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Tagesmail

Freitag, 03. August 2012 – Freitod

Hello, Freunde der Kritik,

Jan Fleischhauer vom SPIEGEL sieht keinen Verfall des deutschen Journalismus. Im Gegenteil, um den „Qualitätsjournalismus“ sei es heute besser bestellt als noch vor 20 Jahren. „Wenn Unabhängigkeit und Distanz wichtige Kriterien sind, dann haben sich die Dinge jedenfalls eindeutig zum Positiven gewendet.“

Es sei noch nicht lange her, dass Politiker und Journalisten sich duzten und gemeinsam in den Urlaub fuhren. Den Fall Prantl hält er für eine Petitesse, der SZ-Star habe nur den Halbsatz vergessen, dass er nicht selbst durchs Schlüsselloch geguckt habe.

Fleischhauer hat nur die entscheidende Frage nicht gestellt, warum Prantl überhaupt die Fiktion nötig hatte, dem obersten Richter – den er in seinem täglichen Job zu kritisieren hat – so auf die Pelle zu rücken. Ob man jemanden duzt oder zusammen mit ihm den Salat schnippelt, ist nicht der große Unterschied.

Wie ist es mit dem Verhältnis von kritischen Medien und Politikern bestellt? Das Deutschland-Radio sendete einen Kommentar über den Wehrbeauftragten, den FDP-Politiker Hellmut Königshaus. Königshaus, so hieß es da, nehme nicht die Soldaten, sondern vor allem sich selber wichtig.

Der Gescholtene reagierte mit einem Wutbrief, drohte verklausuliert mit strafrechtlichen Konsequenzen. Der Kommentar sei eine strafbare Verleumdung. Die Äußerung sei eine herabsetzende, ja beleidigende Kritik. Er erwarte, dass

diese Verleumdung so schnell wie möglich aus dem Internetangebot des Radios entfernt werde.

Der Radiosender erfüllte die Forderung und löschte den Beitrag. Begründung: der Beitrag habe die Qualitätsstandards des Senders nicht erfüllt. Auch ein Amtsträger müsse sich nicht alles bieten lassen, erklärte der Politiker.

Wenn die Radioworte keine legitime Kritik sind, können wir den Luxus der Vierten Gewalt langsam einstellen.

Wir brauchen den Breitensport, erklärte Bundespräsident Gauck justament zur Eröffnung der Olympischen Spiele. Als Degenfechterin Duplitzer die gigantische Mammonisierung der Spiele attackierte und eine Umkehr des Sports zum eigentlichen Motto: Dabei sein ist alles, forderte, höhnte Team-Chef Bach mit breitem Grinsen: Schöne Grüße an Frau Duplitzer. Gewinn erst mal eine Medaille, bevor du die große Lippe riskierst.

Prompt schied die Athletin in den Vorkämpfen aus, für Funktionäre und die Öffentlichkeit die Bestätigung, dass sich hier jemand mit der Klappe profilieren wollte, weil sie im Wettkampf nichts bringt.

Früher ging die Rede, eine Gesellschaft benötige Spitzensport, um die Breite zu animieren und der Jugend ein Vorbild zu sein. Heute ist der Spitzensport zum Pfauentanz der Athleten und der Renommee-Produktion der Nationen geworden. Die Beckenbauers kassieren riesige Summen als wandelnde Litfasssäulen. Die Anbetung des Medaillenspiegels ist die vornehmste Beschäftigung der Sportjournalisten.

Präsident des Deutschen Sportbundes ist der ehemalige Grüne Michael Vesper. Wie ehemalige Turnschuhträger zu Aushängeschildern der Turnschuhproduzenten werden.

Als die besten SchwimmerInnen in London versagten, gab‘s Hohn in den Medien. In der WELT darf ein ehemaliger Schwimmstar seinen Frust über die verwöhnten Weicheier loswerden. Da sei kein Mumm mehr drin, die Aktiven hätten keinen Ehrgeiz und Hunger mehr. Was sollte getan werden?

Jetzt festhalten: „Es muss endlich jemand kommen, der auf den Schlamm haut und den Weg vorgibt. Der sagt: Ich bin der Diktator. Das muss wie in einer großen Firma sein.“ Jawoll, Herr Matthes. Hart wie Kruppstahl.

 

Nach langer Zeit ist Ulrike Herrmann wieder hoffnungsfroher, was den Euro betrifft. „Ab jetzt beginnt die Euro-Rettung.“ Die Europäische Zentralbank (EZB) kauft so lange Staatsanleihen, bis die Zinsen für Italien und Spanien sinken. Doch nur unter politischer Kontrolle. Beide Länder müssen vorher einen Antrag bei den Rettungsschirmen stellen.

Die Aufkäufe fänden nicht mehr im Verborgenen statt. Nur transparent könne die EZB zum verlässlichen Partner werden. Die EZB bestehe auf ihrer Führungsrolle. Die Rettungsschirme erhielten keine Banklizenz. Nun sei es mit der Wurstelei vorbei, meint Herrmann.

 

Rating ist kein neuer Sport. Es ist die immanente Logik einer Erlösungsmaschinerie, deren Hauptbeschäftigung im Selektieren besteht: viele sind berufen, wenige auserwählt. Der Weg ist schmal, gehet durch die enge Pforte. „Ihr seid nichts Besonderes“, ist die Übersetzung der Selektion ins Amerikanische und somit ins Globale.

Die Kehrseite des Ranking ist die Kränkung, die Demütigung, die Abweisung, die Abwertung, die Degradierung: Du bist out. Du gehörst nicht zum Klub. Petrus steht nicht nur an der Himmelspforte, sondern an jeder illustren Disco – und hebt und senkt den Daumen.

In der FAZ stehen einige bemerkenswerte Geständnisse, wie verschiedene Persönlichkeiten beschämende Abwertungen in ihrem Leben erfahren haben. Darunter ein Wirtschaftsredakteur, ein ehemaliger „Shootingstar“ der Literatur und andere Autoren.

Der sonst so zahlensüchtige FAZ-Ökonom Rainer Hank schreibt: „Abwertungen sind Entwertungen. Zurücksetzungen lösen Scham aus. Scham vergisst man nie. Scham ist etwas, was körperlich haftet.“

Besonders interessant die Feststellung, dass ein „Downgrading“ in der Regel nicht gerade zur Verbesserung der Qualität und Wettbewerbsfähigkeit beitrage. Eher im Gegenteil, man werde schlechter. Eben.

Die Frage, die nun kommen müsste, wäre: Soll es im Wirtschaftsleben einen Deut anders sein? Warum werden diejenigen versenkt, die ohnehin in Schräglage sind? Versenkt alle Ratingagenturen in der Tiefe des Meeres.

Verträgt sich der Gedanke des Wettbewerbs überhaupt mit dem Vermeiden von Demütigung und Erniedrigung? Gibt es einen Wettbewerb ohne Beschädigung des Rivalen? Unter Beschädigungsrobotern nicht.

 

Nach einem Sturz konnte Bettina Koch nur noch unter Schmerzen den Kopf bewegen und wollte sterben. Deutsche Behörden verweigerten ihr ein mildes Suizidmittel. Ihr Mann musste die schwerkranke Frau zum Sterben in die Schweiz bringen. Der Mann klagte in Straßburg gegen die BRD, doch Straßburg überließ die Entscheidung den Deutschen.

Inzwischen soll das Gesetz gegen Beihilfe zum Selbstmord noch verschärft werden. Schon der Hinweis auf Möglichkeiten in der Schweiz soll künftig strafbar werden. Umstritten ist nur noch, ob es Ausnahmen geben soll. Die Christdemokraten wollen alle Schlupflöcher schließen, was bedeuten würde, selbst Witwer Koch wäre ein Fall für den Staatsanwalt.

Nach neuem Gesetz wäre seine Tat „eine strafbare Beihilfe zur gewerbsmäßigen Förderung der Selbsttötung.“ Christian Rath in der TAZ: „Das sagt schon alles“. Besser wäre es, das ganze Unsinnsgesetz in den Mülleimer zu werfen.

Wenn‘s um Leben und Tod geht, darf die Stimme der Kirche nicht fehlen. Sie scheinen das Copyright für Grenzsituationen vom Himmel gepachtet zu haben. Ohne Taufe bist du kein Mensch, ohne von oben bestimmtes Ableben warst du nie ein Mensch, sondern ein selbstbestimmtes Monstrum.

Sich selbst entscheiden, ob der Mensch leben oder sterben will – für Wolfgang Huber unmöglich: „Aktiv meinem Leben ein Ende zu setzen, kommt für mich nicht infrage. Ich habe es als Gottes Geschenk erhalten und lege es in seine Hände zurück, wenn es Zeit ist.“

Wenn Mundstücke des Herrn in Ich-Form reden, reden sie zumeist in indirektem Pluralis majestaticus. Sie reden im Namen Gottes gegenüber Menschen und im Namen der Menschen gegenüber Gott. Daher der Begriff Mittler, woher auch die Medien, die im Namen der Menge bei den Politikern vorsprechen und im Namen der Politiker die Menge bei der Stange halten.

Die Figur des „Mittler“ in Goethes Wahlverwandtschaften wechselt zwischen dem Narren, gutmütigem Philanthropen und Moralisten, Glücksritter und Spieler, Katalysator und dem leeren Schwätzer. Er sagt Ich, meint aber Wir und will das Maß aller Menschen sein.

Geht’s ans Eingemachte, müsse Politik die Menschen zwar ernst nehmen. „Aber sie muss darauf die richtigen Antworten geben.“ Die richtige Antwort der Politiker ist die richtige Antwort der Theologen, die sie den Politikern einbläuen. Gibt es noch Argumente außer dem dezenten Hinweis, dass Huber im Namen des Himmels spricht?

Der Altbischof wittert hinter der Idee der Autonomie in Sterbensfragen die Lustseuche der glaubenslosen Gegenwart, immer „ein perfektes Leben zu führen“. Einschränkungen gehörten zum Leben, das müsse hingenommen werden. (Interview mit Wolfgang Huber)

Ist Religion Privatsache, eine subjektive Glaubensangelegenheit? Religion ist Weltübermächtigung, Politik im Einklang mit himmlischen Mächten. Religion bestimmt das Leben der Menschen von der Wiege zur Bahre. Und wenn sie nicht bestimmen darf, fühlt sie sich in ihrem „Selbstbestimmungsrecht“ behindert.

Offenbarungsträger haben entweder die Vorherrschaft oder sie fühlen sich durch dogmatische Demokratie zensiert und ausrangiert. Wenn Huber das Leben als Geschenk Gottes betrachtet, hat er das englische Wort für Geschenk – gift – übersehen. Wie viele Menschen hätten dieses Geschenk lieber nicht erhalten.

Da war selbst Hubers großer Freund Heidegger ehrlicher, der von der Geworfenheit des Menschen sprach. Es muss nicht angenehm sein, in einem zufälligen Winkel der Erde abgeworfen zu werden.

Dass man göttliche Geschenke mit Danke-Nein zurückgeben oder gar zurückweisen kann, hat der Ethiker Huber – der in der ZEIT Dauerwerbung für seine Vorlesungen machen darf – ein bisschen übersehen. Göttliche Geschenke sind für ihn Zwangsgeschenke, dessen Glücksangebote Zwangsbeglückungen. Verweigerst du Gottes Angebote, landest du leicht im höllischen Schlund.

Gott ist ein Eifersüchtiger. Wen er liebt, der hat ihn gefälligst wiederzulieben. Wenn schon der Schöpfer persönlich für das Glück des Einzelnen sorgt, kann Glück auf Erden nur verruchte Glückssucht à la Gauck sein. Perfektionismus ist nur in Heilsangelegenheiten gestattet.

Würde ein Volltrottel sagen: der ganze Erlösungsaufwand mit Kreuz, Tod und Auferstehung – Gott im Himmel, das wär doch nicht nötig gewesen. Ein bisschen Glück auf Erden hätt doch gereicht: man würde ihn der Blasphemie verklagen.

Du bist nicht gefragt worden, ob man dich ins Leben setzen soll, erst recht wirst du nicht gefragt, ob du dein Leben dankend zurückgeben darfst. Ob du Gründe hast oder nicht, interessiert niemanden, der sich ermächtigt fühlt, über deinen Freitod zu bestimmen.

Freitod – schon mal gehört? Wird von Huber & Co als Mord verstanden, als Selbstmord. Unter Co darf man die Mehrheit der Politkaste verstehen, die sich dem Sexappeal theokratischer Tendenzen nicht entziehen können.

Um das Abendland zu verteidigen, darf ein Christ das Leben anderer bedenkenlos auslöschen. Soldaten sind Mörder: ließ vor Jahren Karlsruhe als freie Meinung gelten.

Dein eigenes Leben kann zur härtesten Qual werden – „leichtsinnig wegwerfen“ darfst du es nicht. Andere Motive kennen die Lebensqualerhalter nicht. Autonome und heidnische Menschen sind per se leichtsinnig und unverantwortlich. Sie tändeln frivol ins Leben und frivol wieder raus.

In der Antike war das anders. „Das Recht, selbst sein Leben zu beenden, entspricht dem sittlichen Empfinden der Hellenen.“ (Max Pohlenz, Die Stoa) Kein Wunder, dass der Begriff „Euthanasie“ von Heiden kommt. Der schöne Tod war für Griechen der selbstbestimmte, möglichst leidlose Tod im Kreis der Lieben.

Im christlichen Abendland werden Hoffnungslose in die Besenkammer zum schäbigen Ableben geschoben. Gelobt sei, was hart macht. Nach dem ganzen Unfug mit fun und süßem Leben muss die Menschheit wieder lernen, das Dasein durch Schmerzen lebenswert zu finden. Von dem kleinen, folgenlosen Initiationsschnitt bis zu den Höllenqualen jener, die nicht mehr leben wollen – doch sie müssen.

In seiner Abhandlung „Wie die Alten den Tod gebildet“ von 1769 hat Lessing nachgewiesen, dass sie ihn niemals als abscheuliches Skelett, sondern als jugendlichen Genius mit gesenkter Fackel als Bruder des Schlafes dargestellt haben. Darauf machte Schiller das Gedicht:

„Damals trat kein grässliches Gerippe

An das Bett des Sterbenden: ein Kuss

Nahm das letzte Leben von der Lippe

Seine Fackel senkt’ ein Genius.“