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Freitag, 24. August 2012 – Israel und die Welt

Hello, Freunde des Rechts,

im Ethikrat warnte Strafrechtler Reinhard Merkel vor einem „jüdisch-muslimischen Sonderrecht“ und einem „Sündenfall des Rechtsstaats“.

Staatsrechtsprofessor Wolfram Höfling hingegen plädierte für eine Anerkennung der Beschneidung als Elternrecht. Unter der Bedingung, dass diese „fachgerecht“ und „schmerzvermeidend“ durchgeführt werde.

Der israelische Innenminister El Jischai von der ultrareligiösen Schas-Partei forderte Angela Merkel auf, sich für das Recht der Beschneidung einzusetzen. Juden in Deutschland dürften nicht gezwungen werden, sich zwischen der Einhaltung weltlicher und religiöser Gesetze entscheiden zu müssen.

Das wäre Theokratie ad libitum mitten in einer Demokratie. Der Zentralrat der Juden wies diese Forderung zurück. Weder die Kanzlerin noch die Bundesregierung bräuchten eine Belehrung aus Israel. Ein Giessener Arzt hatte gegen den Berliner Rabbiner Goldberg wegen Beschneidung Minderjähriger Anzeige erstattet.

(DER SPIEGEL: Ethikrat für Beschneidung)

In der FR schreibt der Kölner Fernsehjournalist Lorenz Beckhardt einen interessanten Artikel über die Beschneidung. Hätte es keine Nazis gegeben, wäre der Humanisierungsprozess der deutschen Juden weitergegangen, ohne Shoa gäbe es vermutlich das traditionelle Ritual in Deutschland heute nicht mehr.

Hatte Graumann bei Maischberger noch vollmundig betont, der religiöse Ritus sei im Judentum so gut wie

unbestritten – andersdenkende winzige Minderheiten seien bedeutungslos –, erinnert Beckhardt an die Tradition des liberalen Judentums in Deutschland. Der berühmte Reformrabbiner Abraham Geiger habe schon im 19. Jahrhundert die Beschneidung einen „barbarisch blutenden Akt“ genannt.

Das liberale Judentum hatte von Deutschland aus die jüdische Welt erobert. Die liberale Mehrheit der Juden hätte sich „bis zur Unkenntlichkeit“ in die bürgerliche Gesellschaft integriert.

(Genau diese Assimilierung zur Unkenntlichkeit war übrigens für ultraorthodoxe Juden ein Gräuel vor dem Herrn, der von Jahwe mit dem Holocaust bestraft werden musste, der zu diesem Zweck einen deutschen Führer in seine Dienste nahm.)

Deutschland, so der FR-Autor, sei der Geburtsort jener Ideen, die das Judentum in die Moderne geführt habe. Dem liberalen Judentum gehörten heute weltweit die meisten Juden an.

Nicht nur die Frage der Beschneidung, sondern auch das Problem, ob Frauen in der Synagoge getrennt von den Männern sitzen, ausschließlich auf Hebräisch oder auch auf Deutsch beten dürften, würde unter liberalen Juden diskutiert.

Erst die Schrecken der deutschen Geschichte hätten die Beschneidung wieder fast unumstritten gemacht. Doch dabei müsse es nicht bleiben, so Beckhardt. „Natürlich ist ein Judentum ohne Beschneidung denkbar“. Aber noch mag die Mehrheit der Juden nicht auf die Beschneidung verzichten. „Wir brauchen sie, solange der Geruch der Asche noch in unsern Kleidern steckt.“

Selbst aus orthodoxen Gemeinden werde schon heute niemand verwiesen, der nicht beschnitten sei. Den in Auschwitz unterbrochenen Weg möchten die Juden selbstbestimmt in der Tradition Moses Mendelssohns fortsetzen. „Eine nichtjüdische Begleitung auf diesem Weg benötigen wir nicht, ihn nicht zu behindern, würde dieses Mal schon reichen.“

Historisch verständliche Sätze, gleichwohl: in Demokratien geht alles alle an – sofern es das bestehende Gesetz nicht in Frage stellt. Dass die „Väter des Grundgesetzes“ die Juden aus Deutschland nicht ausschließen wollten, versteht sich. Das Problem der Beschneidung war den meisten nicht bewusst oder wurde für unwichtig erachtet angesichts der ungeheuren Schuld, mit denen sich die Täter damals zu beschäftigen hatten.

Dass das Thema erst jetzt aufkommt, lag natürlich an der Angst der Deutschen, als Antisemiten zu gelten, wenn sie nur den Anschein einer unberechtigten Kritik an Juden äußerten. Erst 70 Jahre nach Auschwitz können diese Probleme angesprochen werden, ohne einen riesigen antijüdischen Affektsturm zu entfachen. Kein schlechtes Zeichen.

(Lorenz Beckhardt in der FR: Beschnitten und traumatisiert)

 

Angriff ist die beste Verteidigung. Zuerst – so die ungeschriebene Regel deutscher Medien – muss die israelische Reaktion zitiert werden. Sie klingt stereotyp: „Die israelische Regierung verurteilte den Beschluss des südafrikanischen Kabinetts scharf.“ Ohne „scharf“ geht’s nicht. Je weniger unschuldig, je schärfer die sich stets schuldlos gebende Reaktion.

Südafrika hatte erklärt, alle Waren aus dem besetzten Jordanland dürften nicht mehr mit dem „Made in Israel“ gekennzeichnet werden. Klar, dass Israel dem Land am Kap seine alten Sünden vorhält, als ob es aus der Vergangenheit nichts gelernt hätte. Einmal Schuld, immer Schuld – doch nur, wenn Nationen nicht tun, was Israel will. Andere Sünden, von denen Israel profitiert, zählen nicht.

Europa hat sich bis heute nicht getraut, sich dem ökonomischen Missbrauch der israelischen Regierung zu widersetzen, die das besetzte Jordanland ungeniert als eingemeindetes Land behandelt. Allerdings gewährt die EU nur Zollpräferenzen, wenn die Waren aus Israel und nicht aus den besetzten Gebieten stammen. Selbst diese Maßnahme wird von den Israelis trickreich unterlaufen.

Kein Wunder, dass niemand mehr in Jerusalem von Friedensverhandlungen spricht. Der erzwungene Frieden ist ökonomisch längst festgemacht und militärisch besiegelt.

 

Zwanzig israelische Schriftsteller und Künstler haben sich entschlossen, Widerstand zu zeigen. Gegen einen drohenden Krieg mit Iran hat die Gruppe um Yoram Kaniuk und Zeruya Shalev einen Brief an den Generalstaatsanwalt Weinstein geschrieben. Den Unterzeichnern geht es auch darum, die Entscheidung über einen potentiellen Krieg nicht Netanjahu und Barak zu überlassen. Das ganze Kabinett müsste mit entscheiden.

Schon einmal hatten die Kreativen – zusammen mit Amoz Oz – an Netanjahu geschrieben. Keine Antwort. Oz hält eine Militäraktion gegen den Iran für undenkbar. „Die Iraner besitzen das Know-how, um Nuklearwaffen zu bauen, und ein Know-how kann man nicht bombardieren.“

Die Skepsis gegenüber den Angriffsplänen sei in der israelischen Gesellschaft groß. Zu größeren Protestaktionen aber – wie noch vor einem Jahr für soziale Gerechtigkeit – sei es bisher nicht gekommen. Nur wenig mehr als 10 000 Israelis würden die Kampagne „Israel loves Iran“ unterstützen.

(Hans-Christian Rößler in der FAZ: Gemeinsam gegen den Iran?)

 

Den Versuch einer Gesamtdarstellung Israels hat Martin Gehlen in der ZEIT vorgelegt. Einst sei Israel eine Vorzeigedemokratie in Nahost gewesen, heute verharre das Land im Status-quo und gefährde sein Verhältnis zu den USA. Nur noch selten rede die israelische Regierung vom Frieden, umso häufiger vom Krieg. Das erzeuge wesentlich mehr internationale Publicity als das Gefasel über „schmerzliche Kompromisse“ mit Palästinensern.

Die Mehrheit der Israelis sei überzeugt, eine Herausgabe des Westjordanlandes sei nicht mehr notwendig, niemand mehr in der politischen Klasse scheine ein Interesse zu haben, das Verhältnis zum unterjochten Nachbarvolk fair zu regeln. Nun drehe sich alles um Krieg. Das militante Säbelrasseln offenbare eine tiefe Identitätskrise.

Avraham Burg, ehemaliger Knesset-Präsident, sieht den einstigen Wertebund zwischen Israel und den USA, bestehend aus Demokratie, Menschenrechten und dem Respekt vor anderen Nationen, abgelöst durch eine Mixtur gemeinsamer Interessen: Krieg, Bomben, Drohungen, Furcht und Traumata.

Israel sei nicht mehr die leuchtende Vorzeigedemokratie im Nahen und Mittleren Osten, sondern ein kleines Land mit denselben Gebrechen wie seine Nachbarn. Mit einem immer mächtiger werdenden „religiös-politischen Fundamentalismus“, mit einem autokratischen Regiment im besetzten Land, das systematisch auf Militär und Sicherheitsapparate setze, aber nichts mehr wissen wolle von politischem Ausgleich, verbrieften Rechten und Selbstbestimmung der Menschen.

Die israelische Gesellschaft wünsche sich zwar Frieden, den Preis für entsprechende Abkommen aber wolle das Land nicht mehr entrichten.

Keine israelische Regierung komme noch an gegen die „straff organisierten Bataillone ultranationaler Siedler und ultrafrommer Orthodoxer.“ Ob es in dieser Lage klug sei, das Bündnis mit der wichtigsten Schutzmacht USA weiter zu strapazieren, bleibe das Geheimnis von Netanjahu.

Ein Alleingang Israels könnte die gesamte Golfregion in Brand setzen.

(Martin Gehlen kommentiert in der ZEIT)

Solche, im Ton gemäßigte, in der Sache scharfe Kritiken gegenüber Israel liest man hierzulande so gut wie nie. Schon gar nicht als Gesamtbewertung. Was die Beziehung zu dem heiligen Land betrifft, fällt das Wort Kritik flach. Es gibt stillschweigende Duldung, blind-devote Freundschaft – oder „kruden Antisemitismus“. Zwischen Unterwerfung und Verfluchung klafft der Abgrund.

Entscheidend ist Gehlens Bewertung des ultrareligiösen Faktors, gegen den die säkulare Gesellschaft nicht mehr ankommen kann – oder will. Man begnügt sich mit politisch korrekten demoskopischen Umfragen fürs außenpolitische Image, doch Konsequenzen folgen nicht. Hat Gehlen Recht, nähert sich Israel mit Riesenschritten dem Status eines jüdischen Ajatollaregimes. Gleich und gleich beharkt sich gern.

(Uri Avnery fragt sich, ob Ahmadinedschad wirklich angedroht hat, Israel auszulöschen. Zwar verfluche der – relativ machtlose – Giftpilz in regelmäßigen Abständen den „zionistischen Tumor“, ob er aber selber die Eliminierung des Tumors angekündigt habe, sei ungewiss.)

Wenn es Krieg gibt, wird er in wenigen Wochen ausbrechen. Netanjahu und Barak werden mit Sicherheit den heißen Vorwahlkampf in den USA für sich nutzen, denn in dieser hochexpressiven Lage seien beide Kandidaten unter Druck.

Von Mitt Romney weiß man, dass er ohne Wenn und Aber hinter seinem ehemaligen Geschäftsfreund Netanjahu steht. Aber auch Obama könnte sich, wenn er wieder gewählt werden will, kaum der Erpressung erwehren und müsste seine bunkerbrechenden Bomber schicken.

Seltsamerweise stellt niemand die Grundsatzfrage, warum eine säkulare Gesellschaft sich apathisch in die Hände ultrafrommer Fanatiker begibt. Wie wir bei der Beschneidungsfrage sehen, sind selbst liberale Juden nicht geneigt, ihre religionskritische Haltung in den Vordergrund zu stellen. Daher wird man auch die Unschärfe in den Frage: Nation oder Religion? verstehen müssen.

Die emotionalen Spätfolgen des Holocaust, die Pietät vor den Opfern, schmieden alle Juden zusammen, unabhängig von politischen und religiösen Einstellungen. Verständlich, dass notwendige Reibungen und Konflikte durch das Gefühl des Zusammenrückens in der Not verdrängt werden müssen.

Gerade aus diesem Grunde müsste die Nation der Täter, die für diese Gefühlskomplexe bis heute verantwortlich sind, besonders engagiert und im besten freundschaftlichen Geiste kritisch mitwirken und auf diese schwierigen und belasteten Emotionen hinweisen.

Kaum ein Jude wird sich über diese Außenkritik justament aus dem Lande der Übeltäter freuen können. Dennoch wäre es notwendig und angebracht, dass die israelische Gesellschaft den Versuch unternähme, sich mit den Augen Außenstehender – besonders, wenn sie als Freunde gelten – zu betrachten.

Mit der religiös abgeleiteten Haltung, alle Völker der Erde wollten nur ihr Unheil, im Zweifelsfall könnten sie sich nur auf sich selbst verlassen: mit dieser xenophobischen Einstellung wird Israel sich und seinen Nachbarn keinen Gefallen tun.

Der Idealismus der zionistischen Gründerbewegung hat Wunder vollbracht und den verfolgten Juden eine Heimstatt gegeben. Doch Utopien und Wunder haben ihre Halbwerts- und Verfallszeit, wenn sie sich nicht ständig runderneuern.

Israel müsste sich die Worte Avraham Burgs zu Herzen nehmen, der in seinem Buch „Hitler besiegen“ – eins der besten Bücher zu diesem Komplex – die Zeilen schrieb:

„Ich bin zutiefst überzeugt, wenn wir die moderne israelische Identität nicht auf Optimismus, Glauben an die Menschen und volles Vertrauen in die Völkerfamilie gründen, haben wir auf lange Sicht keine Existenz- und Überlebenschance – nicht als Gesellschaft in einem Staat, nicht als Staat in der Welt und nicht als Nation in der Zukunft. Die Ära ängstlichen Judentums und paranoiden Judentums ist vorbei. Die Zeit ist reif für die Integration in eine freie, positive Welt. Der Glaube des jüdischen Volkes in die Welt und die Menschheit muss wiederhergestellt werden.“