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Tagesmail

Freitag, 03. Februar 2012 – Posener – Pöttering

Hello, Freunde der Dialogs,

warum haben Ultras eine so große Macht in Israel errungen, obgleich sie das zionistische Staatsprojekt von Anfang an strikt ablehnten, es noch immer ablehnen und ablehnen werden – es sei, sie erringen eines Tages selbst die Macht?

Haredim sind Quietisten, sie überlassen das politische Geschäft dem Herrn der Heerscharen. Gottlose Zionisten hassen sie mehr als externe Feinde. Einige von ihnen sollen mit Ahmadinedschad gegen ihr eigenes Land konspirieren nach dem Motto, der Feind unserer Feinde ist unser Freund.

Avi Primor in der FR/BZ erinnert an die legendäre Vaterfigur Ben Gurion, der die Frommen dulden wollte, weil er eine offene humane Gesellschaft für fähig hielt, eine Minderheit von Demokratiegegnern zu ertragen.

Heute wachsen die Privilegierten – sie müssen nicht arbeiten, können sich den ganzen Tag dem Thorastudium widmen, haben ihre eigenen Schulen, wo Kinder nur Religion pauken und keinerlei weltliches Wissen – der Gesellschaft über den Kopf. Früher verweigerten sie den Kriegsdienst, heute scheinen sie die Armee bis in die höchsten Militärstellen unterwandern zu wollen.

Primor sieht die Lösung des Problems in der Öffnung und Verweltlichung des abgeschlossenen Bildungssystems der Nachwuchs-Ultras. Oberflächlicher kann man das Thema nicht behandeln.

Bei Moshe Zimmermanns Analyse des Landes klang das neulich anders. Da

duldet die säkulare Mehrheit nicht die frommen Scharfmacher, sie hält die religiösen Gesichtspunkte der Haredim für wichtiger zur Gestaltung des Landes als rein weltliche. Was nur bedeuten kann, die Gläubigen und ihr theokratischer Kurs werden deshalb geduldet, weil die Säkularen au fond selbst religiös sind.

Das kollektive Unbewusste des Westens ist voll in der Hand des Heiligen. In Amerika allerdings muss der biblische Faktor sich weder verstecken noch kostümieren. Es agiert bei vollem Bewusstsein.

Nicht anders als in muslimischen Staaten. Zwar gibt es viele Deutungen der jeweils heiligen Schriften, um sich dem liberalen Zeitgeist anzunähern. Doch selbst die Rebellischsten wollen ihre progressive Sicht der Dinge im Koran verankert wissen.

In allen drei abrahamitischen Religionen herrschen Offenbarungsschriften, wenn auch in vielen Nuancen und exegetischen Unterschieden. Nicht die autonome Vernunft gilt, das unfehlbare Wort einer Offenbarung ist letztgültige Instanz aller Wahrheiten. Und mag sie noch so dehnbar sein.

Dennoch hält sich hartnäckig die Meinung, Religionen seien allesamt Botschaften uneingeschränkter Liebe. Sollte es gelegentlich anders aussehen, dann trüge der Schein: Religionen werden von politischen Mächten instrumentalisiert. Der Ex-Botschafter in Deutschland hält eine fundamentale Religionskritik für überflüssig, um die geistige Gewalt der Religiösen zu brechen. Ein bisschen Allgemeinunterricht für den Nachwuchs der staatsfeindlichen Radikalen – und schon wäre die Kuh vom Eis.

Der Vorzug aller Radikalen ist, dass sie Probleme nicht aus Werbegründen trügerisch einpacken, sondern dass sie Tacheles reden. Der aufgeklärte Glamour der Hubers und Käßmänner dient nur dem Verkaufsappeal einer altmodischen Ware, die die meisten offiziell ablehnen, latent aber noch immer für die reinste Wahrheit halten.

Mit einer Dosis Aufklärung fühlt man sich Biblizisten überlegen, mit einer Dosis Glauben flachen europäischen Aufklärern. Wer vieles im Angebot hat, wird manchem etwas bringen: Aufklärung, so viel wie nötig, Credo, so viel wie möglich.

Das Projekt westlicher Säkularisation ist auf allen Ebenen missglückt. Das Glaubensbekenntnis, in welcher Verdünnungsform auch immer, gilt Intellektuellen und Gelehrten als selbstverständliche Norm ihrer wissenschaftlichen und medialen Arbeit. Die Aversion gegen atheistische Flachköpfe ist geradezu der Stallgeruch derer, die hierzulande eine öffentliche Meinung haben dürfen. Man lese nur den Spottkommentar der FAZ gegen Atheisten, die sich benachteiligt fühlen, weil sie keine Gotteshäuser und lärmende Glocken haben.

Selbst inländische Vereinsatheisten wollen keine Spielverderber sein. Sie protestieren ein wenig gegen den Reichtum der Kirchen, halten sich selbstverständlich in erkenntnistheoretischer und evolutionärer Hinsicht für viel aufgeklärter als die aufgeklärtesten Kleriker, spielen ansonsten aber die harmlose oppositionelle Alibifunktion, die man ihnen zugedacht hat, damit in Talkshows ein netter Punchingball für eine allseits offene Debatte vorhanden ist.

Deutsche Atheistenklubs sind Kolpingsvereine mit leicht verwischten Vorzeichen. Es geht ihnen noch immer um die weltbewegende Frage Kants: kann man beweisen, dass es Gott gibt oder nicht? Dessen Antwort: im Prinzip und theoretisch eigentlich nicht. Doch wenn wir die Kirche im Dorf lassen, was wir tun sollten: praktisch doch.

Ist das Ja oder Nein? Es ist mehr ein Ja, denn ein Nein, die praktische Vernunft ist bei Kant wichtiger als die theoretische. Der theoretischen Vernunft wollte er ausdrücklich die Krallen stutzen – „die Grenze ziehen“ –, damit sie künftig die Klappe hält und das ganze Verfahren der Praxis überlässt. Im O-Ton: er wollte „das Wissen aufheben, um dem Glauben Platz zu schaffen“. Natürlich war dieser freigeschaufelte Glaube nicht der schwärmerische Kirchenglaube, sondern ein rationaler Vernunftglaube.

Doch Gott sei’s geklagt, je älter Kant wurde, umso mehr akzeptierte er das pietistische Glaubensgut seiner Kindheit auch für den Bereich innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. In seiner Religionsschrift schlupfte ihm sogar das radikale Böse unter.

Da konnte Goethe noch so ärgerlich sein, der Teufel war damit fürs erste diplomatisch anerkannt. (Sein eigener Mephisto war nicht böse genug, er musste dem Guten als betrogener Betrüger dienen: eine Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft). Und ist es bis zum heutigen Tage. Juden & Christen glauben unisono an das Böse, damit sie die Nazis endlich archivieren können.

Mit dem Bösen ist bekanntlich alles erklärt. Wenn du nicht mehr weiter weißt, gründe einen Arbeitskreis und fasle vom Bösen, wenn du deinen Grips in wohlverdienten Ruhestand schicken willst. Wer ganz böse sein wollte, könnte von einer teufelsgestützten kollektiven Veralzheimerung sprechen.

Gibt’s irgendwo auf der Welt etwas Schreckliches, lautet die Erklärung: kann man nicht erklären. ist schlechthin unverständlich, überkomplex, unübersichtlich. Also wunderbar oder böse. Das Einzige, was man dann noch hört, ist die kopfschüttelnde Frage: Hat die Menschheit keinen Anstand mehr, der sich von selbst versteht?

Früher diente bei unlösbaren Fragen das wunderbare Wirken Gottes als „asylum ignorantiae“ (Zuflucht der Unwissenheit). Konnte man etwas nicht erklären: der himmlische Vater war es. Meistens als guter und lieber Gott, doch wenn nötig, auch als strenger und furchtbarer Herr über Leben und Tod.

Man ist der uralten Erklärung überdrüssig geworden, dass am Elend der Menschheit niemand anders schuldig sein kann als – die Menschheit selbst. Und dass man nichts weniger als eine humane Weltgesellschaft gründen müsste, um humane Wesen zu erhalten, die mit sich und ihrer Umwelt in Frieden leben könnten.

In Altchina sollen Eltern bestraft worden sein, wenn ihre Kinder Unfug anstellten. Man stelle sich vor, dieser Brauch wäre ein Weltgesetz. Da verschwände die Majorität der Menschheit hinter Gittern. Die Eliten sogar in Sippen- und Klassenhaft.

Das neueste Schmankerl ist die Kooperation der Religionen im Zuschanzen von Privilegien, auf dass man selbst nicht zu kurz komme. Haben christliche Kirchen Sonderrechte, fordern CDU-Politiker Sonderrechte für Muslime, damit niemand mehr über klerikale Privilegien zu maulen wagt. Dürfen Juden schächten, sollen Muslime es auch dürfen, damit sich keiner an die dreieinige Religionskohorte heranwagt.

Jeder fordert im Kreis herum Rechte für die Konkurrenz, damit man im Zuge rotierender Gleichberechtigung selbst nicht zu kurz kommt. Hier ein aktuelles Beispiel.

Deutsche sind die besten Vergangenheitsbewältiger, die die Welt je gesehen hat. Sie haben so gründlich aufgeräumt, dass weit und breit keine Vergangenheit mehr zu sehen ist. Dies mit vollem Erfolg: sie sind die zweitbesten Freunde Israels und die besten Freunde der jüdischen Deutschen.

Man hat sich gründlich ausgesprochen, seine gegenseitigen Klischees und Projektionen bußfertig zurückgezogen, alle Missverständnisse ausgeräumt. Okay, von Versöhnung wollen wir nicht sprechen, das ist ein religiöser Akt. Doch man hat sich emotional angenähert, jede Seite kennt die Schwächen und Vorzüge der andern en detail.

Der Verständigungsakt ist gelungen. Man spricht tabulos über alles, Sprech- und Denkverbote waren einmal. Freimütigkeit ist das Zeichen innerer Bewältigung eines Problems. Freud spricht sogar von Humor, an dem man erkennen könne, ob psychische Probleme ihr Gift verloren hätten.

Beide Seiten müssten also heiter und fröhlich miteinander umgehen.Wie im Briefwechsel zwischen Alan Posener und dem CDU-Politiker Hans-Gert Pöttering?

Von Dialog und Briefwechsel kann keine Rede sein. Posener wirft dem prominenten CDU-Mann vor, justament am Holocaust-Gedenktag das Recht auf Israelkritik eingefordert zu haben. Das sei eine provokante Weigerung, die notwendige Scham ob der Naziverbrechen zu empfinden. An 364 Tagen im Jahr könnten alle nach Herzenslust die Heimat der Zionisten attackieren, doch am 27. Januar müsste jeder Europäer „ohne Wenn und Aber Zionist sein“. Eine Erwiderung Pötterings hab ich noch nicht entdeckt. Man sieht, der Dialog zwischen Opfern und Tätern ist voll in Gang.

Generell ist festzuhalten, dass bei jedem antisemitischen Vorgang seltsamerweise immer ein Jude die Sache der Angegriffenen übernehmen muss. Weil die nichtjüdischen Deutschen a) sich nicht trauen, b) nichts von der Sache verstehen oder c) sich gar nicht betroffen fühlen? Das klingt, als wollten sie sagen: Juden, macht das Bisschen unter euch aus, wir haben Wichtigeres zu tun.

Dialogische Atmosphäre zwischen deutschen Juden und Nichtjuden? Fehlanzeige. Eher herrscht die gereizte Spannung zweier Gruppen, die äußerlich miteinander auskommen, innerlich aber weltenweit voneinander entfernt sind.

Posener fühlt sich verletzt, weil er a) bei Pöttering keine anamnestische Scham erkennen kann, b) weil er die „Erlaubnis zur Kritik“ an Israel durch die jüdische Seite nicht gewürdigt findet, c) weil Pöttering Formeln benutzt, die auch von Palästinensern benutzt würden. All dies seien keine Zeichen echter Freundschaft: „Unter Freunden hätte ich weniger Selbstgerechtigkeit und mehr an menschlicher Empfindung erhofft.“

Eine Mediation zwischen streitenden Gruppen kann nur gelingen, wenn die Streithähne mit dem Kopf des Gegners zu denken versuchen. Weder hat Pöttering sich in die Situation eines Juden versetzt – sonst hätte er sich anders verhalten, zumindest auf die Empfindlichkeit des „Anderen“ eingehen müssen. Noch macht Posener den Versuch, die Beweggründe Pötterings zu verstehen. Warum tut ein Freund, was als freundschaftlicher Akt partout nicht zu erkennen ist?

Es herrscht ein Klima der Unverständigkeit und vollständigen Misstrauens. Vermutlich sind alle Begriffe bei beiden Kontrahenten verschieden „konnotiert“ und müssten erst mal geklärt werden. Da beide Herren schon lange im öffentlichen Raum präsent sind: warum haben sie nicht längst den Versuch unternommen, die „Missverständnisse“ anzusprechen, zu klären und sich gedanklich anzunähern?

 

Zuerst möchte ich einige Fragen an Alan Posener stellen. Fragen an Hans-Gert Pöttering folgen an anderer Stelle.

A) Ist eine konstruktive Kritik an Freunden für Sie, Herr Posener, kein Akt der Freundschaft? Siehe Sprüche 9, 8: „Rüge den Weisen, der wird dich lieben“.

B) Wenn ja, warum empfinden Sie die Worte Pötterings als Akt mangelnder Freundschaft?

C) Klingt Ihre Forderung, am 27. Januar müsste jeder Freund ein Zionist „ohne Wenn und Aber“ sein, nicht reichlich nach eingeforderter Kritiklosigkeit? Ohne Wenn und Aber bedeutet kritiklose Solidarität, was mit authentischer Freundschaft unverträglich ist. Ob man allerdings kritische Töne ausgerechnet an einem emotional „belasteten“ Tag äußern muss, ist eine andere Frage.

D) Was ich noch nie verstanden habe: wieso muss man in freien Gesellschaften um Erlaubnis fragen, Kritik zu üben? Ist Kritik in lebendigen Demokratien nicht das ständige Salz in der Suppe?

E) Weshalb folgern Sie aus „unglücklichen“ Formulierungen den Willen Pötterings, nicht aus der Geschichte lernen zu wollen?

F) Warum kritisieren Sie nicht mit größerer Berechtigung die Sätze des Richard von Weizsäcker in der Will-Runde, der Mensch lerne nicht aus der Geschichte. Das sagt jener Mann, der mit seiner historischen Rede einen Beitrag leisten wollte, damit die Deutschen aus der Geschichte lernen sollten?

G) Warum benutzen Sie die Email eines anderen, um Pöttering mangelnden Willen zu unterstellen, aus der Geschichte zu lernen? Haben Sie das Empfinden, dass Deutsche generell nicht aus ihrer Geschichte lernen wollen? Das würde bedeuten, dass auch Sie die gesamte Vergangenheitsbewältigung als gescheitert ansehen.

H) Warum bringen Sie Pötterings Kritik in den Verdacht, die Sache des iranischen Feindes zu besorgen, was bedeuten würde, Sie unterstellen Pöttering, das Ende des israelischen Staates zumindest „billigend in Kauf zu nehmen“. Ein happiger Vorwurf!

I) Wieso muss ein Politiker, der Demokratie als gleichberechtigte Heimstätte vieler Rassen, Religionen versteht, die rassistische Formel eines „jüdischen Staates Israel“ übernehmen?

J) Wissen Sie nicht, dass die Forderung der Palästinenser, diese Formel nicht zu benutzen – um das Recht auf Rückkehr ihrer Flüchtlinge zu betonen – real nicht bedeutet, dass alle Flüchtlinge tatsächlich zurückkommen müssten? Sondern dass die Formel den Sinn hat, die Frage offenzuhalten, um darauf hinzuweisen, dass jenen ein historisches Unrecht geschehen ist?

Herr Posener, wir würden uns freuen, wenn Sie sich die Zeit nehmen könnten, um diese wenigen Fragen zu beantworten, damit wir analoge Fragen an Hans-Gert Pöttering formulieren könnten.

Vielen Dank. Ihr Sokratischer Marktplatz

Die Antworten von Alan Posener – siehe: Kontroversen „Freundschaft und Kritik“