Das Geld plustert sich derart ungeniert auf und macht in Zeitdruck, dass kein solide arbeitendes Parlament in der Lage wäre, deren erpresserische Forderungen in Normalzeit zu überprüfen und abzuarbeiten. Wie kann man, wenn Demokratie am Absaufen ist, ein soziologisch harmlos klingendes Kunstwort wie Postdemokratie benutzen?

In früheren Zeiten, als man noch die Dinge bei Namen nannte, sprach man von Diktatur und Faschismus, um nichtdemokratische Zustände zu brandmarken und zur Gegenrevolution aufzurufen. Doch wer wird sich heute noch an solchen Tabuwörtern die Finger schmutzig machen? Beobachter sind doch keine Agitatoren. Wenn sie mal eine Demo beobachten müssen, liest sich ihr Artikel wie der Bericht eines Ethnologen über einen Studienaufenthalt bei Eingeborenen am Orinoko.

Nutts Kollege Holger Schmale will da nicht zurückstehen und hat das Thema Gerechtigkeit im amerikanischen Wahlkampf entdeckt. Dann muss ja was dran sein, wenn Obama seine neuesten Wahlkampfillusionen mit diesem unamerikanischen Thema illuminieren will. Schon tut der FR-Mann, als habe er das Thema in Deutschland erfunden. Die Linke, ja, die habe zwar das Wort in ihrem Programm, aber nur „reflexhaft“, zudem völlig erfolglos. Na klar, wie oft wurde die Partei von der Schreiberzunft in die Restmülltonne gestoßen?

Schmale stellt tatsächlich mal kritisch klingende Fragen. Doch im selben Satz nimmt er sie zurück und „relativiert“ sie, damit niemand auf die Idee kommt, ein Schreiber verwechsele seinen Job mit dem eines Agitators: „Das mag eine unsachliche Frage sein.“ Wenn sie unsachlich ist, warum wird sie gestellt, wenn nicht, warum wird sie a posteriori kastriert? Selbst auf den möglichen Vorwurf ist der Autor vorbereitet, seine Gedanken seien „platte Klassenkampfparolen“. Souverän reagiert er: „Bitte sehr. Aber sie folgen einer gesellschaftlichen Realität.“

Warum erwähnt Schmale nicht, dass seine Zunft es war, die diese platten Antiklassenkampfparolen verbreitete? Das ist Geschichtsfälschung durch protokollarische Nichterwähnung des Relevanten. Wie immer können die flotten Federn nicht zwischen Sein und Sollen unterscheiden, Fachleute sprechen vom Naturalistischen Fehlschluss.

Deshalb begründet der Autor seine kühne Forderung nach Gerechtigkeit mit dem Satz, die Verhältnisse, sie wollten die Veränderung. Verhältnisse wollen gar nichts. Nur Menschen wollen, dass Verhältnisse sich verändern – oder nicht. Da müssen klare Forderungen gestellt werden, die sich nicht an Geschichte und Gegebenheiten abstützen, sondern allein an moralischen Kriterien, für die der Verfasser seinen Kopf zum Fenster raus strecken muss.

In der Tat, Herr Schmale, „das um sich greifende Gefühl der Ungerechtigkeit wäre eine große politische Debatte wert. Welche der brillanten Leitmedien führen sie“? Heureka. Warum nicht Sie und Ihr brillantes Hausblatt? Was hindert Sie plötzlich, zu sagen, dass die Medien am Thema Gerechtigkeit versagt haben, versagen und versagen werden? Und Sie können sagen, Sie seien dabei gewesen.

Zum Schluss ein Blick auf Frankreich. Das von beiden Parlamentskammern verabschiedete Völkermordsgesetz kann vorläufig nicht in Kraft treten, weil einige Senatoren und Abgeordnete Verfassungsklage eingereicht haben. Ihre Gründe: es sei gefährlich, „wenn sich das Parlament zum Richter über die historische „Wahrheit“ erhebe“.

Warum das Wort Wahrheit hier in Anführungszeichen gesetzt wird, macht stutzig. Gibt’s keine Wahrheit, muss sie weder geschützt noch nicht geschützt werden. Dass Wahrheiten ständig überprüfbar und ergebnisoffen sein müssen, ist Bestandteil aller urgriechischen und neuzeitlichen Aufklärungen.

Bestätigt sich hier der Satz, Extreme rufen antagonistische Extreme hervor, wenn eine Zeit, die über Wahrheit salonmäßig nur wiehern kann, dieselbe per Gesetzeskraft zu einer Sache der Polizei machen muss? Da kann man nur hoffen, dass Frankreich sich daran erinnert, vor dreihundert Jahren die Freiheit des Wortes in Europa ausgerufen zu haben. Deutschland könnte sich eine Scheibe abschneiden.

Bei uns wollen selbsternannte Historiker die „ergebnisoffene Debatte“ über brisante Themen abschaffen oder – wie Dietmar Dath in der FAZ – mit der Pickelhaube dem Volk ein Buch verbieten, das eh keine Wirkung mehr verbreite. (Siehe Tagesmail: „Der dumme Hitler“) Wie blöd muss man das Volk einschätzen, um solche autoritären Zynismen öffentlich – und von keinem Kollegen angegriffen – zu präsentieren? Dietmar Dath begann als Kommunist. Den Ledermantel der peitschenschwingenden Funktionärsklasse trägt er noch immer – unterm neuen Label der FAZ-Aristokraten.