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Tagesmail

Freitag, 18. Mai 2012 – Rechthaben

Hello, Freunde Oskars,

die Kunst des Aufhörens beherrscht er nicht. Viele Jahre war er der Einzige unter den Prominenten, der dem aufkommenden Neoliberalismus die Stirne bot, den Mut hatte, die SPD zu verlassen und, zusammen mit Gysi, die Linke-Ost mit der Linken-West zusammenzuführen.

Die Linke wurde stark, weil die SPD sich aufgegeben hatte und bis heute keinen klaren Kurs fährt. Doch auf Dauer kann man nicht von den Defiziten anderer leben.

Die beiden Flügel sind innerlich nicht zusammengewachsen. Oskar geriert sich als Gutsherr, der die Puppen nach Belieben tanzen lässt. Er lässt die Partei zappeln, um seine Unentbehrlichkeit zu zeigen. Akzeptiert keine Gegenkandidatur von Bartsch, will nur genehme Leute in seiner Entourage.

Hier wäre ein Generationswechsel fällig. Noch trauen sich die Frauen nicht, die alten Herren vom Tisch zu fegen.

Es genügt nicht mehr, nur Formeln und Parolen zu skandieren und wären sie noch so berechtigt. Die Wähler wollen mehr hören als nur Nein zu Hartz4. Sie wollen zusammenhängende Gedanken hören über die Lage der Weltpolitik, die ideologische Vergangenheit der Linken, Moral, selbst über Philosophie.

Es ist nicht nur Merkel, die sich stumm durchwurstelt. Keine Partei, die sich traute, über ihren eigenen Tellerrand zu gucken und die großen Themen miteinander zu verbinden. Seit dem Aufbruch der Grünen und der Übernahme grüner Themen durch die anderen Parteien zehren alle aus demselben Einheitstopf.

Der Charme der frühen Grünen war, dass sie

völlig unabhängig von Tagespolitik waren, unerpressbar und ungeschmälert ihre Gedanken zur Lage der Welt vortrugen. Es war nicht falsch, dass sie sich ins politische Leben einfädelten und die Kunst des Kompromisses lernten. Allein, eine Demokratie besteht nicht nur aus Koalitionsgeschacher und faulen oder richtigen Kompromissen.

Der Mensch ist mehr als nur ein Stammtischpolitiker. Selbst wenn alle gewählten Politiker sich einig wären, haben die Bürger nicht den Eindruck, dass die Probleme der Welt gelöst wären. Der Topf muss regelmäßig von unten durchgemischt werden.

Die Kompromissparteien leben von Basisbewegungen, die sich verrechenbaren Formeln entziehen. Die Basis aber allen Zusammenlebens ist die reine und unvermischte Sicht, die jeder auf die Welt hat. Hat er sie nicht, kann er sie auch nicht im täglichen Geschäft des politischen Verhandelns einbringen.

Die Grundlage der Demokratie – halten zu Gnaden, Herr Walser – ist, dass Menschen Recht haben wollen, indem sie nach Wahrheit suchen. Und dem edlen Wettstreit um die Wahrheit nicht aus dem Wege gehen. Wer nicht Recht haben will, will rechthaberisch Unrecht haben oder er duldet, dass sich Unrecht durchsetzt.

Wer Recht haben will, muss eine These vertreten. Er ähnelt einem Physiker, der der Natur eine Frage stellt und sie im Experiment auffordert, eine Antwort zu geben. Wer keine scharf formulierte These mitbringt, bringt es noch nicht mal zum Experiment.

Im Experiment antwortet die Natur. Sie antwortet umso klarer, je unmissverständlicher die Frage gestellt wurde. Forschung ist Dialog mit der Natur. Wäre die Natur stumm, gäbe es keine Naturwissenschaften.

Allerdings sagt sie nur Ja und Nein. Vorausgesetzt, dass sie die Frage verstanden hat, die widerspruchslos gestellt sein muss. Ist sie es nicht, schweigt die Natur.

Hallo, Natur, welches Wetter kriegen wir? Stimmt Großmutters Vers: Wenn der Hahn kräht auf dem Mist, ändert sich das Wetter oder es bleibt, wie’s ist?

Keine Antwort, denn die Frage ist eine Oder-Frage. Die Antwort kann sich der Fragende selber geben, dazu braucht er keine Natur. Es ist eine Scheinfrage, deren Antwort sich von selbst versteht.

Natürlich stimmt es. Doch die Antwort kann nicht befriedigen, sie bringt uns keinen Erkenntnisgewinn. Natur antwortet nur, wenn sie unseren Erkenntnisstand erweitern kann. Etwa so, wie sich ein Schwerkranker mit der Auskunft trösten wollte: eins ist gewiss, morgen werde ich entweder leben oder tot sein.

Damit weiß er „alles“ und also nichts. Was er wissen will – ob er morgen aufwachen wird mit der Chance, gesund zu werden –, weiß er nicht.

Wenn ich weiß, dass sich das Wetter morgen ändert oder nicht, kenn ich alle möglichen Fälle, die eintreten können.

Diese Form der „Allwissenheit“ verhindert ein konkretes Wissen darüber, was nun morgen wirklich sein wird. Ich muss meine abstrakte Allwissenheit aufgeben, die die Gesamtheit aller denkbaren Fälle umfasst und mich entschließen, einen Fall herauszugreifen und alle andern auszuschließen. Ich muss Konkretes behaupten, damit die Natur konkret Ja oder Nein sagen kann.

In Wirklichkeit ist die Behauptung eine Frage in Form einer These. Ich schaue mir die Wettermaschinen und alle verfügbaren Daten an und behaupte: morgen wird’s schön. Die Behauptung ist eine Prognose, eine Schau in die Zukunft. Nicht zu verwechseln mit Prophetien, wo Auserwählte göttliche Offenbarungen über die Zukunft erhalten.

Der Unterschied ist den meisten Medialen nicht zu vermitteln, die es gar nicht flapsig meinen, wenn sie von Wetter- oder Demoskopiepropheten sprechen.

Kann ich am nächsten Morgen tatsächlich schönes Wetter feststellen, hab ich eine richtige Prognose erstellt. Die Natur hat meine Frage – in Form einer Behauptung – mit Ja beantwortet. Stelle ich nach vielen Prognosen fest, dass sie richtig sind, kann ich mich als Wetterkundler bei der ARD bewerben und meine meteorologischen Kenntnisse unter Beweis stellen.

Wäre das Wetter am nächsten Morgen nicht schön gewesen, hätte die Natur Nein gesagt. Meine These wurde von ihr widerlegt, meine Prognose war falsch. Dann muss ich meine physikalischen Einsichten überprüfen und revidieren, um erneut mein Glück zu probieren.

Meine Frage an die Natur muss ausschließend sein. Je mehr Alternativen ich ausschließe, je präziser werden meine neuen Erkenntnisse, wenn die Natur mit Ja antwortet.

Ich begnüge mich nicht mehr mit der vagen Aussage, morgen wird es schön. Sondern ich will wissen, ob die Sonne den ganzen Tag scheinen und es so heiß wird, dass ich ins Schwimmbad gehen kann. Also muss meine Prognose lauten: Morgen wird das Thermometer den ganzen Tag über 20 Grad sein.

Je enger und ausschließender meine Prognose, je höher meine Chancen, den Erkenntnisstand der Wetterwissenschaft zu erweitern.

Gläubige begnügen sich zumeist mit der Allwissenheit, dass alles in der Hand Gottes liegt, der über Gerechte und Ungerechte regnen lässt. Diese Wahrheit stimmt immer – unter dem Aspekt des Glaubens. Konkret über die Natur werde ich mit solchen Allwissenheiten nichts erfahren.

Eine solche Allwissenheit nennt Kant das Asyl der Ignoranz. Zwar weiß ich nichts, bilde mir aber kraft meines Glaubens ein, alles zu wissen: auf diesem Boden wächst keine Wissenschaft.

Das ist Walsers Position. Da er swedenborgisch den Kopf im Himmel trägt, weiß er im Grunde schon alles. Mit Rechthaben unter uneinsichtigen Menschen muss er sich nicht mehr herumärgern.

Als Poet auf einer einsamen Insel wäre seine Allwissenheit belanglos. Doch in einer Demokratie, die vom Streit der Meinungen über die besten Problemlösungen lebt, ist seine verblasene Allwissenheit undemokratisch und gefährlich.

Er hält sich von der Agora fern und gibt seinen ZeitgenossInnen keine Gelegenheit, seine Sicht der Dinge mitzubedenken, zu debattieren und zur Abstimmung zu stellen.

Es ist noch perverser. Er ist dauerpräsent auf der Agora und verkündet unter dem Beifall aller Medien, dass er nichts zu sagen hat. Indem er nicht Recht haben will, unterminiert er die Grundlage jeden humanen Zusammenlebens und macht sich unangreifbar. Er will nicht widerlegt werden.

Im Widerspruch zu seiner Rede will er durch Flucht vor Verifizierung oder Falsifizierung immer Recht behalten. Seine Rede dementiert sein Verhalten auf der ganzen Linie. Ob diese Haltung des Unangreifbaren seiner Schriftstellerei förderlich ist, mögen jene beurteilen, die seine Bücher glauben lesen zu müssen. Als Demokrat hat er Bankrott angemeldet.

Das ist kein spezifisches Schmankerl von Walser. Es ist fast zum Dogma der Zeitgeisterei geworden, nie Recht haben zu dürfen.

Nicht mehr die Gläubigen werden wegen Unfehlbarkeit attackiert, heute gilt als höchste Form der Toleranz die Demutshaltung, keinen Anspruch auf Wahrheit zu besitzen. Vor allem die Atheisten werden ermahnt, nicht so gottlos rechthaberisch zu sein.

Die Herrschaft der Netten hält auf Äquidistanz zu allen Positionen der Welt, ganz nach dem Motto jener Mutter, die den Kindern unisono erklärt, dass es ihr gleich sei, wer den Streit angefangen habe. Eine Ohrfeige bekomme jeder.

Im Bereich des Zasters und der Macht darf jeder um den Titel rivalisieren, der Tüchtigste, Einflussreichste und Erfolgreichste zu sein. Im Bereich hochkulturierten Intellekts ist Wettbewerb um Wahrheit eine Sünde wider den Geist. Streiten um Wahrheit kommt gleich nach Kinderschändung.

Selbst im Bereich der Wissenschaft ist die Kunst des Debattierens verschwunden. Was nur bedeuten kann: die Wissenschaft ist verschwunden.

Wenn sich niemand mehr angreifbar macht, niemand mehr darum kämpft, seine subjektive Wahrheit als objektive unter Beweis zu stellen, ist der Wettbewerb um das beste Leben vorbei.

Dann stehen uns bald jene Softies ins Haus, die bei den Stichworten Menschenrechte, Recht und Freiheit ihren menschen- und wahrheitsfeindlichen Singsang erheben: wer ist so dreist, bei diesen Punkten immer nur Recht haben zu wollen? Im Namen der Toleranz wird die Unüberprüfbarkeit der Mitläufer und Nichts-Sager zum unfehlbaren Dogma.

Die Ablehnung der Demokratie beginnt nicht bei den Rechtsradikalen mit den kurzen Stirnen. Sie beginnt mitten in der guten Stube der Intellektuellen, denen unter dem Vorzeichen der Duldsamkeit alles gleichgültig geworden ist. Selbst ihr eigenes Geschwätz von gestern.

Diesen Zustand hätte Fichte die vollendete Sündhaftigkeit der Demokratie genannt. Heute könnte man zur Erklärung die Evolution ins Spiel bringen. Warum hat uns die Evolution in den letzten Millionen Jahren ein immer kleineres Gehirn beschert? Weil wir das überflüssige Organ nur noch zum Reichwerden benutzen.

Nicht nur die Linke, aber auch die Linke streitet nicht mehr um die Grundlagen ihrer einstigen Ideologie: den Marxismus. Je nach Wetterlage wird Marx aus der Mottenkiste geholt oder totgeschwiegen. In einem FR-Interview hat die ungarische Ex-Marxistin Agnes Heller den Heros der Revolution in allen wesentlichen Punkten für tot erklärt.

Von Oskar und den Linken hört man zu solchen Urthemen keinen Ton. Eine schlüssige linke Theorie nach Marx existiert nicht mal in Umrissen. Das philosophische Grundbedürfnis der Gesellschaft, das sich immer deutlicher zeigt, wird auf der ganzen Linie ignoriert. Die Linken begnügen sich mit Phrasen und Postengeschacher.