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Freitag, 19. Oktober 2012 – Furor der Religion

Hello, Freunde der Türkei,

„Du sagst, in den Flüssen (im Paradies) wird Wein fließen – ist denn das Paradies eine Kneipe?“ Weil ein türkischer Pianist diesen 900 Jahre alten Vers eines mittelalterlichen Dichters zitierte, steht er in Istanbul vor Gericht. Wegen „öffentlicher Erniedrigung religiöser Werte“.

Das Klima in der Türkei verschärfe sich, wie Jürgen Gottschlich in der TAZ schreibt. Konservative Kreise versuchten, eine geistig-moralische Wende herbeizuführen. Premier Erdogan und seine Partei würden mittlerweilen den Staat mit sich selbst gleichsetzen.

Die Überschrift „Kulturkampf in der Türkei“ allerdings geht fehl. Es geht um Religionskampf, genauer, um einen Kampf zwischen demokratischen und religiösen Werten. Der weltweit wachsende Angriff der Religionen gegen den selbstbestimmten Menschen wird in Deutschland noch immer unterschätzt. Die Religion wird hochgehalten, tabuisiert und eingezäunt.

Der grüne Abgeordnete Jerzy Montag, Sohn eines jüdischen Vaters und einer katholischen Mutter, ist erschrocken über den „antireligiösen Furor“ der Beschneidungsdebatte. Er selbst hält sich nicht für religiös und gehört keiner Glaubensrichtung an.

Ein beliebtes Argumentationsmuster in allen Religionsdebatten, sich selbst als neutral zu definieren, um die Religion für die schwächere und schützenswerte Partei auszugeben damit man sich schützend vor sie stellen kann.

Habermas hält sich religiös für „unmusikalisch“, glaubt aber, ohne christliche Werte

ginge die Demokratie zugrunde, als hätten Religionen die Polis erfunden.

Generell muss man zwischen Religion und Religion unterscheiden. Naturfrömmigkeit, die den Menschen als Teil der Natur betrachtet, seine natürliche Vernunft stärkt und unterstützt – eine solche Frömmigkeit wäre nicht verwerflich, im Gegenteil.

Nur Erlösungsreligionen, die Götter und Mächte verehren, die den Menschen demütigen und erniedrigen, ihn zum moralischen Krüppel erklären, sind Feinde der Demokratie, weil sie Feinde des Menschen sind.

Wer Menschen hasst und sie der autoritären Leitung von Priestern und Erleuchteten unterstellt – bei Platon von königlich-despotischen Weisen –, der darf sich nicht wundern, dass Demokraten sich gegen die Pestilenz wehren, die schon viel Unheil in der Geschichte angerichtet hat.

Wo es selbstbewusste Volksherrschaften gibt, ist die Macht dieser Religionen eingedämmt – aber nicht unschädlich gemacht. Denn die meisten Gläubigen haben sich vom inhumanen Geist der Erlöser abgenabelt, doch nicht klar und eindeutig von den Heiligen Schriften dieser Religionen, die das Gift in ihren Katakomben lagern, bis sie es bei günstiger Machtkonstellation wieder reaktivieren können.

Die religiösen Urquellen der Inhumanität müssen zu ungültigen Dokumenten der menschlichen Entwicklung erklärt werden. Solange menschenfeindliche Texte als unfehlbar gelten, solange bleiben sie potentiell gefährlich, weil sie die Menschen aus den unbewussten Schichten ihrer religiösen Kinderseele dominieren.

Unfehlbare Offenbarungstexte und Sapere aude: das ist wie Feuer und Wasser.

Beim beliebigen Durchblättern schreckliche Drohungen in allen Varianten:

„Jeder Baum, der nicht gute Früchte bringt, wird umgehauen und ins Feuer geworfen.“ Matthäus 7,19

„Gehet ein durch die enge Pforte! Denn die Pforte ist weit und der Weg ist breit, der zum Verderben führt Der Weg ist schmal, der zum Leben führt, und wenige sind es, die ihn finden.“ 7,13 f

„… die Söhne des Reiches dagegen werden in die Finsternis, die draußen ist, hinausgestoßen werden. Dort wird Heulen und Zähneknirschen sein.“ 8,12

„Siehe, ich sende euch wie Schafe mitten unter die Wölfe. Darum seid klug wie die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben.“ 10,16

„Hütet euch aber vor den Menschen.“ 10,17 – Ungläubige werden zu Menschenfressern dämonisiert.

„… fürchtet vielmehr den, der Leib und Seele verderben kann in der Hölle.“ 10,28

„Wer mich aber verleugnet vor den Menschen, den werde auch ich verleugnen vor meinem Vater in den Himmeln. Meinet nicht, dass ich gekommen sei, Frieden auf Erden zu bringen. Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert …“ 10,32-39 Moderne Deuter haben keine Mühe, diese Texte in Liebeserklärungen umzutransformieren.

„Darauf fing er an, die Städte, in denen die meisten seiner machtvollen Taten geschehen waren, zu schelten, weil sie nicht Buße taten. Wehe dir, Chorazin, wehe dir Bethsaida!“ 11,20 f

„… aber die Lästerung wider den Geist wird nicht vergeben werden. Und wer ein Wort wider den Sohn des Menschen redet, dem wird vergeben werden; wer aber eins wider den heiligen Geist redet, dem wird nicht vergeben werden weder in dieser noch in der zukünftigen Welt.“ 12,31 ff

„Denn nach deinen Worten wirst du gerecht gesprochen werden und nach deinen Worten wirst du verurteilt werden.“ 12,37

„Suchet zuerst das Unkraut zusammen und bindet es in Bündel, damit man es verbrenne.“ 13,30

„Die Ernte ist das Ende der Welt, die Schnitter sind die Engel. Wie man nun das Unkraut zusammensucht und mit Feuer verbrennt, so wird es am Ende der Welt sein. Der Sohn des Menschen wird seine Engel aussenden, und sie werden aus seinem Reiche alle sammeln, die ein Ärgernis sind, und die, welche tun, was wider das Gesetz ist, und werden sie in den Feuerofen werfen. Dort wird Heulen und Zähneknirschen sein.“ 13,36 ff

„… und sammelten die guten in Gefäße, die faulen aber warfen sie weg. So wird es am Ende der Welt sein: Die Engel werden ausgehen und die Bösen mitten aus den Gerechten aussondern und sie in den Feuerofen werfen. Dort wird sein Heulen und Zähneklappen.“ 13,47 ff

„Jede Pflanze, die nicht mein himmlischer Vater gepflanzt hat, wird ausgerissen werden. Lasset sie, sie sind blinde Führer von Blinden. Wenn aber ein Blinder einen Blinden führt, werden beide in eine Grube fallen.“ 15,13 f – Was nur die Natur gepflanzt hat, kommt in den Feuerofen.

„Denn wer sein Leben retten will, der wird es verlieren, wer aber sein Leben verliert um meinetwillen, der wird es finden.“ 16,25

„Wenn dich aber deine Hand oder dein Fuß zur Sünde verführt, so haue ihn ab und wirf ihn von dir. Es ist besser für dich, dass du verstümmelt und lahm in das Leben eingehst, als dass du zwei Hände oder zwei Füße hast und in das ewige Feuer geworfen wirst. Und wenn dich dein Auge zur Sünde verführt, so reiß es aus und wirf es von dir. Es ist besser für dich, dass du einäugig in das Leben eingehst, als dass du zwei Augen hast und in die Hölle mit ihrem Feuer geworfen wirst.“ 18,8 ff Da der Mensch ständig sündigt, müsste er sich ständig amputieren oder kastrieren.

„Und sein Herr wurde zornig und übergab ihn den Folterknechten, bis er alles bezahlt hätte. Was er ihm schuldig war. So wird auch mein himmlischer Vater euch tun, wenn ihr nicht jeder seinem Bruder von Herzen vergebt.“ 18,34 ff Wenn Menschen sich nicht vergeben, werden sie gefoltert. Gott vergibt ihnen nicht.

„Und er sprach zum Feigenbaum: Nie mehr soll Frucht von dir kommen in Ewigkeit: Und sofort verdorrte der Feigenbaum.“ 21,18 ff – Natur wird ausgerottet, wenn sie nicht den Bedürfnissen des Menschen dient.

„Und er sagte zu ihm: Freund, wie bist du hereingekommen ohne ein Hochzeitskleid? Der aber verstummte. Da sprach der König zu den Dienern: Bindet ihm Hände und Füsse und werfet ihn hinaus in die Finsternis, die draussen ist. Dort wird sein Heulen und Zähneklappen. Denn viele sind berufen, wenige aber sind auserwählt.“ 22,1 ff

Die Verfluchungs- und Weherufe über die Pharisäer und Schriftgelehrten in Matth. 23, 33-36. Eine einzige Verfluchung der Juden:

„Wahrlich, ich sage euch: Hier wird kein Stein auf dem andern bleiben, der nicht zerstört würde.“ 24,2 – Was Menschen in langen Zeiten mühsam auferbaut haben, wird unnachsichtig niedergerissen, wenn der Herr kommt.

„Dann wird man euch der Drangsal preisgeben und euch töten und ihr werdet um meines Namens willen von allen Völkern gehasst sein.“ 24,9 – Durch Opfer und Leid zum Sieg.

Die apokalyptischen Greuel der Endzeit:

„… so wird auch die Wiederkunft des Sohnes des Menschen sein. Dann werden zwei auf dem Felde sein. Einer wird angenommen, einer zurückgelassen. Zwei werden mit dem Mühlstein mahlen. Eine wird angenommen und eine wird zurückgelassen.“ 24,37 ff Brutale Selektion und Zerreißung gewachsener Lebensgemeinschaften. Je mehr Menschen aneinander hängen, je eifersüchtiger ist Gott, je brutaler werden sie voneinander separiert.

„Denn jedem, der hat, wird gegeben werden und er wird Überfluss haben; dem aber, der nicht hat, wird auch das genommen werden, was er hat. Und den unnützen Knecht stosset in die Finsternis, die draussen ist. Dort wird Heulen und Zähneknirschen sein.“ 25, 14 ff – Der Kapitalismus in einem Satz beschrieben.

„Dann wird er auch sagen zu denen zur Linken: Gehet hinweg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das mein Vater dem Teufel und seinen Engeln bereitet hat Wahrlich, ich sage euch, wiefern ihr es einem dieser Geringsten nicht getan habt, das habt ihr auch mir nicht getan. Und diese werden in die ewige Strafe gehen, die Gerechten aber in das ewige Leben.“ 25,45 ff

„Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden.“ 28,18 – Da wagen es Interpreten, den Herrn Jesus als Erfinder der Gewaltenteilung zu lobpreisen: alle Gewalt im Himmel und auf Erden.

„Wer an ihn glaubt, wird nicht gerichtet. Wer nicht glaubt, ist schon gerichtet.“ Johannes 3,18

„Wer von oben her kommt, der ist über allen; wer von der Erde her stammt, der stammt von der Erde her; wer vom Himmel her kommt, der ist über allen.“ 3,31 – Jesus ist kein machtloser Pazifist, sondern Schreckensherrscher des ganzen Universums.

„Wer an den Sohn glaubt, hat ewiges Leben; wer aber dem Sohne nicht gehorcht, wird das Leben nicht sehen, sondern der Zorn Gottes bleibt über ihm.“ 3,36

„… sondern er hat das Gericht ganz dem Sohn übergeben, damit alle den Sohn ehren Denn die Stunde kommt, in welcher alle, die in den Gräbern sind, seine Stimme hören und hervorgehen werden, die das Gute getan haben, zur Auferstehung für das Leben, die das Böse verübet haben, zur Auferstehung für das Gericht.“ 5,22 ff – Der Erlöser ist der Richter.

„Wahrlich, ich sage euch: Wenn ihr nicht das Fleisch des Sohnes, des Menschen esst und sein Blut trinkt, habt ihr kein Leben in euch.“ 6,53 f  

„Ich richte niemand, doch wenn ich richte, ist mein Gericht wahr.“ 8,15 ff – Geht’s noch paradoxer? In einem Satz richtet er und richtet er nicht.

„Ihr seid von unten her, ich bin von oben her, ihr seid aus dieser Welt, ich bin nicht aus dieser Welt. Darum habe ich euch gesagt, dass ihr in euren Sünden sterben werdet Was rede ich überhaupt noch zu euch?“ 8,23 ff – Alles ist längst vorentschieden. Die Heilsgeschichte vollzieht nur prädestinierte Entscheidungen.

„Ihr stammt vom Teufel als eurem Vater und wollt die Gelüste eures Vaters tun. Der war von Anfang an ein Menschenmörder.“ 8,44 ff – Wir, die Guten stammen von Gott, Ihr, die Bösen stammt vom Teufel. Metaphysischer Rassismus.

„Um ein Gericht herbeizuführen, bin ich in diese Welt gekommen, damit die Nichtsehenden sehen und die Sehenden blind werden.“ 9,39 – Die Erlösung besteht in der Verhinderung der Erlösung für diejenigen, die von Gott nicht prädestiniert sind.

„Aber ihr glaubt nicht, denn ihr gehört nicht zu meinen Schafen.“ 10,26

„Wer sein Leben liebt, verliert es und wer sein Leben in dieser Welt hasst, wird es ins ewige Leben bewahren.“ 12,25 – Unüberbietbarer Hass auf das irdische Leben.

„Ich rede nicht von euch allen, ich weiß, welche ich erwählt habe“. 13,18 – Gehört zu Calvins Hauptstellen.

„Nach dem Bissen fuhr der Satan in ihn.“ 13,27 – In Judas, der von Gott instrumentalisiert wurde, um den Verräter Jesu zu spielen. Nach Meinung der Ultras genau dasselbe Spiel wie bei Hitler.

„Wenn jemand nicht in mir bleibt, wird er weggeworfen wie das Schoss und verdorrt und man sammelt sie und wirft sie ins Feuer und sie verbrennen.“ 15,6

„Ihr werdet weinen und wehklagen, aber die Welt wird sich freuen, ihr werdet traurig sein, doch eure Traurigkeit wird zur Freude werden.“ 16,20 – Eine Versöhnung mit der Welt gibt es nicht.

„Nicht für die Welt bitte ich, sondern für die, welche du mir gegeben hast.“ 17,9 – Vor Gott sind alle Menschen gleich, stimmts? Calvin hätte gejauchzt.

„Habet nicht die lieb die Welt, noch was in der Welt ist. Wenn jemand die Welt liebhat, ist die Liebe zum Vater nicht in ihm.“ 1. Joh. 2,15 – Liebe deinen Nächsten und die Welt wie dich selbst, stimmts? Die Agape besteht darin, gute Werke zu tun, um sich bei Gott zu empfehlen, nicht, um ihm zur Seligkeit zu verhelfen.

„Jeder, der aus Gott gezeugt ist, begeht keine Sünde, weil dessen Lebenskeim in ihm bleibt; und er kann nicht sündigen, weil er aus Gott gezeugt ist.“ 1. Joh. 3,9 – Christen sind perfekt, sind unfähig zum Sündigen.

„Wir wissen, dass wir von Gott stammen und die ganze Welt in der Gewalt des Bösen liegt.“ 1. Joh. 5,18. – Die von Gott gezeugt sind, sind gut, die vom Teufel, sind böse. Das steht von Anbeginn der Geschichte für jeden Menschen fest.

„Wenn jemand zu euch kommt und diese Lehre nicht bringt, so nehmet ihn nicht ins Haus auf und begrüsst ihn nicht. Denn wer ihn begrüßt, nimmt teil an seinen bösen Werken.“ 2. Joh. 10 – Liebe deine Feinde wie dich selbst, stimmts? Wer einen Ungläubigen nur begrüßt, bekleckert sich mit dem Bösen.

„… und dass er die Engel, die ihre Würde nicht bewahrten, sondern ihre eigne Wohnung verließen, für das Gericht des grossen Tages mit ewigen Fesseln unten in der Finsternis verwahrt hat.“ Judas 6 – Selbst Engel werden bestraft, weil sie einen eignen Willen hatten.

Das ist nur eine kleine Auswahl. Machen wir das beliebte Rankingspiel. Wer kennt eine Schrift, die menschen- und naturfeindlicher wäre als das Neue Testament?

Der Kern der Frohen Botschaft: wer sein irdisches Leben liebt, der ist für immer verloren. Nur wer sein Leben auf dieser Welt hasst, wird von Gott belobigt. Alles, was gut ist für den Menschen auf Erden, ist schlecht und verwerflich für seine Seligkeit und alles, was gut ist für seine Seligkeit, ist schlecht für sein irdisches Leben.

1. Diese schreckenerregenden Texte werden von „aufgeklärten“ deutschen Theologen seit der Romantik (seit Schleiermacher) versteckt und geleugnet. Ein Großteil der Schrift fällt damit aus dem Kanon. Der Rahmen der Heilsgeschichte mit Himmel und Hölle wird völlig verleugnet.

Das christliche Credo ähnelt einem Walfisch, der bis auf das Gerippe abgenagt ist. Nur noch wenige Stellen sind vorzeigbar, ohne dass die Frommen in höchste Schwierigkeiten geraten.

2. Deutsche Gottesgelehrte haben alle unliebsamen Texte

a) entweder entmythologisiert oder

b) umgedeutet oder

c) relativiert und historisiert. Nach dem Motto: diese Texte müsse man aus dem Kontext der damaligen Geschichte verstehen.

Schon richtig, doch der Zusammenhang ist kein anderer als heute. Gottes Wort kann man nicht absolut setzen und gleichzeitig historisch relativieren.

Theologen, selbst Historiker sagen gern, die Brutalitäten der Kreuzzüge könne man aus heutiger Sicht leicht verurteilen. Man müsse sie aber aus dem Kontext der Vergangenheit verstehen.

Was an diesen Texten und Taten gibt’s zu verstehen? Jedes Kind kann sie verstehen.

Es geht darum, sie eindeutig zu bewerten und zu verwerfen. Was gäbe es heute für einen Aufschrei, wenn jemand die Worte und Taten der Nationalsozialisten mit historischen Relativierungen verharmlosen würde?

d) Durch historisch-kritische Arbeit will man die Brutalität verschiedener Texte dadurch eliminieren, dass man zwischen Originalzitaten des Herrn, späteren Zusätzen, Gemeindeeinflüssen und sonstigen Spekulationen und Vermutungen unterscheidet.

Das ist alles Zinnober. Weder gibt es belastbare Erkenntnisse der Echtheit, noch ist diese Frage überhaupt relevant. Relevant ist ausschließlich die psychologische Wirkung der gesamten Bibel über 2000 Jahre hinweg auf eine unmündig gehaltene Gemeinde.

e) Es ist der blanke Hohn einer Kultur, von einer Religion geprägt sein zu wollen – und dennoch völlig von ihr unberührt zu sein.

f) Wenn die Ethik dieser Religion reine Liebe wäre, warum leben wir nicht schon längst in einem Liebesparadies? Und umgekehrt, warum werden böse Taten nicht auf böse Ursprünge zurückgeführt? Zumal ständig betont wird, dass der Mensch ein radikal böses Wesen sei? Gilt der Satz der psychischen Kausalität nur für Gottlose: Gottlose sind böse, also tun sie Böses?

g) In der ganzen Weltgeschichte hat es kein grandioseres Fälschungsunternehmen gegeben als die ständigen Umdeutungen und Zeitgeistnachbesserungen der Schrift. In grenzenloser Beliebigkeit und unter Assistenz des Heiligen Geistes wurde der klare Sinn der Buchstaben – sensus literalis – verbogen, deformiert und gekrümmt. Orwells 1984 ist eine stümperhafte Nachahmung der systematischen Akkomodation unfehlbarer Bibeltexte an jeden Zeitgeist.

h) Nur die biblizistischen Fundamentalisten in Amerika oder sonstwo sind die ehrlichsten. Als einzige tun sie, was Luther gegen den Papst gefordert hatte: das Wort, sie sollen lassen stahn und kein Dank dafür haben.

Ausgerechnet die deutschen Nachkommen Luthers, der dem Papismus die Fälschung der Schrift vorwarf und zum schlichten Sinn der Worte zurück wollte (welcher für jeden normalen Menschen verständlich sei), sind die schlimmsten Schriftverfälscher der Geschichte geworden.

Jeder bastelt sich seinen eigenen „persönlichen Gott“, sein eigenes hausgemachtes Credo – und verkauft seine subjektiven Einfälle als das Christentum. Bei so vielen Sonderausgaben des Heiligen Geistes ist es ausgeschlossen, ein objektiv unfehlbares Christentum im Reagenzglas herzustellen.

Kein halbwegs wacher Demokrat der Gegenwart würde auch nur einen einzigen Satz aus dem obigen Gruselkabinett unterschreiben. Die Menschheit hat in der Praxis schon längst den Ungeist ihrer Religion überwunden. Noch schafft sie aber nicht, sich ganz und gar vom Wurzelboden des Heiligen zu lösen.  

i) Würde ein Student einen Cäsar- oder Sallusttext just so subjektiv zurichten, wie ein Theologe seine Heilige Schrift, würde er im ersten Semester die rote Karte sehen.

j) Das muss man sich mal klarmachen: so gut wie kein Christ kennt die Schrift, nach der er seinen Glauben benennt. Über theologische Probleme weiß er so gut wie nichts. Priester und Hirten verdummen systematisch ihre Schäfchen und Gemeinden. Auf dem Fundament dieser Dummheit haben sie ihren Machtapparat aufgebaut.

Selbst für einen studierten Philosophen wie Norbert Blüm ist Christsein nichts anderes als: es muss doch was Höheres geben als den Menschen. (Übrigens ist die Dummheit heutiger Atheisten spiegelbildlich von derselben Qualität. Hält ihnen ein frommer Mensch entgegen, sie würden doch auch glauben, nämlich an Nichts, kriegen sie vor Verblüffung den Mund nicht zu.)

k) Dass die Wirkung des Christentums nicht nur im Wortemachen und Bekennen besteht, sondern in realen Taten und Strukturen der christlichen Moderne: im Kapitalismus, in der Naturzerstörung, im ständigen Hass auf Andersgläubige, hat sich überhaupt noch nicht herumgesprochen. Sie glauben an 2 Jahrtausende christlicher Durchsalzung des abendländischen Teiges, aber salzig soll – nichts in ihrem politischen und wirtschaftlichen Leben sein. (Wohlgemerkt nicht bei den Amerikanern)

Jede Erklärung des standardisierten psychischen Verhaltens eines Christen aus den Quellen der Schrift wird mit Empörung quittiert. Weder kennen sie die Texte, noch die Wirkung der Texte – aber sie wissen ganz genau, dass das Matthäus-Theorem ihre Welt nicht adäquat beschreibt.

l) Wenn der Satz der Kausalität zur Ableitung christlich-moderner Phänomene aus ihren Urquellen nicht zutreffen soll, hilft nur noch der Glaube an Wunder und Zeichen und an die hinterhältigen Wirkungen des neunschwänzigen Gottseibeiuns.

Fazit: Was meinte der Herr wohl, wenn er sagte: an ihren Früchten sollt ihr sie erkennen?

Wenn es heute einen Furor gibt, dann mit Sicherheit keinen religionskritischen gegen die Religion, sondern einen der Religion gegen die Menschen, die ihren eigenen Kopf benutzen und ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen wollen.

Kant wird immer zitiert, um ihn unschädlich zu machen: „Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, brauche ich mich ja selbst nicht zu bemühen.“

Heute müsste man hinzufügen: habe ich Edelschreiber, Kolumnisten, ZDF-Philosophen, ARD-Moderatoren und neuigkeitssüchtige Zeitgeistpropheten – dann muss ich nicht selber denken. „Andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen.“

Trotz alledem und alledem: „Die Menschen arbeiten sich von selbst nach und nach aus der Rohigkeit heraus, wenn man nur nicht absichtlich künstelt, um sie darin zu erhalten.“