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Freitag, 16. November 2012 – Das Allgemeine und das Konkrete

Hello, Freunde der Spanier,

in Spanien werden täglich mehr als 500 Wohnungen geräumt. „Die Opfer landen auf der Straße, die Schulden bleiben.“ Jetzt erst wurde in aller Eile von der Regierung ein Dekret ausgearbeitet, dass die Räumung bei „besonders verletzlichen Familien“ für zwei Jahre ausgesetzt wird, nachdem sich in den vergangenen Wochen drei Schuldner das Leben genommen haben.

Die Schulden der Banken werden von Steuerzahlern beglichen, die Schulden derer, die den Banken schulden, werden mit Kind und Kegel auf die Straße gesetzt.

 

Hamas-Führer Al Dschabari praktizierte ohne formale Absprachen eine Art Sicherheitskooperation mit Israel. Zum Dank für seine politische Stabilität und Berechenbarkeit – er hielt die radikaleren Islamisten im Zaun – wurde er von Israel durchsiebt. Daraufhin flogen wieder Raketen hin und her, sogar in der unbeschwerten Partystadt Tel Aviv gab es seit langem wieder Sirenenalarm.

In Gefahr braucht das bedrohte Land einen energischen Retter. Der steht Gewehr bei Fuß, heißt Netanjahu und will im Januar gewählt werden. Ein Schelm, wer dem roten Faden der Ereignisse folgt. Nun droht Krieg. Mit dem Iran hat‘s nicht geklappt. Wie immer sind die Palästinenser an allem Schuld – in der freien deutschen Presse. Nicht bei Susanne Knaul in der TAZ. 

 

Unsere europäischen Bruder- und Schwestervölker tun alles, um der deutschen Gerontokratie mit frischem Blut aufzuhelfen. Im ersten Halbjahr wanderten aus Spanien, Portugal, Polen, Griechenland, den osteuropäischen Staaten 500 000 junge agile und motivierte Arbeitswillige ein, um unsere Rentenkassen zu sichern. Damit hat sich Merkels Würgepolitik voll gelohnt. In ihren Heimatländern sehen die jungen Menschen keine Zukunft mehr. Bei uns gibt’s jede Menge davon.

 

Der Dalai Lama und Stephane Hessel sind zwei alte weise Herren, die zusammengeführt wurden, um ihre doppelte Weisheit in einem Buch niederzulegen.

In der TAZ gibt es viele junge Männer, die nicht so weise sind, dafür aber umso zorniger, und die die beiden alten Weisen für selbstverliebte Greise mit Allgemeinplätzen halten.

Den Titel des Buches „Wir erklären den Frieden“, hält Jörg Sundermeier für anmaßend. Beide benutzen den Begriff kultureller Genozid, um die Lage der unterdrückten Tibeter zu kennzeichnen. „Die Verwendung des Wortes Genozid in diesem Zusammenhang ist eine Frechheit.“

(Jörg Sundermeier in der TAZ: Gelbmütze trifft Empörten)

Bei einem kulturellen Genozid wird den Menschen ihre traditionelle Lebensweise genommen. Ist das eine Kleinigkeit, auch wenn sie nicht getötet werden? Dass Mönche sich aus Protest gegen die Besatzungsmächte verbrennen, gehe „offenkundig“ auf die Anstachelung durch die Exilregierung zurück und nicht auf den eigenen Willen, so die TAZ. „Doch die Wirkung von Ideologie ist beiden Herren piepegal.“

Man kann Religion durchaus als Ideologie begreifen, wenn man bereit ist, auch unsere kostbaren Monotheismen als solche vorzustellen. Sonst kommt man in den Verdacht, den fremden Buddhismus für etwas Minderwertigeres zu halten als den germanisierten Jesus.

Nach linker Ansicht ist Ideologie ein Überbau, eine Lehre mit falschem Bewusstsein. Falsch deshalb, weil sie eigentlich das Interesse des Unterbaus vertritt, aber so tut, als habe sie gar kein eigenes Interesse. Der Überbau propagiert zeitlose und interessenunabhängige Wahrheit, die es aber nicht geben soll. Denn das Bewusstsein ist immer abhängig vom wechselnden Sein der Klassenverhältnisse. Erst im Reich der Freiheit ist der Strom der Geschichte gestoppt und die wechselnden Wahrheiten münden in die zeitlose Wahrheit des befreiten Menschen.

Ideologie ist keine Lüge, denn zur Lüge gehört eine absichtliche und bewusste Verdrehung der Wahrheit. Ideologische Sätze sind im Prinzip unausweichlich und dem Bewusstsein entzogen. Der Ideologe glaubt fest an seine Thesen, seine Gespaltenheit zwischen verdecktem Unterbau und manifestem Überbau ist ihm nicht bewusst.

Nur außerordentlichen Genies wie Marx und Engels gelingt es, die Interessen ihrer Bourgeois-Klasse zu durchbrechen, sich gedanklich und emotional an die Seite der geschichtsträchtigen Proletarierklasse zu stellen, in welcher Interesse und Wahrheit identisch sind. Die Proleten sind eine durch schreckliche Benachteiligung privilegierte Klasse, die vor der Schizophrenie der bösen Ausbeuterklasse durch ihre Abkunft geschützt sind.

Es gibt also zwei Kategorien von Menschen, die nichts miteinander gemein haben, in zwei verschiedenen Welten leben, inkompatible Interessen und Wahrheiten besitzen. Gott ist in den Schwachen mächtig, die Letzten werden die Ersten sein und die Starken durch revolutionäre Klassenkämpfe besiegen.

Das ist Theologie in Reinform, transformiert in ökonomische und geschichts-philosophische Begriffe. Die Benachteiligten kommen ins Paradies, die Reichen in die Hölle. Der Marxismus ist die Ausmalung des Gleichnisses vom reichen Mann und armen Lazarus. ( Neues Testament > Lukas 16,19 ff / http://www.way2god.org/de/bibel/lukas/16/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/lukas/16/“>Luk. 16,19 ff)

Die Menschheit ist keine universelle Menge gleicher Menschen, sondern besteht aus zwei Mengen, die im Leben und Tod nichts gemein haben. „Kind, gedenke daran, dass du in deinem Leben dein Gutes empfangen hast und Lazarus das Böse: jetzt dagegen wird er hier getröstet, du aber leidest Pein.“ Schwarz und Weiß, Gute und Böse werden nie zusammenkommen.

Das fand der griechische Kirchenvater Origenes so hart und unbarmherzig, dass er den in der Hölle schmorenden Bösewichtern noch eine letzte Chance einräumen wollte und von der Apokatastasis sprach, einer Art Allversöhnung, wo selbst Teufel und Dämonen die Wahrheit Gottes entdecken, ihre Untaten bereuen und alle selig werden. Ende gut, alles gut.

Ideologen sind keine subjektiven Heuchler, aber objektive Verdreher ihrer wahren Interessen. Sie reden von allgemeiner Moral, meinen aber im Grunde nur ihren eigenen Vorteil. Objektiv gesehen tricksen und täuschen die Ideologen, auch wenn sie subjektiv felsenfest von dem überzeugt sein mögen, was sie vorbringen.

Marx hat die allgemeinen Menschenrechte abgelehnt. Mit dem Argument, die Bourgeoisie habe ihre klassenspezifischen Rechte nur aus taktischen Gründen zu allgemeinen aufgebauscht. Als sie ihre Rechte erkämpft hatten, gaben sie die gleichen Rechte an den Vierten Stand, die Arbeiter (und an die Frauen) nicht mehr weiter. Als sie bekommen hatten, was sie wollten, versperrten sie die Tür zu weiteren Reformen und wurden zum neuen privilegierten Feudaladel.

(Die Chose mit den Frauen passt da nicht genau rein. Denn auch die Bourgeoisfrauen blieben ent-privilegiert. Einerseits gehörten sie ökonomisch zur Klasse ihrer Männer, andererseits verharrten sie auf dem minderwertigen Status der Proleten. Vermutlich war dies der Grund, warum Engels und Bebel die Lage der Frauen besonders untersuchten und sich für ihre Emanzipation einsetzten. Sie müssen ein schlechtes Gewissen gehabt haben, denn ihre Kern-Ideologie hatte keine Erklärung für den „Nebenwiderspruch“ der Frauen.)

Salopp könnte man sagen, Ideologie ist, wenn einer hochmoralisch tönt, doch im Grunde nur seine egoistischen Interessen vertritt. Er spricht von zeitloser und allgemeiner Moral, doch er will nur seine zeitlich wechselnden Eigeninteressen durchsetzen.

Wer das Gute vertritt, steht unter Verdacht, dass er ein Böses will, welches er nicht offen ansprechen kann. Den umgekehrten Fall gibt es im christlichen Abendland nicht. Nämlich die ideologische Verdächtigung des Bösen. Es könnte Gründe geben, dass Menschen sich böser geben, als sie sind. Was bedeuten würde, sie schämen sich, als gute Menschen entlarvt zu werden.

Nach übereinstimmender Meinung aller Linken und Priester sind Menschen von Natur aus böse und nicht gut. Die „Achse des Guten“ verhöhnt alle, die nicht freiwillig zugeben, dass sie Boten der Hölle sind. Besonders die Kirchen stehen unter Ideologieverdacht.

Wenn immer mehr Menschen die Kirchen verlassen, dann nicht aus Protest gegen die christliche Lehre – die für sie nur darin besteht, an etwas Höheres zu glauben, vom Inhalt der heiligen Schriften haben sie keine Ahnung und würden mit Abscheu die meisten Glaubenslehren ablehnen, wenn sie sie kennen würden –, sondern aus Protest gegen die Heuchelei der Kirchen. Denen unterstellen sie, dass sie Wasser predigen, aber Wein trinken – dass sie Ideologen sind.

Dabei unterstellen sie naiv, ihre humanistischen Gutmenschenideen seien der Kern des Credos: arm sein ist keine Schande, keine Macht anstreben, den Menschen helfen, gleich welcher Herkunft, Rasse oder Religion. Im Prinzip sind es die universellen Menschenrechte.

Sie wissen nicht, dass diese der griechischen Philosophie entstammen und nicht den Zehn Geboten oder der Bergpredigt.

Das erste Gebot ist keine glaubensunabhängige moralische Regel für alle Menschen, sondern die strikte Aufforderung, an den Gott der Bibel zu glauben und nicht an andere Götter: „Ich bin der Herr dein Gott, du sollst keine anderen Götter haben neben mir.“ Auch das zweite Gebot bezieht sich nur auf den jüdisch-christlichen-muslimischen Gott: „Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen.“

Wer diesen Glaubensforderungen nicht nachkommt, auch wenn er den Rest der Gebote 100%ig erfüllte, wird ewig bestraft. Nicht die moralischen Forderungen des Dekalogs stehen im Mittelpunkt, sondern die Pflicht zur Anbetung eines partikularen Gottes.

Weshalb Luther in seinem großen Katechismus schrieb, die Erfüllung des ersten Gebotes enthält automatisch die Erfüllung aller andern Gebote. Wer den rechten Gott anbetet, erhält von ihm die Kraft zur Einhaltung der moralischen Regeln. Wer nicht an den rechten Gott glaubt, hat sowieso keine Chancen, ein vor Gott angenehmer Mensch zu werden.

Nun gibt es eine Kontroverse über den Begriff universell. Manche jüdisch-christliche Theologen halten die Zehn Gebote für universell, weil Gott alle Menschen anspricht und von allen Menschen fordert, Ihn anzubeten.

In der Tat ergeht die Forderung an alle. Doch Gott weiß – ja er hat es selbst so eingerichtet –, dass die meisten Menschen dieser Forderung aus Verstocktheit nicht nachkommen werden, sodass die Majorität der Menschheit verloren geht. Viele sind berufen, wenige auserwählt.

Das ist keine universelle, sondern eine selektive oder partielle Moral. Der Schöpfer selbst hat – nach Augustin, Luther und Calvin – vor Erschaffung der Welt die Menschheit in zwei Teile geteilt. Und selbst, wenn er sie nicht geteilt hätte, geht er davon aus, dass die meisten Menschen sein Gnadenangebot ablehnen werden, wofür sie ewig büßen müssen.

Eine echte universelle Moral hält jeden Menschen für gleich begabt zu humanem Handeln. Allerdings muss er diese Fähigkeit ein Leben lang lernen. Diese Lernfähigkeit hängt von seiner Umgebung ab, wodurch sich faktische, aber keine prinzipiellen Unterschiede ergeben. Selbst der schlimmste Verbrecher kann im Gefängnis zur Erkenntnis seiner Untaten gelangen und sein ungutes Verhalten korrigieren.

Bei dem Stoiker Seneca klingt das so: „Keinem ist die Tugend verschlossen, allen steht sie offen, alle lässt sie zu: Freigeborene, Freigelassene, Sklaven, Könige und Vertriebene. Sie sieht nicht die Familie an, noch das Vermögen. Der Mensch allein ist ihr genug. … Ein jeglicher, wenn ihn auch sonst nichts empfiehlt, steht bei mir in Gunst, weil er den Namen Mensch trägt.“

Ein junger wilder Linker würde solche Sätze grimmig vom Tisch fegen, wenn er erführe, dass Seneca einer der reichsten Männer Roms und dazu der Lehrer des Schlächters Nero war. Stellt Seneca unter Ideologieverdacht. Große Phrasen, nichts dahinter.

Das könnte persönlich so gewesen sein. Ob es aber so war, kann nur eine klare Beobachtung von Senecas Verhalten ergeben, der selbstverständlich wusste, dass er der idealen Norm seiner Moral nicht genügt. Ist damit eine Moral gänzlich hinfällig, wenn ihre Vertreter sie nur mangelhaft erfüllen? Natürlich nicht.

Wenn Seneca einräumt, dass er noch nicht perfekt ist, wenn er seine Verfehlungen nicht leugnet und lebenslang hinzulernen will, gibt es keine Spaltung zwischen Über- und Unterbau. Ein solch selbstkritischer Mensch ist mit sich identisch, er mimt nicht den perfekten Popanz. Dennoch kann er auf seine Fähigkeiten stolz sein und sie selbstbewusst vertreten.

Ein Alles oder Nichts gibt es nur in der Erlösungsmoral: Bist du in Gott, dann bist du perfekt, auch wenn du es empirisch nicht bist. Bist du nicht in Gott, wanderst du ins Feuer, auch wenn du noch so ein guter Mensch gewesen sein solltest.

Auf diesen Fall zielt Augustins Bemerkung von den goldenen Lastern der Heiden. Er meinte die unerschütterlichen moralischen Qualitäten des Sokrates, die man dem Heiden beim besten Willen nicht absprechen konnte. Doch da er sie ohne Zutun des Heiligen Geistes zuwege brachte, mussten sie das Blendwerk des Teufels gewesen sein.

Eine universelle Moral kann jeder Mensch autonom mit Hilfe seiner eigenen Einsicht und Kraft zuwege bringen. Eine Erlösermoral beruht auf der Gnadenwirkung eines Eingriffs von oben.

Der biblische Gott ist ein willkürlich Auswählender, von Universalismus kann bei ihm keine Rede sein. Wer den rechten Glauben hat, wird erlöst, wer ihn nicht hat, wird verdammt. Der Akzent liegt nicht mehr auf der Moral, sondern auf einem Glaubensbekenntnis.

Die Kirchenlehre von der Antinomie (= gegen das Gesetz) besagt, dass Gläubige sich gar nicht mehr an die Gebote Gottes halten müssen. Als Kinder Gottes erfüllen sie automatisch die Gesetze – selbst wenn sie nach Belieben das Böse tun. Liebe und tu, was du willst, sagt Antinomiker Augustin und sein protestantischer Schüler Luther sagt dasselbe: Sündige tapfer, aber glaube. Wenn du glaubst, kannst du gar nicht sündigen.

Sundermeier hält den Buddhismus für eine schlimme Ideologie, wenn er unterstellt, sie treibe ihre Anhänger in den Selbstmord. Damit widerspricht er der gängigen westlichen Vorstellung von einem sanften und pazifistischen Buddhismus.

Da liegt er theoretisch nicht ganz falsch, denn auch der Dalai Lama ist im Prinzip – auch wenn Richard Gere und viele kreativ Schaffende den Buddhismus zu ihrer neuen Religion erkoren haben – nichts anderes als ein theokratischer Papst. Mag der jetzige auch ein guter und vorbildlicher Papst sein, so war die Geschichte der buddhistischen Theokratie alles andere als ein humanistisches Zuckerschlecken. Dort gab es dieselben antihumanen Brutalismen wie in der Inquisition des Vatikan.

Näheres in den instruktiven Büchern des Ehepaars Trimondi, die sogar heimlich-unheimliche Beziehungen zwischen Tibet und der Himmler-SS aufgedeckt haben. Heinrich Harrer, der Lehrer des Buddha, war SS-Mitglied. Himmler wollte die Geheimnisse menschenmanipulierender Psychotechniken in den Tiefen des Himalaja erkundigen lassen.

Der TAZ-Bericht stellt alle Aussagen von Hessel und des Dalai Lama unter wütenden Ideologieverdacht. Gleichgültig, was sie sagen, sie sagen es nur, um mit Altersweisheit zu brillieren, ihr Buch zu verkaufen, im Mittelpunkt des Geschehens zu stehen, Eindruck bei unkritischen Jugendlichen und Gefolgsleuten zu machen.

Die beiden Herren könnten unmoralischer nicht sein als zwei Schauspieler, die ein hochmoralisches Drehbuch rezitieren, um nur für ihre darstellerischen Fähigkeiten bewundert zu werden. Ihre moralische Autorität beanspruchen sie „qua Alter und früherer Taten“.

Wenn Autorität auf vorbildlichen Taten beruht, war sie bislang authentisch. Es sei, der Schreiber meint, heute würden die beiden Herren nicht mehr solche Taten vollbringen und sich nur auf früheren guten Taten ausruhen. Belege und Beweise gibt es dazu nicht.

Hier ergießt sich ein typisch deutsches Ressentiment, das a priori weiß, dass alle Moral nur geheucheltes Moralin sein kann. Sie wollen Frieden – „wer will das nicht?“ Wie viele Menschen gibt es in dieser Welt, die über Frieden nur lachen können.

Von paradiesischen Ideen könne man träumen, doch der sündige Mensch sei dazu nicht fähig. Das ist die Überzeugung des gesamten christlichen Westens.

Auch die Großmutter im Altersheim, so Sundermeier, könnte dieselben Erbauungsfloskeln herleiern. Sind sie deshalb falsch? Da hätten wir ein ganz neues Falsifikationskriterium. Alles ist falsch, was Großmütter im Altersheim für richtig halten. Da muss jemand gute Erfahrungen mit alten Menschen im allgemeinen und mit Großmüttern im Besonderen gemacht haben.

Doch das Hauptargument des Artikels besteht im Vorwurf, die beiden Buchautoren propagierten nur Allgemeinplätze, die zum Teil von Putin, dem Papst und der chinesischen KP unterzeichnet werden könnten. Das ist wie mit dem Beifall von der falschen Seite. Applaudieren die Falschen, haben sie die Macht, das Richtige von der Tenne zu fegen.

Wir wollen niemanden erschrecken, aber die Ablehnung des Allgemeinen gehört zum Erbe der Deutschen Bewegung. Sie war der Kern aller Kritik an den westlich-universellen Menschenrechten. Wer Menschheit sagt, will betrügen, sagte Carl Schmitt.

Dieser Satz lässt sich beliebig erweitern. Wer allgemeine Moralsätze vertritt, von einem allgemeinen Frieden träumt, universell-gleiche Rechte für alle Menschen fordert – der will betrügen??

Humane Forderungen sind Allgemeinplätze – die aber von konkreten Menschen konkret erfüllt werden müssen. Wer solche Allgemeinplätze ablehnt, begibt sich auf die Spur des deutschen Sonderweges, der im Namen von „1914“ die Menschenrechte von „1789“ ablehnte und im Besonderen, Organischen und völkisch Eigenwilligen das Heil suchte.

Der Faschismus lehnte alles abstrakt Allgemeine ab und forderte das Konkrete, womit er die Rasse und das Blut meinte. In wem das Blut der auserwählten Bestienrasse floß, der war „konkret, existentiell und biologisch“ auf der rechten Seite.

Diese konkrete und vitale Sicht der Dinge begründete NS-Philosoph Alfred Bäumler damit, dass Deutschland kein Land der Dichter und Denker sei, auch kein Volk von Träumern und Theoretikern, sondern ein Volk von Soldaten. Die Verbundenheit des Volks beruhe auf dem konkreten Blut.

Das Allgemeine galt als das dekadent Westliche oder gar als das mit dem Westen verbundene Jüdische: „Dort ein blutloser, abstrakter, allgemein menschheitlicher, wurzelloser, heimatloser Geist – und hier ein blutbedingter, vital bestimmter, organisch verwurzelter, in der irdischen Wirklichkeit vielfach verankerter, in den ewigen Ordnungen des natürlichen Lebens fest beheimateter Geist … Die neue Philosophie des Menschen geht nicht aus von der Abstraktion der „Persönlichkeit“, sondern vom konkreten Menschen, der einer bestimmten Rasse, einem bestimmten Volkstum, einem gesellschaftlichen Zustand angehört.“

In einer universellen oder allgemeinen Moral haben alle Menschen die gleichen Rechte und Pflichten (Rechte sind identisch mit Pflichten, einen Pflichtenkatalog dem Menschenrechtskatalog anzufügen, ist überflüssig).

In einer selektiven Moral sind die Rechte der einen nicht die Rechte der anderen. Alles ist entweder-oder, hierarchisch, klassen- und ständeabhängig.

Unter einem Allgemeinplatz könnte man allerdings nur Trivialitäten verstehen. Doch Friede und Humanität sind keine Trivialitäten. Schon gar nicht in Deutschland, wo Reden über das Gute zur verachtenswerten Gutmenschen-Ideologie gehört.

Noch dominieren und brillieren hierzulande die exquisiten Trivialitäten des Schlechtmenschentums. Die nobilitierten Nietzsche-Anwandlungen. Böse ist interessant, Gut ist verdächtig – das ist unverändertes Nazi-Erbe.

Gerhard Hauptmann, der Goethe-Imitator, der sich den Schergen zur Verfügung stellte, verteidigte seine Parteinahme mit dem Bösen: „Stören und complicieren wir nicht. Das Böse wie das Gute muss reifen. Ehe das Böse nicht gereift ist, kann sich das Gute nicht entfalten.“

Das Böse ist die Vorbedingung des Guten, am Ende verschmolz es mit dem Guten. Der Teufel ist ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft.

Nicht mit dem Guten, aus der ungebändigten Urkraft des Bösen wollten sich die Deutschen erlösen. Sie war das Gegenteil des Allgemeinen.

Natürlich gibt es auch eine konkrete Realisierung des allgemeinen Guten. Doch dieses Konkrete ist Umsetzung des theoretischen Allgemeinen in Praxis und nicht seine hasserfüllte Ablehnung.

Das allgemeine Recht anerkennt jeden Menschen als gleichwertigen Menschen. Selbst eitle Greise, zahnlose Großmütter und wilde TAZ-Schreiber.

Es ist noch immer wie in jenen Zeiten, als die Romantik sich von der Aufklärung abwandte. Aus Hass gegen die Droh- und Heuchelmoral ihrer christlichen Kanzelprediger verwarfen die Romantiker stellvertretend Kants kategorischen Imperativ. Zwischen universeller Vernunft und selektiver Gottesmoral konnten sie nicht unterscheiden.