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Freitag, 27. Juli 2012 – Augenblick

Hello, Freunde Südamerikas,

Chavez will aus dem Interamerikanischen Menschenrechtssystem aussteigen. Das könnte in anderen Ländern zu Nachahmungstaten führen. Beliebt sind Menschenrechtskommission und -gerichtshof bei allen lateinamerikanischen Regierungen nicht.

Das liege nicht daran, wie Chavez behauptet, dass die USA das Menschenrechtssystem dominiere, so die TAZ. Sondern daran, dass die Richter einen guten Job machen würden. Der Sinn des Menschenrechtssystems liege daran, Betroffenen rechtliches Gehör zu verschaffen, wenn die nationale Justiz dazu nicht willens oder in der Lage sei.

Bislang respektierten die Staaten die Urteile des Gerichtshofs. Das könnte sich jetzt ändern. Von Menschenrechtsgruppen wird der Austritt von Chavez heftig kritisiert: „keine gute Nachricht aus Caracas.“ Ein ehedem linker Hoffnungsträger verwandelt sich unaufhaltsam ins Gegenteil.

 

Momentan gibt es sieben Milliarden Menschen auf Erden, davon 5 Milliarden im erwerbsfähigen Alter. Längst haben nicht alle einen Arbeitsplatz, nicht jede Arbeit schafft Wohlstand.

Damit alle Menschen in Wohlstand leben könnten, müssten 1,8 Milliarden feste, geregelte Arbeitsplätze geschaffen werden, schreibt Jim Clifton, Direktor des Forschungsinstituts Gallup, in

seinem neuen Buch „Der Kampf um die Arbeitsplätze von morgen“.

Wenn es den einzelnen Ländern nicht gelänge, genügend Arbeitsplätze zu schaffen, drohe in absehbarer Zeit ein Krieg um Arbeitsplätze.

Einen guten Arbeitsplatz charakterisiert Clifton als Job mit einer durchschnittlichen Wochenarbeitszeit von 30 Stunden, der den Menschen nicht krank mache und so entlohnt werde, dass das Geld zum Leben reiche. Zudem dürfte er die Umwelt „nicht zu stark“ belasten und nicht „unmässig viele“ Ressourcen verschwenden.

Nur solche Jobs sicherten langfristig Wohlstand und sozialen Frieden im Land. Die Führungskräfte seien weltweit durchaus in der Lage, diese Arbeitsplätze zu schaffen. Zu ihnen zählt Clifton Schulen, Universitäten, Militär und Unternehmer mit pfiffigen Innovationen.

(Tina Groll in der ZEIT über Jim Cliftons Analyse des Jobmarktes)

Das alles klingt amerikanisch naiv, eine dezente Umschreibung für platten Optimismus. Hat Clifton auch jene Mächte erwähnt, die keinerlei Interesse haben, Arbeitsplätze für die Vielzuvielen zu schaffen, sondern nur Money zu machen?

Das Militär ist sicher daran interessiert, seine globale Krakenherrschaft mit Hilfe gut bezahlter Arbeitsplätze auszuweiten. Kraus Maffey benötigt noch Arbeitskräfte, um rechtzeitig ihre Panzer nach Saudi-Arabien auszuliefern.

Es gibt keine rationalen Visionen einer überlebensfähigen Zukunft der Menschheit. Jeder Analytiker greift sich ein Fragment heraus, der Zusammenhang der Fragmente bleibt im Dunkeln.

Was heißt: nicht unmäßig viele Ressourcen? Nicht zu stark die Umwelt belasten? Wohlstand auf welchem Niveau? Auf westlichem Verschwendungsniveau? Wo bleiben die Faktoren der zunehmenden Automatisierung und Roboterisierung, die die Menschen zunehmend überflüssig machen?

Die meisten Jobs sind heute schon unterbezahlte Beschäftigungstherapie, in der sich viele unterfordert fühlen. Die Arbeit wird zur Ramschware. Das protestantische Arbeitsethos fühlte sich durch göttlichen Strafcharakter der Arbeit wenigstens noch so ernst genommen, wie ein Masochist sich von einem Sadisten ernst genommen fühlen kann. Von erfüllender selbstbestimmter Arbeit haben wir damit noch gar nicht gesprochen.

Während der technische Fortschritt den homo faber zur Ausschussware erklärt, trägt jeder „produktive“ Arbeitsplatz zur weiteren Verwüstung der Natur bei. Renommierte Wissenschaftler schreiben inzwischen wie Politiker, die sich nicht trauen, Tacheles zu reden: ein bisschen, nicht zu viel, da ein wenig, dort ein wenig.

Hier fehlen umfassende Daten, welche Grenzen die Menschheit nicht mehr überschreiten darf, um ein passables Leben auf der Erde zu fristen und welche Hausaufgaben jedes Land machen muss, um sein Kontingent nicht zu überschreiten.

In kurzer Zeit wird es kein Wachstum mehr geben. Die Ökonomie muss sich von diesen steinzeitlichen Dogmen verabschieden. Lasten und Chancen müssen gleich verteilt werden.

Kein allmächtiger Markt wird diese Aufgabe erledigen, denn von Natur und Leben weiß er nichts. Selbstverständlich müssen alle knappen Güter gerecht verteilt werden, sonst kommt‘s tatsächlich zum Dauerkrieg in der schönen Neuen Welt.

Schon erstaunlich, wie die Menschheit blinde Kuh spielt. Noch ein oder zwei absolute Dürre-Ernten und zunehmende Tornados in Amerika, Wasserfluten in Russland, schmelzende Gletscher im Himalaja, woher die großen Flüsse Chinas das Wasser erhalten, Anheben des Meeresspiegels, die Weltwirtschaft in epileptischen Zuckungen – und die Menschheit wird allmählich aufwachen. Sie hat gelernt, nur durch Schaden klug zu werden.

 

Alle schwatzen von Zukunft, an die konkrete Zukunft denkt niemand. Prometheus heißt der Vorausdenkende, prometheisch aber hat im Deutschen den Unterklang des titanisch Unmäßigen. Das wird sich ändern. Die Zukunft, die wir in der Gegenwart ausbrüten und die für jeden sichtbar ist, der Augen hat, wird behandelt wie die Vergangenheit: aus den Augen, aus dem Sinn. Kein junger Mensch, der nicht schon bei Berufsbeginn an die Sicherheit seiner Rente denken und sein Leben planen müsste, als ob man es planen könnte.

Was fürs private Leben gilt, gilt nicht für die Gattung. Da wird eine Zukunft zurechtgeflunkert, die man nur noch als Glauben wider den Augenschein und Hoffen wider alle Hoffnung bezeichnen kann.

Eine Vorausschau ist eine Schau auf die Gegenwart, die sich in die Zukunft verlängern wird – wenn der Mensch sie nicht verändert. Wer die Unfähigkeit der Moderne zur Prognose und zu prometheischem Handeln verstehen will, muss sich ihre sakrosankten Agenden hernehmen. Das sind ihre heiligen Schriften.

Dort steht alles in vollständiger Klarheit, weshalb kein Christ sein ideelles Stammbuch lesen will. Er befürchtet zu Recht, die Augen würden ihm übergehen. Dort steht: „Gedenket nicht mehr der früheren Dinge und des Vergangenen achtet nicht. Siehe, nun schaffe ich Neues; schon sprosst es, gewahrt ihr es nicht?“ ( Altes Testament > Jesaja 43,18 f / http://www.way2god.org/de/bibel/jesaja/43/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/jesaja/43/“>Jes. Altes Testament > Jesaja 43,18 f / http://www.way2god.org/de/bibel/jesaja/43/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/jesaja/43/“> 43,18 f)

Gilt die Heilsgeschichte nicht als Religion der Geschichte, der Erinnerung an die guten Taten Gottes in Zeit und Raum? Sind fromme Feste nicht Erinnerungsfeste? Heißt es nicht auch: „Gedenkt des Frühern, wie es von Urzeit an war“? ( Altes Testament > Jesaja 46,9 / http://www.way2god.org/de/bibel/jesaja/46/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/jesaja/46/“>Jes. 46,9)

Wessen soll man gedenken, wenn man sich des Frühern erinnert? Der konkreten Vergangenheit, dem genau beobachteten Verlauf der Zeit, um Prognosen für die Zukunft abzuleiten?

Es gibt nur eine unumstößliche Tatsache, die erinnernswert ist, und das ist die Herrschaft Gottes und seine Vorherbestimmung für alle Zeiten:

„Ich bin Gott und keiner sonst, bin Gottheit, es gibt nicht meinesgleichen, der ich von Anfang den Ausgang verkündet, von längsther, was noch ungeschehen war; der ich sage: Mein Ratschluss erfüllt sich und all meine Vorhaben führe ich aus. … Ich habe es geredet, ich lasse es kommen; ich habe es entworfen, ich führe es aus. Höret auf mich, ihr Verzagten, die ihr fern seid vom Heil. Schon lasse ich nahen mein Heil, es ist nicht fern, und meine Rettung wird nicht verziehen. Ich schaffe Rettung in Zion für Israel, meine Zier.“ ( Altes Testament > Jesaja 46,9 ff / http://www.way2god.org/de/bibel/jesaja/46/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/jesaja/46/“>Jes. 46,9 ff)

In dieser Vergangenheit ist nur Gott interessant, der alles festgelegt und vorausbestimmt hat. Es geht nicht um Erkenntnisse, die man aus der Betrachtung des Gewesenen für das Kommende ziehen kann, es geht nur um Anbetung des Prädestinators, der sein Wort der Verheißung in Zukunft erfüllen wird.

Bis jetzt hat er es noch nicht erfüllt, weswegen in jedem amerikanischen Film der Satz des Vaters an sein Kind zu hören ist: Ich versprech‘s dir. Womit er religions-tiefenpsychologisch sagen will: Kind, ich bin nicht so unzuverlässig wie der himmlische Vater, ich halte mein Wort. Der Gläubige muss die Schwächen des Gottes stillschweigend ausgleichen.

Der Gang der Zeiten ist festgelegt, der Mensch ist kein eigenständiger Akteur auf der Bühne, sondern Marionette des Souffleurkastens. Gott stellt sich vor, als hätte Dieter Bohlen ihm das Drehbuch geschrieben: „Es gibt nicht meinesgleichen.“ Er ist einzigartig.

Einzigartiges ist nicht definierbar, denn Definieren kann man nur durch Angabe der nächsthöheren Gattung (genus proximum) und einer spezifischen Abgrenzung (differentia specifica).

Der Mensch kann als vernunftbegabtes Lebewesen definiert werden. Lebewesen ist die höhere Gattung, Vernunft hat nur der Mensch – im Unterschied zu allen anderen Lebewesen. Schimmel ist ein weißes Pferd, Pferd ist Gattung, die Farbe unterscheidet den Schimmel von allen nichtweißen Pferden.

Gott hat keine höhere Gattung. Mit anderen vergleicht er sich nicht, muss sich also nicht spezifisch von ihnen abgrenzen. Man sieht, dass die Definition des liberalen Individuums – des unvergleichlichen Einzelnen – nichts als eine gottebenbildliche Kopie des unvergleichlichen Schöpfers ist.

Alles, was einmalig, unvergleichlich und undefinierbar sein will, will wesensgleich sein mit dem einmaligen, unvergleichlichen und undefinierbaren Gott. Das hatte unübersehbare Folgen für den liberalen und neoliberalen Kapitalismus.

Wenn alle Menschen einmalige und unvergleichliche Konsumenten sein wollen, muss die Industrie ihr Angebotsrepertoire bis ins Unendliche ausdehnen. Kein Unvergleichlicher hat dieselben Bedürfnisse wie sein unvergleichlicher Nachbar.

Der Schein muss trügen, wenn sie uniformiert mit gleichen Jeans, gleichen Rucksäcken und gleichen Joggingschuhen durch die Fußgängerzonen hasten. Auch hier gilt, der Mensch sieht, was vor Augen ist, nur die Industrie – unser konkreter Gott – sieht ins Herz und erkennt die einmaligen und unvergleichlichen Bedürfnisse. Sie bringt das Kunststück fertig, mit Waren von der Stange unsere Einmaligkeit herauszustellen. Was ohne Glauben wider den Augenschein nicht möglich ist.

Glauben ist bekanntlich Fürwahrhalten von etwas, was man nicht sieht. Unvergleichliche Ökonomen haben aus all dem den Grundsatz abgeleitet: die Bedürfnisse des Menschen sind unendlich. Also muss die Produktion unendlich werden, um den Bedürfnissen einmaliger Individuen gerecht zu werden.

Es sieht also nur so aus, dass die Menschheit sich immer ähnlicher wird, die gleichen Klamotten trägt, die gleichen Hamburger isst, das gleiche Cola trinkt, dieselbe Musik inhaliert, demselben Fitnesswahn frönt. Liebe Freunde, es ist nicht so, wie es ausschaut – ist ein anderer Lieblingsspruch aus beliebten TV-Serien.

Je uniformer wir für den schnöden Blick der andern werden, je unvergleichlicher werden wir im Verborgenen unseres Herzens. Je größer der Zwang ins Unendliche, je mehr muss die Wirtschaft wachsen. Wachsen ist Ausdehnen ins Unendliche.

Wir leben in einer Kultur der geglaubten Unvergleichlichkeit. Menschen sind unvergleichlich, die Dinge sind unvergleichlich, jeder Augenblick der Zeit ist unvergleichlich. Denn kaum ist er da, schon ist er verschwunden: unwiederholbar und unwiederbringlich.

Die Philosophie des einmaligen Augenblicks ist der Existentialismus, der aus dem Zerfall der Hegel‘schen Schule am eindringlichsten von dem Dänen Kierkegaard beschrieben wurde und über Heidegger und Sartre atmosphärisch in den heutigen Zeitgeist eindrang.

Kierkegaard verabscheute den Alleswisser Hegel, der sich anmaßte, den ganzen Verlauf der Geschichte vom leeren Anfang bis zum erfüllten Ende überblicken zu können. Ein wackrer Schwabe forcht sich vor nichts. Wenn Gott alles weiß, weiß ein gelernter Schwabe noch immer alles besser.

So wusste er, dass die ganze Geschichte nur den Sinn hatte, in ihrem Gang von Ost nach West äußerlich in Berlin ihr glorioses Ende zu finden. Und innerlich, versteht sich, im Kopf des heiser-schwäbisch redenden, persönlich völlig unauffälligen Stuttgarters.

War das nicht ungeheuerlich, an Hybris nicht mehr zu überbieten? Wie man‘s nimmt. Massenneurose schützt vor Einzelneurose. Und die damalige Massenneurose in Ulm, um Ulm und um Ulm herum war das Evangelium. Kein schwäbischer Pietist, der nicht dieselben Vorstellungen im Kopf gehabt hätte wie Hegel.

Als getreuer Bibelleser wusste er, dass die Zeit nahe herbeigekommen war, der Messias jeden unvergleichlichen Augenblick an die Tür klopfen konnte. Wachet und betet, denn jeden Augenblick kann das Ende der Zeiten ausgerufen werden. Dann sind die Würfel gefallen. Wer bis dahin nicht sein Erlebnis des Wiedergeborenwerdens amtlich nachweisen konnte, der würde an Petri Himmelstür Einlassprobleme bekommen.

Womit wir sehen, der ach so moderne Existentialismus ist nichts als christliche Eschatologie, die Lehre von den letzten Dingen. Natürlich ohne theologische Vokabeln, man will doch ein Originalgenie sein. Bei Sartre sogar ohne lieben Gott, den er aber später im Marxismus gefunden hat.

Was nun hatte Christ Kierkegaard gegen Christ Hegel einzuwenden? Hegels Christentum war dem dänischen Jesuaner zu griechisch und zu wenig demütig. Der Berliner Stardenker bildete sich nämlich ein, genau zu wissen, dass der Herr schon gekommen sei – in Berlin. Er nannte ihn natürlich anders, schließlich wollte er nicht wie ein altmodischer Pietist daherpredigen, sondern beweisen, dass er das Biblische in die Sprache der hohen und gebildeten Welt übersetzen konnte.

Also nannte er Gott den Weltgeist – oder absoluten Geist – und ließ ihn in Preußen die Akte der Heilsgeschichte schließen. Mit anderen Worten: ab jetzt passiert nichts mehr wirklich Neues. Mag sein, dass es noch verschiedene Kriege geben wird, die Amerikaner im Westen und die Russen im Osten noch ein paar Kraftakte veranstalten. Doch das werden Randereignisse bleiben, am Ergebnis wird sich nichts ändern. Theatrum mundi hat geschlossen. Einige Dinge werden noch abgewickelt. Das war‘s.

Bekanntlich hielt Marx seinen bewunderten Lehrer Hegel für bescheuert. Wie kann man den Gesamtladen zusperren, wenn noch alles im Tohuwabohu liegt, die wichtigsten Probleme der Menschheit noch nicht mal angesprochen waren? Als da sind die sozialen Probleme der Proleten, die Probleme einer Wirtschaft, die sich immer mehr ihrem Kollaps nähert?

Also stellte er Hegel vom Kopf auf die Füße und – übernahm getreu dessen Geschichtsphilosophie. Mit dem kleinen Unterschied, dass das Finale der Geschichte nicht in Berlin endet, sondern irgendwann im Reich der Freiheit.

Marx tat nichts anderes als schon viele Gläubige in der Geschichte des Abendlandes zuvor getan hatten: er verzögerte die noch nicht eingetretene Parusie des Herrn erneut bis an den Sankt Nimmerleinstag. So nämlich wurde der Tag der Wiederkunft spöttisch von jenen genannt, die den Glauben an den Herrn entnervt aufgegeben hatten.

Während Marx noch das Ende der Geschichte zu wissen vorgab – wenn auch nicht den genauen Termin –, wollte Kierkegaard nichts mehr davon wissen, dass der vereinzelte und schwache Christ etwas Definitives über die Geschichte wissen könnte. Er kehrte zum Urchristentum zurück und begnügte sich demütig damit, in jedem Augenblick wachsam zu sein und jeden Augenblick für fähig zu halten, die Ankunft des Herrn zu melden.

So kam es zur Idolisierung des Augenblicks, zur Unfähigkeit des Vorausschauens. Wir leben nur von Augenblick zu Augenblick. Mehr können wir nicht überblicken. Ständig kann alles und nichts passieren. Wir warten auf die Zukunft, die uns verschlossen ist. Blind tasten wir uns von Moment zu Moment, von Jetzt zu Jetzt.

Deshalb kann es auch keine Prognosen geben. Denn das wären Hochrechnungen aus dem Alten und Vergangenen. Der Herr kommt aber in der Aura des absolut Neuen, Verblüffenden und Unvermuteten. Siehe, das Alte ist vergangen, ich mache alles neu. Das war der Grund, warum es sinnlos ist, des Vergangenen zu gedenken. Denn Vergangenheit war das zum Tode verurteilte Revier des Alten.

Dies war das genaue Gegenteil des griechischen Zeitgefühls im Hic et Nunc, im Hier und Jetzt, obgleich die Formulierungen ähnlich klingen. Die Griechen kannten keine Heilsgeschichte, sondern nur die natürliche Wiederholung des Ewiggleichen.

Das Hier und Jetzt war kein schnell vorüberziehender Moment als Eintrittsbillet in ein angeblich Neues, sondern die vitale Empfindung der Epiphanie zeitloser Wahrheit. Faust war kein Grieche, wenn er das Glück des Augenblicks fliehen musste, um sein ganzes Leben von Sensation zu Sensation durchzuhasten.

Das ist das innerste Lebensgefühl der Moderne: gedenket nicht des Vergangenen, denn das Alte ist vorbei. Denkt an die Zukunft – die ihr nicht kennt und niemals kennen werdet. Denn sie wird überraschend eintreten. Die Zukunft ist die Epoche des Neuen. Das Neue lässt sich weder berechnen noch planen.

Der Kapitalismus ist ein Existentialismus, der sich blind von Augenblick zu Augenblick vorwärts wälzt. An die Zukunft denken, heißt, das Denken einstellen. Zurückschauen ist sinnlos, prometheisch vorausschauen ist heidnisch verwegen.

Die absolute Reduktion der Zeitwahrnehmung auf den Moment, die Einschränkung des Lebensgefühls auf das hastende Jetzt, die Gier des allerletzten Augenblicks ist das Stigma der Moderne. Utopische Planung und Vorsorge? Absurd und verwegen. Wir überblicken nur den jetzigen Sekundenschlag, der jederzeit unser letzter sein könnte.

Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind zur kleinsten Zeiteinheit zusammengeschrumpft. Aus unserer Vergangenheit können wir nichts lernen, sie ist zum Alten, Hässlichen und Verdorbenen verkommen. Die Zukunft entzieht sich unserer Beherrschung, denn sie wird unvorhersehbar und unplanbar daher kommen wie der Dieb in der Nacht.

„Ich sage euch ein Geheimnis: wir werden alle verwandelt werden im Nu, in einem Augenblick.“ Die Verwandlung weniger Erwählter in selige Geister wird der Untergang der verworfenen Menschheit sein.