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Freitag, 04. Mai 2012 – Der Schrei

Hello, Freunde des Schreis,

schrei, wenn du kannst. Der Schrei wurde zu einem Rekordpreis verkauft. Das Innere des Menschen auf dem Bild ist mit seinem Äußeren identisch, der Schrei hat seine Maske verloren und zeigt sich nackt.

Als der Hammer fiel, jubelten Charaktermasken und Sektgläser – über den Preis des in Geld erstickten Schreis.

Das Bild wird doch nichts mit unserer Zeit zu tun haben? Der Attentäter aus Norwegen hat das Bild sicherlich gekannt. Hat er geschossen, weil er nicht schreien konnte?

Ist Schrei der innere Seelenzustand des vorbildlichen Norwegens? Oder des nicht schreienden, aber lärmenden Westens, dessen bevorzugtes Geschäftsklima die Kühle und dessen bevorzugtes Gesellschaftsklima die Kälte ist?

Bestimmt phantastisch, von Kühle und Kälte auf Klimaerwärmung zu kommen. Wenn wir schon innerlich frieren, soll‘s wenigstens äußerlich warm hergehen. An Weihnachten ertragen einige nicht mehr das Balgen im Schnee und fliehen ins Tropische. Nennt man eine verführerische Frau heiß, kann sie in der Wertschätzung nicht mehr steigen.

Der Schrei steht in einer Landschaft, die selber schreit. Mensch und Natur schreien: zusammen gegen den Himmel? Gegeneinander, weil sie im Clinch liegen?

Ein Bild kann nicht erklären, wie sich entwickelte, was es in einer Momentaufnahme beschreibt. Fühlt der Mensch sich in Klima und Natur unwohl? Schreit er, weil er in beiden nicht zu Hause ist? Weil er

unheilbar religiös ist und ständig transzendieren muss, um kein Tier oder sonstiges Naturmonstrum zu sein?

Oder hat er Natur so zugerichtet, dass er schockiert ist, wie ihm gelingen konnte, sie so entsetzlich zuzurichten?

Kunst kann nur abbilden, erklären kann sie nichts. Sie muss sich mit einer Begabung begnügen, die Kunst der Rede ist ihr nicht gegeben. Kein Mensch auf der Auktion hätte den Schrei hören wollen, wenn man ihn denn hätte hörbar machen können. Da wäre Oskars, des Blechtrommlers schriller Schrei, der Gläser zersplittern konnte, vergleichsweise ein harmloser Ton der Panflöte gewesen.

Schreit die Kreatur, dann fotografiere, male und verkaufe sie, dann hast du den Schrei zu Kunst gemacht und per Kunst entsorgt.

Ein reicher Sack kann sich morgens vor den Schrei stellen und sich seines Lebens freuen. Weil er den Schrei in Ware verwandelt hat, damit er ihn nicht hören muss? Er wird doch kein schlechtes Gewissen haben?

Weshalb denn nur, er macht doch nur seinen Job, wenn er mit Soja spekuliert und die Leute nichts mehr Warmes in den Magen kriegen?

Job machen heißt auf Deutsch Arbeiten und Arbeiten ist Gottesdienst, wie wir von Peter Hahne hören. Jeder bleibe in dem Stand, in dem Beruf, in den Gott ihn berufen hat.

Zu den gottgewollten Berufen gehören auch Sojaspekulanten und Urwaldvernichter, die Platz benötigen, um noch mehr Soja herzustellen, damit das Rindvieh was zum Fressen hat und die Europäer ihre Steaks auf den Teller kriegen.

So schließt sich der circulus vitiosus vom Schrei über Kunst und Urwaldvernichtung bis zur Klimaerwärmung.

Einst war der Kreis Symbol für den vollendeten Kosmos, nun haben wir ihn zum Teufelskreis gemacht, der kein Kreis, sondern eine Linie ist. Denn im Kreis geht nichts verloren, alles kehrt wieder. Wer nicht für Ordnung sorgt, steht in kurzer Zeit vor seinen Abfallbergen.

Die göttliche Linie des Fortschritts hingegen wirft weg, um ballastlos die Zukunft zu gewinnen, bei der sie nie ankommen wird. Sie bilden sich ein, sie könnten ihrem Unrat entkommen, da sie nicht mehr an ihren Kloaken vorbei müssen. Deshalb haben sie das lineare no return erfunden, das keine Vergangenheit kennt, da der Gott der Linie hinter ihnen herkehrt und ihren Müll entsorgt, das Böse zum Guten wendet.

Solange die Menschheit ihre Götter zu Müllwerkern degradiert, die ihren Dreck wegräumen müssen, solange wird sie sich auf Erden nicht einnisten.

Den Garten Eden riss sich ein Gott unter den Nagel, dem es gelang, den Kreis zur teuflischen Schlange Uroboros zu diffamieren, die sich zirkulär verschlingt und erneuert, auf dass die Linie der Geschichte installiert werden könne. Vom sogenannten Anfang über die Mitte der Zeit bis zu einem angeblichen Ende.

Die Umwandlung des Kreises in eine gerade Strecke – die nicht mehr, wie Lots Frau, nach hinten schauen darf, weil sie ein permanentes „nach mir die Sintflut“ ausagiert – ist die ökologische Ursünde, die bei den Ökologen noch nicht angekommen ist, weil auch sie nur über lineare Gehirnvernetzungen gebieten.

Bei ihnen ist alles vernetzt, doch ihre Netze sind zu unendlich geraden Barrieren expandiert, die allen Fischen im Wasser, Vögeln in der Luft und Tieren auf dem Lande die Kreisläufe versperren, sie von ihren Nist- und Futterplätzen abriegeln und ihnen den Saft abdrehen.

Jede neue Straße durch Wald und Flur ist ein neuer Strick am Hals der Tiere, deren Revier ein weiteres Mal zerstückelt worden ist.

Der Schrei von Munch ist ein lineares Bild, dessen Mittelpunkt außerhalb des Gemäldes liegt, dessen Perspektiven den Betrachter attackieren wie die Scheinwerfer eines rasend näher kommenden Verhängnisses, das im Auge des Betrachters explodiert.

Die Kunst ist kein Erbe der Menschheit, sondern zur Spielware reicher Onkels verkommen, die sich die besten Leistungen von Künstlern kaufen können, die sie, wenn sie noch lebten, nicht mal mit einem Naserümpfen bedacht hätten.

Doch warum soll‘s der Kunst besser gehen, als dem homo normalis, der sein unvergleichliches Leben täglich verkaufen muss, damit er ein minderwertig-vergleichliches zurückerhält.

Man könnte die Kunst verteidigen mit dem Argument, sie könne nichts dafür, dass sie zur Ware erniedrigt wird und lukrativer geworden ist als griechische Staatsanleihen.

Die Moderne hat es verstanden, das Gefährliche in den Erscheinungsformen des Kriminellen und des Schönen wegzusperren und einzuschließen. Das Kriminelle in Gefängnissen, das Schöne – inklusive dem Hässlichen, das ein paradox präsentiertes Schönes ist – in pompösen Museen und privaten Galerien.

Dort darben sie vor sich hin, in Isolierhaft und ohne Kontakt mit menschenähnlichen Wesen, die sie respektieren und ehren, sich mit ihnen unterhalten, mit ihnen streiten und zürnen.

In bildungsbürgerlichen Museen, wo du nur Studienräte, in privaten Galerien, wo du nur wandelnde Konten siehst, wird die Kunst mit Bewunderung und Kalkül erstickt. Die Zeiten der Auseinandersetzungen sind vorbei. Waren das noch Zeiten, als man jemanden Picasso nannte, den man reif für die Klappsmühle hielt.

Was vor dreißig Jahren mit Abscheu bedacht wurde, wenn ein seltsamer Künstler ein Zehntel der Mülldeponie ins städtische Museum karren ließ, erregt nicht mal die Gemüter der Industriellen, die längst die grellsten Schinken in ihren Chefbüros aufhängen ließen und sich als Kunstkenner präsentieren.

Unter Magnaten ist ein fürchterlicher Wettbewerb entstanden, wer seiner dankbaren Gemeinde die exzeptionellste Gemäldesammlung stiften kann. Das Schöne ist fest in den Händen der Guten, Wahren und Reichen.

Die Kunst ist am Ende. Sie muss nicht mehr beerdigt werden, denn sie ist bereits so eingesargt wie der Leichnam des Petrus in den Gewölben des Vatikan. Nur eins fehlt ihr: sie stinkt noch nicht, weil die Luftzirkulationen in den Museen noch ausreichend funktionieren.

Dass die Kunst am Ende sei, sagte vor 200 Jahren bereits jener Liebhaber des Schönen, von dem folgende Sätze überliefert sind:

Der Zweck aller Kunst ist die durch den Geist hervorgebrachte Identität, in welcher das Ewige für Gemüt und Vorstellung geoffenbart wird. In der Kunst haben wir es mit der Präsenz und Versöhnung des Absoluten, mit einer Entfaltung der Wahrheit, die sich in der Weltgeschichte offenbart, zu tun.“ In Kunst wird „Wahrheit in sinnlicher Gestalt dargestellt“.

Womit klar ist, dass sie am Ende sein muss, wenn das Sinnliche am Ende ist. Und das ist es. Welcher Frechdachs erdreistete sich zu sagen, die Menschheit sei noch ihrer fünf bis sieben Sinne mächtig? Ihr sei das Hören und Sehen, das Fühlen und Empfinden noch nicht vergangen?

Welche Katastrophen müssen noch geschehen, dass wir unsere Sinnesorgane einschalten und in einem planetarischen Shitstorm erklären: bis hierher und nicht weiter?

Jede Woche steht in den Gazetten das neuste ökologische Desaster, was tun wir? Kleines Bauchgrimmen und routiniert weiterlesen. Wir sind überaus kompetente Sinnlichkeitsverdränger geworden. Meisterhaft können wir auf Knopfdruck die basalsten Emotionen ausschalten, sind aber erschüttert über Verbrecher, die fleißig bei uns gelernt haben.

Im Urwald wären wir mit solch sinnlichem Analphabetismus schon längst von Löwen und Tigern gefressen, von Piranjas tranchiert, von Wanderameisen perforiert worden. Deshalb haben wir uns betonierte Städte und urwaldallergische Zivilisationen ausgedacht, damit keine Killerhornissen uns unangemeldet ins Haus kommen.

Wenn die Wahrheit in sinnlicher Gestalt über uns kommen soll, dann gut Nacht, schöne Marie. Pardon: willkommen, schöne Marie, du wirst mir heute Nacht die Wahrheit in sinnlicher Form offenbaren! Solche Künste könnte man sich ja noch gefallen lassen. Da müsste jemand behämmert sein, wenn er vom Ende der Kunst spräche.

Doch ach, die Wahrheit schien in die Sinnlichkeit, und die Sinnlichkeit hat‘s nicht begriffen. Sagten wir Wahrheit? Noch so eine Zumutung, von welchem Nichts sprechen wir da?

Also von vorne: das Nichts schien in die Sinnlichkeit, und die Sinnlichkeit hat nichts gesehen, nichts gehört und nichts empfunden.

Damit stehen wir erst am Anfang der Dino-Wörter Hegels, bei denen man mehr Gänsehaut kriegt als bei einem Krimi von Wallander.

Hegel, schwäbischer Vorläufer des Stuttgart 21-Grauens, schreckt vor keinem Absoluten und Ewigen zurück, die er zudem miteinander versöhnen will, um der Weltgeschichte eine Offenbarung zu bieten.

Es ist schon eigenartig mit diesen Schwaben, die sich so kaltschnäuzig als profane Häuslebauer tarnen, auf ihre Angeber-Sprüchlein aber niemals verzichten würden: Der Schiller und der Hegel, die sind bei uns die Regel.

Und diese beiden Herren kennen nichts, fegen alle Tyrannen dieser Welt vom Thron, fordern das Schicksal in die Schranken und hantieren mit Offenbarung, dem Sein und dem Nichts wie ihre derben Mütter mit dem Spätzlehobel.

Also, worum geht’s? Um Versöhnung. Okay, wer hat denn Streit? Natur und Übernatur, Erde und Himmel. Das ist der Urstreit, von dem alle Streitigkeiten der Weltgeschichte, Kriege, Rivalitäten, Mord und Totschlag, man könnte auch sagen, alle Lieblosigkeit und Unversöhnlichkeit herrühren – inklusive Geschlechterkampf.

Familiendynamisch müsste man sagen, solange Mama und Papa sich von morgens bis abends streiten und zanken, haben die Kinder keinerlei Chancen, friedlich miteinander umzugehen.

Gute Frage, woher die Übernatur kommt. Es muss wohl Menschen gegeben haben, denen es derart verkratzt ging im Leben, dass sie es nur noch aushielten, wenn sie sich in eine wunderschöne Über- oder Gegennatur hinein katapultieren konnten.

Das Entstehen der Übernatur oder des Himmels war ein Zeichen, dass es hier auf Erden nicht immer gemütlich hergegangen sein konnte. Deshalb wird die Menschheit diesen Unfug auch nur lassen, wenn sie die trügerisch gewordene Fata Morgana nicht mehr benötigt.

Schafft Frieden auf Erden und allen Menschen ein Wohlgefallen und ihr habt Himmel und Hölle abgeschafft.

Deshalb soll man auf Gläubige auch nicht arrogant hinabgucken, sie können nicht anders. Ihre irdischen Defizite sind einfach zu groß, weshalb sie ja auch den unbegrenzten Konsumismus erfunden haben, damit ihr Glaube an das Unsichtbare was zu sehen erhält.

Das ist, was Hegel Kunst nennt: eine übernatürliche unsichtbare Wahrheit wird sichtbar, weil sie sinnliche Gestalt annimmt. Ich kann an die himmlische Maria glauben, aber erst, wenn sie mir persönlich hold ist, weiß ich, dass sie keine reine Phantasie ist.

Wobei jetzt ein kleines Problem auftritt: woher weiß ich, dass die Liebste aus Fleisch und Blut die himmlische Maria ist und nicht das Gretchen von nebenan?

Doch um den Kleinkram kann ich mich jetzt nicht kümmern, meine lieben Leser wollen auch noch ein paar Nüsse knacken.

Wenn die Übernatur die eigentliche Natur ist, dann ist das Jenseits der Inbegriff der Wahrheit und die irdische Natur umso besser, je mehr sie sich der überirdischen Wahrheit nähert.

Die Hoffnung der Himmelserfinder bestand darin, die hiesige Welt der jenseitigen dadurch anzugleichen, dass sie die sinnliche Welt von der übersinnlichen – anfertigen ließen. Hat sie ein perfekter Meister gemacht, kann sie unmöglich vollkommen schlecht sein.

Gesagt, getan. Gott wurde zum obersten Künstler ernannt, der die Welt als Arte-Fakt oder als Kunstwerk herstellte. Da Künstler kreativ sein müssen, wurde der oberste Künstler zum Creator mundi ernannt.

Die Erde ist das Kunstwerk Gottes. Je besser sie ist, umso besser der jenseitige Creator. Am Anfang war alles paletti und verdiente die Note eins. Kein Picasso hätte es besser machen können.

Doch wehe wehe, wenn ich an das Ende sehe. Kaum rundum bewundert, war schon der Wurm im Gebälk, vielmehr die Schlange im Unterholz und aus Note eins wurde Note sechs, setzen und sitzen geblieben.

War der Creator zu vorschnell, zu eitel mit seinem Urteil? Hätte er nicht wenigstens die Garantiezeit abwarten sollen, um sich derart zu bauchpinseln?

Wie pubertierende, schnell zum Zorn neigende Götter es so an sich haben, wollte Creator alles gleich in Stücke schlagen. Doch irgendein vernünftiger olympischer Großvater muss ihm zugeredet haben, das sei nun mal so, wenn man mit Creieren anfängt. Alles halb so schlimm, wisch den größten Dreck weg und fang mit dem Besten noch mal von vorne an.

Doch der Fortgang nach Noah war auch nicht besser als der Anfang mit Adam und Eva – und da stehen wir heute. Nicht mal der Sohn des Creators konnte das Übel an der Wurzel packen und alles heile machen. Also beschlossen das Künstlerpaar Vater&Sohn, die Sache noch eine Weile treiben zu lassen, um sie demnächst in diesem Theater mit Blitz und Donner zu entsorgen: das Beste ins Kröpfchen, das Schlechte ins Höllentöpfchen.

Doch jetzt kommt unserer Hegel ins Spiel, ein tapferer Schwabe forcht sich vor nichts. Er erhob Einspruch bei den komischen Künstlergöttern, die nichts auf die Reihe bringen und erklärte, er könne das Ganze besser.

Gewiss muss es Konflikte geben, die müssen auch anständig durchgefochten werden, aber das Ende muss ein Ende mit Versöhnung hier auf Erden sein. Und zwar subito zu seinen Lebzeiten in Berlin, wo er gerade dabei war, preußischer Staatsphilosoph zu werden.

Gewiss, ein paar Problemchen gibt es noch, doch die werden sich beim Bügeln geben. Die Probleme seien gar nicht das große Problem. Die bräuchte man sogar, um die Weltgeschichte voranzubringen, jedes gelöste Problem sei ein Fortschritt im Haus der Menschheit.

Popper (der Hegel hasste) hätte hier zugestimmt: lernen kann man nur durch Versuch und Irrtum. Womit klar ist, dass die Weltgeschichte ein Lernprozess ist. Doch wessen Lernprozess? Wer ist das „Subjekt“ des Lernens? Der Mensch? Zuerst der Weltgeist oder der absolute Geist, so nennt Lutheraner Hegel den altbekannten Gott.

Aber der Mensch kann auch lernen, doch erst dann, wenn Gott zuvor was kapiert und gelernt hat. Dann kann der Mensch nachträglich schauen, wie Papa es gemacht hat und stolz sein auf seinen Erzeuger: seht her Leute, das war mein Papa, der hat die Probleme der Menschheit auf die Reihe gebracht. Ich hab alles verstanden und schreib‘s euch auf, damit ihr auch lernen könnt, wenn ihr wollt.

Haben wir alles verstanden, wie Papa es vormachte, sind wir so klug wie er und – gottgleich. Da Hegel als erster alles über Himmel und Hölle kapiert hatte, war er auch der erste Gottgleiche auf der ganzen Welt. Stuttgart kann stolz auf ihn sein.

Hier sieht man, dass Hegel einige Kleinigkeiten anders auslegte, als er im Katechismusunterricht gelernt hatte. Das lag daran, dass er das Christentum mit dem Griechentum versöhnen wollte, er wollte ja alle Konflikte dieser Welt lösen.

Deshalb ist sein Gott nur am Anfang ein übernatürlicher. Am Ende ist er mit der Natur völlig eins, man könnte sagen: Gott und Natur sind bei ihm wie ein klassisches Ehepaar, wo der überlegene Mann das geistig unter ihm stehende Weib zur Gattin nimmt, ein Leben lang mit ihr kämpft und fightet, bis er sie auf sein Niveau hinauferzogen hat und die beiden ein Herz und eine Seele geworden sind.

Das Weib steht selbstverständlich für Natur, die vom überlegenen Künstlermann zu einem gleichwertigen Ebenbild gemacht worden ist. Die Streitigkeiten, die das heilige Paar vorwärts brachten, nennt Hegel Dialektik. Das ist so eine Art Dialog, aber mit Pfeffer, Widersprüchen, Heulen und Türeknallen, aber am Ende wird alles gut.

Die Kunst der Kinder dieses sauberen Paares darf sich nicht nach Mama Natur richten, sondern nach Papa Geist. Denn Natur muss sich ja auf das Niveau des Mannes erheben. Also ist nicht das Naturschöne entscheidend – wie noch bei Kant, der nichts Schöneres kannte als Naturphänomene –, sondern das Schöne des Geistes.

Doch am Anfang beginnt die Geschichte der Kunst mit sinnlichem Nachahmen der Natur. Im Verlauf der lernenden Geschichte muss sie sich mehr und mehr der Wahrheit des Mannes unterordnen, pardon, darf sich immer mehr der Wahrheit des Mannes annähern.

Die erste Stufe der Kunst ist die „Offenbarung“ des Mannes in der Sinnlichkeit der Natur, auf der zweiten Stufe kommt die Religion ins Spiel, weil sie mit ihrem Mythos das Wechselspiel von Oben und Unten besser erzählen kann als das Sinnliche, das zwar sehr schön sein kann, aber keinen Durchblick hat, worum es im großen Spiel geht.

Erst auf der letzten Stufe kommen Sinnlichkeit und Verstand zusammen und alles bildet eine Einheit. Mit Eichendorff könnte man singen: „Es war, als hätt der Himmel die Erde still geküsst.“ Die Stufe der versöhnenden Hochzeit zwischen Himmel und Erde, Mann und Frau, Vernunft und Sinnlichkeit, nennt Hegel die Philosophie, die vollendete Offenbarung des Weltgeistes.

Also 1. Kunst 2. Religion 3. Philosophie. Erst die Philosophie kann die Welträtsel erklären und in allen Einzelheiten rekonstruieren. Die Kunst kann die sinnlichen Phänomene darstellen, aber sie versteht nur Bahnhof, was ihre Werke zu bedeuten haben.

Kunst wollte der Welt immer den Spiegel vorhalten, um ihr zu zeigen, wie sie in Wahrheit ist. Solange die Welt ein vollendeter Kosmos war, spiegelte die Kunst vollendete Schönheit.

Als im Verlauf der naturschändenden Moderne die Welt immer hässlicher wurde, begannen die Künstler an ihrer Berufung zu zweifeln. In ihrer Verzweiflung blieb ihnen nichts übrig, um das Schöne zu retten, als der Welt ihre beginnende Hässlichkeit zurückzuspiegeln.

Kein Zufall, dass ein Schüler Hegels mit Namen Rosenkranz, der die ersten Schandflecke des aufkommenden Frühkapitalismus erkannte – zusammen mit den Romantikern –, eine „Ästhetik des Hässlichen“ schrieb.

Die moderne Kunst schließlich begnügte sich nicht mehr mit Malen im Atelier, sondern schleppte den ganzen Industriemüll in die Museen, warf ihn den Leuten vor die Füße, um ihnen zu sagen: Seid ihr endgültig behämmert, die Welt derart in eine Abfallgrube zu verwandeln?

Die Kunst des Hässlichen war eine homöopathische: Gleiches durch Gleiches. Zeig den Menschen ihren Mist, dann nehmen sie vielleicht Vernunft an und räumen den Mist weg.

Doch die Menschen verstanden die Botschaft nicht, denn die Künstler reden zumeist in Zungen, sodass kein Mensch sie versteht. Nicht einmal sie selbst.

Anstatt zu sagen: allmählich versagen unsere kleinen Mittel, um euch zu schocken und aufzuwecken. Ihr seid schon rundum schockgefroren und sinnlich anästhesiert. Die Erd-Verwüstung hat ein darstellbares Maß längst überschritten.

Wenn überhaupt, hilft nur noch die klare Rede, die Fähigkeit des unverkürzten Wahrnehmens. Wir haben unser Werk getan. Nun räumen wir das Feld und beteiligen uns am grundsätzlichen Denken.

Das war bereits die Aussage des Schreis, der weiß, dass er ungeheuer brüllen müsste, um uns aufzuwecken und doch würde er uns mit seinen Mitteln nicht mehr erreichen.

Der Schrei verlässt nicht die Leinwand, auf die er gemalt worden ist. Er hält sich die Ohren zu, um nicht zu hören, dass ihn niemand mehr hört.

Den Schrei müssen wir in Denken und Handeln umwandeln.