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Tagesmail

Freitag, 31. August 2012 – Sprachbereinigung

Hello, Freunde der Lebensmittel,

wenn die Dürre kommt, Naturkatastrophen die Erdteile heimsuchen, freuen sich die Lebensmittelspekulanten. Je knapper das Angebot, je höher die Konten der Klimaprofiteure. „Die Nahrungsmittelpreise sind erneut brutal angestiegen und bedrohen die Gesundheit und das Wohlbefinden von Millionen Menschen“, sagt Weltbankpräsident Kim. Allein im Juli soll der Anstieg 10 % betragen haben.

Merkwürdige Sprache: die Nahrungsmittelpreise sind angestiegen und bedrohen Millionen Menschen.

Wie können Preise Menschen bedrohen? Kann es sein, dass es Menschen sind, die mit Hilfe der Preise andere Menschen bedrohen?

Wenn schon die Sprache lügt … stopp: nicht die Sprache lügt, sondern Menschen lügen mit Hilfe der Sprache. Subjekt, Prädikat, Objekt, so beginnt der Unterricht in Grammatik.

Es gibt keine Subjekte mehr, die Objekte werden zu Subjekten. Es gibt nur verdächtige Subjekte, unverdächtige wurden schon lange aus dem Verkehr gezogen. „Wurden gezogen“: welche Subjekte haben sie gezogen?

Nicht Lance Armstrong hat sich dopen lassen, die Dopingmittel lauerten ihm morgens beim kargen Frühstück auf und fielen über ihn her. Widerstand war zwecklos, der Athlet wurde zum Opfer der subjektfreien, objekt-determinierten Sprache.

Gab es nicht mal Sprachphilosophen, die uns verklickern wollten, dass die tägliche Sprache voller Mängel sei und durch

eine ideale Sprache ersetzt werden solle? Oder die uns erklären wollen, die normale Sprache reiche aus, um uns garantiert – misszuverstehen.

Wie anstrengend wäre es, wenn wir uns über Nacht verstünden! Das wäre nicht anstrengend, das wäre unerträglich, wenn schneidende Klarheit uns keine Chance mehr ließe, nicht länger nichts mehr zu verstehen.

Wie‘s um die Welt bestellt ist, wissen wir gottlob nicht. Denn zwischen uns und der Welt steht die Sprache, die kein Abbild der Wirklichkeit sein darf, damit wir diese mit Hilfe der Sprache in die Zange nehmen können.

Es ist so wohlig und wärmend, sich in seiner selbstverschuldeten Dumpfheit unschuldig zu fühlen. Zeitungssprache verstehe ich nicht. Ich verstehe keinen Ökonomenslang. Ich verstehe die Sprache jener Religion nicht, zu der ich mich standhaft bis in den Tod bekenne. Die Sprache der Jugend ist mir völlig unverständlich. Kanaksprach lehne ich wegen Sprachverhunzung grundsätzlich ab. Das modische Denglisch war mir von Anfang an ein Dorn im Auge. Weswegen ich auch alle griechischen, lateinischen, arabischen und französischen Fremdwörter aus dem Kanon … äh, was war Kanon noch mal auf Deutsch? verkürzte Kanone, seltsames Musikstück? äh, Musik von musica? … hoffnungslos.

Es ist die Sprache, die uns verwirrt, an unserem unklaren Denken kann‘s nicht liegen. Alle Objekte haben sich widerrechtlich zu Subjekten hochgeputscht und trampeln auf uns herum. Heißt subiectus nicht Unterworfener, Untertan? Wie können Untertanen und Unterworfene einen Satz bestimmen?

Was nun hat der linguistic turn, die Sprachphilosophie zu melden? Schon wieder ein Begriffsungeheuer, das sich zum Subjekt erklärt hat. Ein echtes Subjekt war der vitale Richard Rorty, ein Sprachphilosoph, der die Ansicht vertrat, philosophische Probleme könnten nur gelöst oder aufgelöst werden, „indem man entweder die Sprache reformiert oder besser die Sprache versteht, welche wir gegenwärtig verwenden.“

In diesem Satz tritt tatsächlich ein Subjekt auf, nämlich man, der um ein kleines n kastrierte Mann. Ist das nicht ein anonymer Wicht, dieser man? Und der soll die Sprache reformieren oder noch schlimmer: verstehen?

Haben denn die mans inzwischen die Sprache reformiert oder verstanden? Sind die Ergebnisse in führenden Medien und Gazetten, veröffentlicht worden? In welcher Sprache können wir die Sprache verstehen, wenn nicht in der verhunzten Umgangssprache, die den Reinigungsvorgang gleich wieder kontaminiert?

Ist das frei grassierende Feuilleton-Deutsch das Ergebnis linguistischer Sprachreiniger oder Sprachpanscher? Die müssen Orwells Erfindung einer bereinigten Sprache genau studiert haben. Heere von Neu-Sprechern, die die verwahrloste und missbrauchte Alltagssprache auf Vordermann gebracht haben, reden beispielsweise von Brutto-sozial-produkt.

Das muss etwas Köstliches und Feines sein, denn es ist brutto und nicht netto, es ist sozial und nicht asozial, es ist ein Pro-dukt und kein Contra-dukt. Pro ist positiver als contra. Besser wäre also ein Positiv-Öko-Brutto-Sozial-Produkt. Oder elegant abgekürzt – Abkürzungen sind beliebt, vermutlich sind sie Zukunftsformeln der idealen Sprache – PÖBSP.

Die Haft- und Folterlager in Orwells totalitärer Phantasie heißen nach Sprachbereinigung Lustlager. „Wir schauen nach vorn“ ist die Beschönigungsformel für vorsätzlich herbeigeführte Amnesie. Amnesie? Ist eine Form von Alzheimer, ins Kollektive und Wirtschaftliche übertragen können wir auch von Neoliberalismus sprechen.

Da noch vor kurzem in allen Gedenksendungen der Satz zitiert wurde: Erinnerung ist das Geheimnis der Versöhnung, kann der Aufruf zur Amnesie nur bedeuten: von Versöhnung wollen wir nichts mehr hören.

Wie altmodisch und provinziell die Reden von Lammert in den Gedenkfeiern des Bundestages, wo er unproduktiv die Vergangenheit aufwärmt. Wär das nicht ein frischer Wind, wenn die Repräsentanten des Staates den Mut hätten zu sagen: Wir schauen nach vorn? Lasst endlich die Vergangenheit ruhen.

Gibt es ein steigendes Elend unter den Menschen durch angeheizte Lebensmittelpreise? Es gibt nur ein Problem der unscharfen Sprache.

Korrigieren wir die Realität durch elegante Sprachbereinigung: wir erleben den wunderbaren Vorgang einer Marktanpassung und gerechten Profitverteilung. Wer viel riskiert, gewinnt auch viel. Kommen Zeiten der Knappheit, reinigt sich die Erde wie von selbst von Überflüssigen und Abkömmlichen.

 

Wenn der SPIEGEL sich langweilt, das Sommerloch nicht zu Ende gehen, Grass kein Gedicht und kein Feuilletonchef den andern mit Hilfe eines schwedischen Krimis mehr meucheln will, ist Orwell-Zeit.

Wenn zwei Männer „mit großen Gesten“ „steile Thesen“ aufstellen, soll das die neue ZDF-Philosophie sein.

Die großen Gesten bestehen aus einem schlichten Tisch und zwei Stühlen.

Die steilen Thesen sind zwei „Binsenweisheiten“: „Erstens: Der Mensch kann mehr, als man glaubt (irgendwie bekannt aus der Scientologie-Werbung). Zweitens: Ohne Begeisterung geht gar nichts (irgendwie bekannt von Jürgen Klopp).“

Auch die deutsche Sprache, man glaubt es kaum, besteht noch immer aus den altbekannten Binsenbuchstaben. Hat nicht Hitler in Mein Kampf schon die hervorragende deutsche Schule in den Dreck gezogen?

Nur jeden vernünftigen Satz zur verkommenen Schule vermeiden – die Hammelehle durchlaufen hat, ohne dass sie ihm geschadet hätte.

Da beide Diskutanten sich in vielem einig waren, konnte das keine Philosophie sein, findet Sebastian Hammelehle. Bekanntlich gibt’s im SPIEGEL und den Talkshows nur Streitgespräche auf allerhöchstem Niveau. Es muss Zoff sein in der Bude, damit die zur Nachtschicht verdonnerten Kanal-Beobachter nicht sanft dahindämmern.

Vielleicht sollten wir die mittleren und älteren Werke Platons aus den Bibliotheken räumen, denn von Streitgesprächen ist dort nichts mehr zu finden.

Und überhaupt, ein Gehirnforscher Hüther könne gar kein Philosoph sein. Denn er schreibe Bücher, die man ohne Studium abfassen und verstehen könne. Alles, was ich verstehe, sagte der Dummkopf, kann keine Philosophie sein.

Schon das Thema sei „alarmistisch“ formuliert. Das hat‘s ja im ganzen Deutschen Fernsehen noch nie gegeben: „Skandal Schule – macht Lernen dumm?“ Und wenn die beiden unfreiwilligen Satiriker zum Ergebnis kommen, dass die Schule ein unheimlich ineffizientes System, ja eine wahre Katastrophe sei, kommentiert Hammelehle, das sei so erhellend wie der Satz: in Hamburg regnet es öfter als in München.

Wir brauchen kein Ministerium für Neu-Sprech wie in Orwells 1984, wir haben den SPIEGEL.

 

Judith Butler ist eine echte Philosophin, was man daran erkennen kann, dass ihre Bücher ohne Studium nicht verständlich sind. In der ZEIT wehrt sie sich gegen die Vorwürfe des jüdischen Zentralrats, sie eine Israel- und Selbsthasserin. Diese Vorwürfe seien skandalös und haltlos.

Sie wundert sich, dass sie über solche Vorwürfe selbst noch erstaunt sein kann. Hätte sie nicht damit rechnen müssen? Hat sie noch nie bemerkt, dass man bei Israelkritik dämonisiert wird? „Es handelt sich um eine Taktik, die darauf abzielt, Menschen zum Schweigen zu bringen.“ Mit diesen Vorwürfen weigere man sich, die Kritik zu erörtern, ihre Belege zu überprüfen und zu einer vernünftigen Schlussfolgerung zu kommen.

Wenn eine Gruppe Juden eine andere als Antisemiten bezeichne, versuche sie, das Recht, im Namen der Juden zu sprechen, zu monopolisieren. Der Vorwurf des Antisemitismus sei oft nichts anderes als ein Deckmantel für innerjüdischen Streit.

Butler fühlt sich nicht allein in ihrer Kritik an dem Staat Israel. Doch es erfülle sie mit Sorge, dass viele Juden in den USA versuchten, ihr Judentum zu leugnen, weil sie über die israelische Politik bestürzt seien. Irrtümlicherweise glaubten diese Juden, dass der Staat Israel das Judentum unserer Zeit repräsentiere. Es habe immer jüdische Traditionen gegeben, die sich staatlicher Gewalt widersetzten und die Grundsätze der Gleichheit verteidigten.

Juden, die Israel kritisierten, glaubten zunehmend, dass sie keine Juden mehr sein könnten. Man werfe ihnen jüdischen Selbsthass vor. Doch es gebe starke jüdische Traditionen, die den Widerstand gegen alle Formen von Gewalt rechtfertigten.

Als Butler ins Judentum eingewiesen wurde, habe sie gelernt, Ungerechtigkeiten nie schweigend hinzunehmen. Durch dieses jüdische Denken sei sie zur Philosophie gekommen und verstehe sich als Fortsetzerin des Denkens von Martin Buber und Hannah Arendt. „Ich lernte, dass wir von anderen, wie auch von uns selbst, angerufen und in Anspruch genommen werden, um auf Leid zu reagieren und zu seiner Linderung beizutragen.

Es wäre von größter Bedeutung, diese Traditionen wieder zu beleben – sie „stehen für die Werte der Diaspora, die Kämpfe für soziale Gerechtigkeit und den immer bedeutsameren jüdischen Wert, die „Welt zu reparieren“ (Tikkun).

Nur für die Werte der Diaspora? Nicht für Erez Israel?

Butler ist eine standhafte Frau. Zu Recht wehrt sie sich gegen absurde Vorwürfe, gegen die sich in Deutschland jeder wehren muss, dem es nicht gleichgültig ist, was in Israel geschieht. Gleichwohl, sie stellt keine Fragen, sie analysiert nicht.

Warum gibt es im innerjüdischen Raum nur Schwarz und Weiß? Bedingungsloser Denk-Gehorsam oder verwerfliche Ketzerei? Welche Rolle spielt die Religion? Warum gelang es den Ultras, die Atmosphäre des Staates zu bestimmen? Warum bezieht sich Butler nur auf jüdisches Denken, jüdische Moral, jüdische Persönlichkeiten? Heißt Philosophieren nicht: Alles prüfet, das Beste behaltet? Gibt es keine Reibungen zwischen Religion und Philosophie? Wie sieht Butler die Lage Israels in der Welt? Welchen Gesamteindruck hat sie von der israelischen Gesellschaft? Welches Israelbild hat die jüdische Lobby in Amerika? Ist sie nicht auch, wie Butler, in jüdischen Traditionen aufgewachsen?

Und an die ZEIT gerichtet: Warum überlässt die Redaktion die Verteidigung der Preisträgerin ihr selbst? Will sie sich nicht in die Gefahrenzone begeben? Wo sind die Verteidigungsreden der Preisverleiher? Warum gibt es keinen einzigen prominenten Intellektuellen, der Butler Beistand leistet?

Das standardisierte Theater der Feigheit.

 

Der bekannte Autor Richard Millet hat ein Loblied auf den Norweger Anders Breivik verfasst. Darin attestiert er dem Massenmörder „formelle Perfektion“ und seinem Verbrechen eine „literarische Dimension“. Breivik sei nicht verrückt, so Millet, sondern das „verzweifelte Symbol dafür, dass Europa die zerstörerische Kraft des Multikulturalismus“ unterschätze. Obgleich sich Millet von den Taten Breiviks distanziert, hält er sie „für den spöttischen Ausdruck eines Instinkts des zivilisatorischen Überlebens.“

Es ist noch nicht lange her, dass der deutsche Komponist Karlheinz Stockhausen das Verbrechen von 9/11 das „größte Kunstwerk“ nannte, „das es je gegeben hat. Dass Geister in einem Akt etwas vollbringen, was wir in der Musik nicht träumen könnten, dass Leute zehn Jahre üben wie verrückt, total fanatisch für ein Konzert und dann sterben. Das ist das größte Kunstwerk, das es überhaupt gibt für den Kosmos.“

In einem Kommentar zum Literaten Kracht lehnt Jakob Augstein die Verherrlichung eines Verbrechens als Kunstwerk ab. Gleichwohl dürfe das Kunstwerk das Böse darstellen. „Die Kunst kann der Gewalt folgen“. Schriftsteller seien keine Sozialkundelehrer, sie hätten keinen Bildungsauftrag.

Wenn Kunst Verbrechen darstellen kann, liegt es nicht fern, Verbrechen als Kunst zu definieren. Die entscheidende Frage ist vielleicht gar nicht, ob Kunst das Schreckliche darstellen darf, sondern wie Künstler und Kunstkritiker das Böse im Kunstwerk bejubeln, als gebe es keinen Unterschied zwischen Fiktion und Realität.

Völlig unvorstellbar, die Biografie eines Stalin, eines Hitler als Oper auf die Bühne zu bringen. Das wäre eine Verherrlichung des Bösen, die niemand ertrüge. Furcht und Zittern bliebe jedem Zuschauer im Halse stecken.

Die deutsche Bewunderung des Bösen in der Kunst – die Ästhetisierung des Diabolischen – hängt mit der Bestimmung der Kunst zusammen, das Perfekte, die Vollkommenheit des Seins darzustellen.

Den Niederungen des Politischen waren die Deutschen ins Reich des schönen Scheins entflohen. Dort wurde das Heilige zelebriert, das mit dem Bösen identifiziert wurde.

„Das Böse trug bei zur Vollkommenheit des Universums, und ohne jenes wäre dieses nicht vollkommen gewesen, darum ließ Gott es zu, denn er war vollkommen und musste darum das Vollkommene wollen … Das Böse war weit böser, wenn es das Gute, das Gute weit schöner, wenn es das Böse gab“, lässt Thomas Mann einen Gottesgelehrten in Dr. Faustus ausführen.

Zeit für uns, darüber nachzudenken, in welchem Maß wir Weltpolitik als Gesamtkunstwerk betreiben, bei dem das Böse die Rolle der notwendigen Vervollkommnung spielt.

Alles strebt dem Ende zu, aber ohne Motor des perfektionistischen Bösen werden wir niemals das erlösende Finale erreichen. Also müssen wir immer böser werden, um vollkommener zu werden.

Absolute Schönheit ist absolute Einheit des Guten und Bösen – oder das Böse mit Heiligenschein.