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Tagesmail

Freitag, 27. Januar 2012 – Richard von Weizsäcker

Hello, Freunde der Ureinwohner,

Aborigines sind Menschen, die ab Ursprung in jenem Lande leben, in dem sie bis heute an den Rand gedrängt, noch immer ausgegrenzt, gedemütigt und patriarchalisch bevormundet werden.

War Australien nicht jener Kontinent, der als bessere Ausgabe des lädierten Amerika galt? Kein Abiturient, dessen Weltreise heute nicht durch das riesige Land der Kängurus führte. Hat uns Blacky Fuchsberger nicht vor wenigen Jahren ein „faszinierendes“ Bild des ungeheuer großen und leeren Erdteiles ins Haus geflimmert?

In diesem Land werden die Ureinwohner nach wie vor wie unmündige Kinder behandelt. Doch sie setzen sich zur Wehr, wollen souverän sein und bei Regierungsentscheidungen mitbestimmen. Mit ausgebauten staatlichen Diensten in Gesundheit und Bildung verheißt ihnen die Regierung eine bessere Zukunft, doch gleichzeitig will sie den Empfängern staatlicher Wohltaten Alkohol und Pornografie verbieten.

Das scheint ein allgemeiner Trend zu sein: westliche Demokratien setzen zunehmend auf Verbote und polizeilich gestützte Erziehungsmaßnahmen. Immer weniger auf „Faszination“ der Freiheit und Selbstbestimmung.

Wen der Staat unterstützen muss, den will er kujonieren. Es muss für ihn eine große Kränkung sein, wenn er seiner Pflicht nachkommen muss. Würde es nach seinen Priestern gehen, sollte es ihn

als weltliches Gebilde überhaupt nicht geben. Und wenn doch, nur in minimaler Bonsai-Ausgabe. Augustins geduldete Räuberhorde lässt grüßen.

Noch immer ist der Staat nicht der konzentrierte Wille des Volkes, sondern ein über der Bevölkerung schwebendes Ding, das sich beleidigt fühlt, wenn es gebraucht wird.

Noch immer geht’s den Ureinwohnern schlechter als ihren ehemaligen Landräubern. Sie sind ärmer, ungebildeter, krimineller und suizidgefährdeter als die Mehrheit der Weißen. Ursache der Missstände soll eine fehlgeleitete Assimilationspolitik sein, sagen Sozialforscher. Gibt es denn eine „richtige Assimilationspolitik“?

Simile heißt ähnlich. Simulanten wollen andern zum Verwechseln ähnlich sein. Sollen weiße Sieger den Ureinwohnern ähnlich werden – oder umgekehrt? Sollen Welteroberer minderwertige Urwaldrassen simulieren und nachahmen? Assimilation wird definiert als „Entgrenzung“ und „Verschmelzung“. Wenn Grenzen zwischen Fremden fallen, wer bestimmt dann wen? Wenn unfehlbare Wahrheitsbesitzer auf dumpf treibende Heiden treffen, wer muss seine Individualität abschmelzen, um sich liberale Individualisierung durch komplette Selbstaufgabe zu verdienen?

Können wir Deutsche, die das Experiment der Assimilation mit Juden in mehreren Phasen bis zum bitteren Ende exekutierten, bei diesem Thema nicht ein gewichtig Wörtchen mitreden? Aus seiner Sicht zog Gershom Scholem das Fazit der misslungenen jüdisch-deutschen Assimilation: „Sehr breite Schichten der deutschen Juden waren zwar bereit, ihr Volkstum zu liquidieren, wollten aber, in freilich sehr verschiedenen Ausmaßen, ihr Judentum, als Erbe, als Konfession, als ein Ichweißnichtwas, ein undefinierbares und doch im Bewusstsein deutlich vorhandenes Element bewahren. Sie waren, was oft vergessen wird, zu jener totalen Assimilation, welche die Mehrheit ihrer Elite mit dem Verschwinden zu zahlen bereit war, nicht bereit.“  (Gershom Scholem: „Juden und Deutsche, in: Rolf Tiedemann (Hg.): Judaica 2, S.35) Nach Scholem waren es die Juden, die sich den Deutschen total assimilieren mussten, wozu offenbar nur ihre Elite bereit war.

Wie immer, wenn verschiedene Kulturen aufeinander prallen, sind Eliten wendiger und flexibler, um sich gegenseitig anzupassen als die fundamentale breite Mehrheit der Mittel- und Unterschichten. Auch das Judentum war gespalten in diejenigen, die weder wussten noch wissen wollten, dass sie Juden waren („erst Hitler öffnete mir die Augen, dass ich Jude war“) und jenen, die ihrem Gott der Väter nicht untreu werden wollten.

Doch was bitte ist „undefinierbar und doch im Bewusstsein deutlich vorhanden“? Entzieht sich die jüdische Konfession einer klar definierbaren Wahrnehmung? Dann können alle Expertenkommissionen über antisemitische Umtriebe lamentieren, so viel sie wollen: die Deutschen wüssten dennoch kein Jota mehr über das Judentum. Was kann man wissen, wenn man es weder wissen noch benennen kann? Kann Undefinierbares verändert werden, wenn niemand sagen kann, was sich ändern soll – oder nicht?

Hier haben die Juden ein selbstgemachtes Problem, wenn sie den Staat Israel als jüdischen Staat bezeichnen. Definieren sie Judentum als Volk, handeln sie sich den Vorwurf des Rassismus ein. Definieren sie sich als Religion (Scholems „Ichweißnichtwas“), handeln sie sich den Vorwurf religiöser Intoleranz ein. Israel wäre in diesem Fall kein Deut besser als der Ajatollahstaat Iran. Kein Wunder, dass die zwei immer ähnlicher werdenden Staaten sich momentan in Ablehnung gegenüber stehen. Man lese Moshe Zimmermanns Analyse der gegenwärtigen israelischen Gesellschaft, die sich zunehmend vom Geist unversöhnlicher Haredim kontaminieren lässt.

Während der Westen immer christlicher wird, werden Juden immer jüdischer. Juden, Christen und Muslime regredieren ins Reich der Religion, das sie notdürftig mit Politik und Modernität anpinseln, damit sie nicht in den Verdacht kommen, Marionetten diverser Pfaffen, Rabbiner oder Imame zu sein.

Max Webers Unklarheit wirkt hier verhängnisvoll. Er beschrieb die Moderne als Zunahme gott-loser Zweckrationalität, gleichwohl hielt er den Calvinismus für den Kern des heute herrschenden Kapitalismus. Noch nie wurde der Prozess der ambivalenten Säkularisierung klar analysiert.

Als „Ersatzreligion“ kann die Moderne a) Religion ausgerottet und etwas Anderes an ihre Stelle gesetzt haben oder b) Religion in schwer durchschaubarer Weise kostümiert, nachmodernisiert und bis zum heutigen Tag weitervererbt haben.

Um Israels Verhältnis zum Iran zu verstehen, muss man Freuds Narzissmus der geringsten Differenz konsultieren. Ich hasse, was ich an mir selbst hasse, ohne meinen Selbsthass wahrnehmen und verändern zu können. Diesen Hass projiziere ich auf einen mir ähnlichen Gegner.

Die Deutschen, die seit der Romantik in strikter Ablehnung westlich-demokratischer Toleranz immer deutscher wurden, wollten am Siedepunkt ihrer selbstbespiegelnden Besoffenheit die Juden als „Andere“ nicht länger dulden, wozu auch die Sinti und Roma, die Schwulen und alle „entarteten und lebensunwerten“ Minderheiten gehörten. Als die wahren Auserwählten wollten sie die Spreu vom Weizen trennen und vernichten.

Wenn Deutsche über Juden nichts wissen und umgekehrt, wie können sie eine sinnvolle Assimilation durchführen, ohne die Fehler der Vergangenheit zu wiederholen? Welche Punkte sind verhandlungsfähig? Welche entziehen sich jedem Kompromiss?

Dass demokratische und juristische Grundlagen unseres Gemeinwesens zu keiner Zeit in die Verhandlungsmasse gehören, versteht sich von selbst. Desgleichen, dass religiöse und kulturelle Gebräuche, sofern sie dem Gesetz nicht widersprechen, in den Bereich des friederizianischen Satzes gehören: jeder kann nach seiner Facon selig werden.

Ich kenne keine deutschen Juden, die das Grundgesetz abschaffen wollten. Anders in Israel, wo Haredim genau dies tun: die Grundlagen der säkularen Gesellschaft aggressiv angreifen, um sie durch theokratische Strukturen zu ersetzen.

Schwieriger ist die Eingliederung der Muslime. „Keine Assimilation“ war der Kampfaufruf Erdogans an seine hier lebenden Landsleute, sondern rein äußerliche Anpassung an die demokratisch-wirtschaftlichen Strukturen der BRD. Sollte der türkische Ministerpräsident mit seiner aggressiven Formel meinen, seine hier lebenden Landsleute sollten jenes Türkisch-Muslimische bewahren, das mit demokratischen Strukturen kompatibel ist, wo wären die Probleme? Wenn nicht, wäre er ein verdeckter Missionar für die allmähliche Theokratisierung der deutschen Gesellschaft im Sinne eines fundamentalistisch verstandenen Korans. Dem müsste entschieden Widerstand geleistet werden.

Bei Anne Will saß ein verbitterter, misstrauisch um sich schauender, nach allen Seiten schießender und angeblich fraglose Fundamente unseres Gemeinwesens vom Tisch wischender Greis, der als bester Bundespräsident in der bisherigen Geschichte der BRD gilt: Richard von Weizsäcker.

Offensichtlich befürchtete er ähnlich kritische Fragen zu seiner Vita, wie sein jüngerer Nachfolger Wulff sie derzeit ertragen muss. Um solchen Ungehörigkeiten vorzubeugen, gab er sich schroff und abkanzelnd, just so, wie er sich wohl den absolutistischen Stil des preußischen Aufklärers vorstellt. Fragen solcher Art:

1. Herr Bundespräsident, welche Rolle haben Sie als ehemaliger Vorsitzender des Elternbeirats im pädophilen Odenwald-Skandal gespielt?

2. Wie bewerten Sie die Haltung Ihres alten Freundes Hartmut von Hentig, der bis heute alle Angriffe kommentarlos aussitzt?

3. Warum haben Sie es bis heute nicht für nötig gehalten, Ihre Rolle bei der Herstellung des Agent-Orange-Giftgases im Vietnamkrieg aufzuklären, das bei Böhringer zu jener Zeit produzierte wurde, als Sie dort leitender Angestellter waren?

4. Wie kommentieren Sie die erst jetzt bekannten Äußerungen Ihres Bruders Carl Friedrich, der als Physiker nicht nur am Atomprogramm für Hitler mitarbeitete, sondern durch eine Briefstelle bei Heisenberg als fanatisch-eschatologischer Parteigänger der Nazis entlarvt wurde? Der neue Glaube, so hatte Richards Bruder sich gegenüber Heisenberg geäußert, müsse den Menschen mit Feuer und Schwert gebracht werden: „Wer nicht das Gleiche glaubt wie ich, muss ausgerottet werden.“

Entwarnung auf der ganzen Linie! Als versierter Medienprofi hätte der adlige Altpräsident wissen müssen, dass kein Jakob Augstein, kein Prantl, schon gar nicht Anne Will und gut gelaunte Talkshow-Gäste solch kritische Fragen erheben würden. Von allen Gazetten und Beobachtern wird seine Person tabuisiert und rundherum geschützt. Er wird als Lichtgestalt gepriesen, die man pflichtschuldigst zu verehren hat wie Wilhelm Tell den Gesslerhut.

„Demokratie braucht keine Tugenden; aus der Geschichte kann man nichts lernen, der Alte Fritz ist für niemanden ein Vorbild“.

Ohne die Verdienste des Preußenkönigs wäre Deutschland um eine Revolution wie die französische nicht herumgekommen. Da hatten wir aber Glück, dass die patriarchalische Revolution die ordinäre von unten vorbeugend verhindert hatte. Schon immer wussten unsere platonischen Eliten besser, was das Volk benötigt als dieses selbst.

Dass der Mensch nichts aus der Geschichte lernt, kann man nicht bei Kant, sondern bei Hegel nachlesen, der Kants Aufklärung ablehnte. Das muss einen CDU-Kantianer nicht davon abhalten, seine Vorbilder nach Art des eigenen Stammhauses zusammenzustoppeln, gleichgültig, ob sie zueinander passen oder nicht. Hegel war Schwabe aus Stuttgart, genau da erblickte der kleine Richard das Licht der Welt.

Demokratie braucht keine Tugenden? Da hätte man doch gern einige verwunderte Fragen unserer Obermoralisten gehört. Es muss reiner Zufall gewesen sein, dass sie am nächsten Tag allesamt Migräne hatten, um nicht kommentieren zu müssen, was sie gar nicht hören wollten.

Nach Kant muss ein humanes Gemeinwesen selbst für Teufel tauglich sein, wenn sie nur fähig wären, ihre Interessen wahrzunehmen. Hier hat Kant, dessen Vorfahren aus Schottland stammten, den Schotten Adam Smith ins Deutsche übertragen. Der betrachtete eine liberale Wirtschaft als automatisch funktionierendes System, das zu seiner Aufrechterhaltung keinerlei persönliche Tugenden benötige. Und wenn’s doch mal im ökonomischen Gebälk knirschte, gab’s noch immer die Unsichtbare Hand, die egoistische Einzelinteressen zu einem harmonischen Gesamtinteresse zu vereinigen wüsste.

Niemand in der illustren Gesprächsrunde zeigte sich durch die tugendfeindliche Bemerkung Weizsäckers im Geringsten irritiert. Einem unantastbaren Gesslerhut widerspricht man nicht. Vielleicht auch meinte der harsche Oberlehrer, dass Tugend bei Kant ein egoistisches Geschmäckle habe – der Nächstenliebe gleich, die nicht um des Nächsten, sondern um eigener Seligkeit willen verübt werde. Aus diesem Grund müsse ein moralischer Bürger seine kategorische Pflicht tun. Und nichts sonst.

Doch solche Subtilitäten hätten das Fassungsvermögen einer TV-Plauderstunde überstrapaziert. So blieb der Gesamteindruck, dass eine juristisch einwandfreie Republik ein vom Himmel gesandtes System ist und mit Sicherheit keine Herrschaft des Pöbels, die tugendhaft aufgeblasene Kammerdiener benötige, um einen perfekten Staatsgolem zu bedienen.

Man könnte auch sagen: was für Luther die gottgesandte Obrigkeit war, ist für Kant-Weizsäcker die perfekte Republikmaschine. Jedermann sei untertan dem von aufgeklärten Absolutisten gesandten Staatsautomaten. Denn es gibt keinen Automaten, der nicht von Gott und wohlgesonnenen Eliten wäre.

Deutsche Teufel hatten in der Tat keinerlei Schwierigkeiten, sich der gut geölten Maschine zu bedienen, um kantisch-lutherische Untertanen in ihren diabolischen Bann zu ziehen.

Jeder Beobachter muss zugeben: ohne pflichtbewusste Teufel, die einen kategorischen Krieg begannen und verloren, wären keine Alliierten auf die Idee gekommen, uns das Geschenk einer wirtschaftlich moralfreien Volksherrschaft über den Atlantik mitzubringen. Teufel können nicht anders: sie müssen uns Gott näher bringen.