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Freitag, 02. März 2012 – Heitmeyer

Hello, Freunde Israels,

will Netanjahu Krieg gegen den Iran, wie SPIEGEL meint? Oder will er ihn nicht, wie Avi Primor meint?

In den nächsten Tagen wird Israels Premier nach Washington reisen, dort will er bei Obama „um konkrete Zusagen gegen Iran werben.“ Demnächst werde die rote Linie im iranischen Atomprogramm überschritten sein, dann schließe sich das Zeitfenster für eine mögliche Intervention, meint Verteidigungsminister Ehud Barak.

Sämtliche Geheimdienste der USA hätten keine Beweise, dass der Ajatollastaat Atomwaffen herstellen würde. Haben die Geheimdienste nicht schon oft in der Vergangenheit versagt? Es scheint große Spannungen zwischen Washington und Jerusalem zu geben.

Sollte Netanjahus „Werbung“ erfolgreich sein, wird das für viele ein weiterer Beweis für die Macht der „israelischen Lobby“ sein. Dieses Überlegenheitsgefühl, im Konnex ihrer traditionellen Selbsteinschätzung, in der Welt stets allein zu sein, scheinen auch

viele Israelis zu teilen, die klar die Meinung vertreten: Dann müssen wir allein den Krieg anfangen, Amerikaner und Europäer werden uns schon nicht im Stich lassen.

Das wäre die Methode Überrumpelung mit moralischer Nötigung. Zu diesem Spiel aber gehören immer zwei: einer, der das Spiel beginnt und einer, der sich aus Feigheit in das Spiel ziehen lässt.

Avi Primor hingegen behauptet, sicher zu wissen, dass Netanjahu den Iran nicht angreifen will. Was noch lange nicht bedeutet, dass er’s unter bestimmten Umständen nicht doch tun wird.

Im Gegensatz zu seinem martialischen Image sei Netanjahu eher zögerlich. Manche werfen ihm gar übertriebene Vorsicht vor. Er sei der einzige Premier bis jetzt, der noch keinen Krieg inszeniert hätte. Er stand hinter keinem Krieg gegen den Libanon und auch keinem im Gazastreifen.

Würde es zum Krieg kommen, wäre er für Israel sehr schädlich, sein Ausgang unabsehbar und unberechenbar. Um Obama in Bedrängnis zu bringen, würden sich die republikanischen Kandidaten ziemlich kriegsfreundlich geben, was nicht bedeute, dass sie im Falle eines Falles ihren Worten Taten folgen ließen.

Würde es zum Ernstfall kommen, würden sofort die Ölpreise steigen, eine Erholung der amerikanischen Wirtschaft wäre unwahrscheinlich. Obamas Chancen, wieder gewählt zu werden, hängen vor allem von ökonomischen Perspektiven ab.

Das Beste wäre ein Regierungswechsel in Teheran. „Atomwaffen in den Händen eines liberalen Irans wären keine Gefahr“. Doch das sei eine langfristige Perspektive und erfordere viel Zeit. Genau die fehle Obama, meint Primor, der am Ende seines Kommentars, wie fast immer, in Amerika landet und keinen Ton darüber verliert, mit welchen internationalen Methoden man einen friedlichen Politumschwung im Iran zu Wege bringen könnte.

Der Westen hat bisher nicht bewiesen, dass er an friedlicher Prophylaxe interessiert ist. Immerhin gab es heftige Demonstrationen eines großen Teils der Bevölkerung gegen Ahmadinedschad und die Bevormundung durch die Ajatollas. Durch die rigide Heuchelpolitik des Westens aber wurde die Opposition an die Seite ihrer gehassten Regierung gezwungen.

Primor bezieht keine klare Position. Dass die öffentliche Meinung in Israel einen Angriff als überlebenswichtig betrachte, obgleich ein Gegenschlag für die Bevölkerung gefährlich werden könnte, lässt er unkommentiert. Welch Unterschied zu Uri Avnerys Lagebeschreibung der Binnensituation der israelischen Gesellschaft.

Primor erhofft sich alles von Amerika, Uri Avnery setzt auf radikale Umkehr der eigenen Bevölkerung, die Eindämmung und Bekämpfung der friedlosen Ultras.

Wünschenswert wäre eine direkte Debatte zwischen Avnery, Primor oder Moshe Zimmermann, der die demonstrierte Existenzangst Israels als Theaterhysterie betrachtet. Wäre es der Regierung ernst mit der Beseitigung der Gefahren, würde sie erst die Palästinenserfrage klären.

Leider scheint es in Israel kein Deut anders zu sein als bei uns: die großen Männer – wo bleiben die Stimmen der großen Frauen? – reden präzis aneinander vorbei.

Beate Klarsfeld ist geborene Berlinerin, kämpfte ein Leben lang gegen getarnte Nazis, überführte den NS-Massenschlächter Barbie, ohrfeigte den Ex-NSDAP-Kanzler Kiesinger, wurde dafür in Deutschland nie geehrt, in Israel, Frankreich und in den USA hingegen erhielt sie höchste Auszeichnungen.

Nun will sie mit Hilfe der Linken als erste Frau Bundespräsidentin werden. Ist sie überhaupt links? Sie macht kein Hehl daraus, dass sie Anhängerin Sarkos ist. Weil sie immer jene Kandidaten unterstütze, die „besonders gute Beziehungen zu Israel und den USA“ haben.

Hollandes Forderung nach einer 75%-Reichensteuer hielte sie nur für sinnvoll, wenn solche Umverteilungen europaweit eingeführt würden. Sonst käme es nur zur Kapitalflucht reicher Franzosen ins Ausland.

Ob sie einen Präventivschlag gegen den Iran für legitim halte? Dass Israel Angst habe vor einem Staat, der mit Auslöschung des Landes drohe, sei doch völlig verständlich.

Verständlich schon, wenn man die Bedrohung zum Nennwert nimmt. Da streiten sich die Geister. Selbst wenn Teheran Atomwaffen hätte, würde das Regime sie nicht einsetzen, glauben viele Beobachter. Weil das der eigene Untergang wäre. Angst ist ohnehin kein guter Ratgeber.

Ansonsten ist Klarsfeld für eine Zweistaatenlösung und für Friedensverhandlungen. Doch zuerst müsse Hamas den Staat Israel anerkennen.

Hamas hat oft genug ihren Friedenswillen bekundet, gewöhnlich wird erst nach erfolgreichen Verhandlungen ein offizielles Friedensabkommen unterzeichnet. Wer mit dem Feind nicht verhandeln will, weil er Feind ist, will überhaupt keine Verhandlungen, die den Sinn haben, den Feind zum Nichtfeind oder zum Freund zu machen.

Sollte mehr Druck auf Israel ausgeübt werden? „Das ist schwer zu sagen.“

Ist sie eine Heldin? „Vielleicht kann man sagen, ich bin eine Heldin“. Immerhin hat sie ihr Leben aufs Spiel gesetzt, ihr Auto ist in die Luft gesprengt worden, ihre Familie erhielt eine Paketbombe.

Warum muss Klarsfeld selber sagen, ob sie sich als Heldin sieht? Warum sagt die TAZ nicht klar ihre Meinung?

Broder hat die „gute Deutsche“ als eine Frau niedergebügelt, die aus reiner Eitelkeit und Wichtigtuerei ihre Taten unternommen hätte, vermutlich im Gegensatz zu Broder und anderen männlichen Wichtigtuern.

Kein Zweifel, Beate Klarsfeld ist eine Heldin – aber nicht in ihrer kritiklosen Unterstützung eines Staates Israel, der ihre eigene rigide Moralität allzu oft verletzt.

 

Es ist eine nicht repräsentative Studie, die der Innenminister der seriösen BILD zugeschanzt hat, die daraufhin die muslimische Bevölkerung als tickende Zeitbombe darstellte.

Nicht repräsentativ bedeutet: wissenschaftlich wertlos; kaum aufschlussreicher als die beliebten Zufallsinterviews in der Fußgängerzone. Noch wertloser als die Studie ist die Besprechung der Studie. Rühmliche Ausnahme ist die blitzschnelle Prüfung der Studie und die öffentliche Stellungnahme von Naika Foroutan von der Berliner Humboldt-Universität, die gravierende methodische Mängel, die fehlende Repräsentativität und die in BILD politisch forcierte Vorveröffentlichung kritisiert.

Dass die Medien keinen Wert auf Wissenschaftlichkeit legen, erkennt man daran, dass fast niemand die Tatsache der Nicht-Repräsentativität erwähnt. Die Quote der Deutschen, die nicht bereit sind, die Zugewanderten zu integrieren, ist bei weitem höher als die Anzahl jener Muslime, die die folgenden Sätze unterschrieben haben: „Ungläubige kommen in die Hölle“ und „Die Befolgung der Gebote meiner Religiosität ist für mich wichtiger als die Gesetze des Staates, in dem ich lebe.“

Warum werden Christen nicht dieselben Fragen gestellt, die sie – sofern sie den Glaubensbekenntnissen ihrer Kirchen folgen – genau so beantworten müssten wie rechtgläubige Muslime? Solche Fragen sind hinterlistige Schlangengruben. Man befragt die Konkurrenzreligion, was man die eigene nicht zu befragen wagt.

Auch die Großkirchen haben ihre eigene Gesetzgebung, die sie über das Grundgesetz stellen darf. In fundamentalen Fragen sind alle drei abrahamitischen Religionen strukturell identisch.

Der Heuchelfaktor abendländischer Sozialwissenschaftler ist noch nicht untersucht worden, der – auch im Falle der Antisemitismus-Forschung – suggestive und unaufrichtige Fragen stellt, um erwünschte Antworten als eingefräste Parolen zu erhalten.

Haben die Sozialwissenschaftler schon mal die Frage untersucht, was deutsche Christen tatsächlich glauben? Himmel und Hölle inbegriffen? Im Unterschied zum vorgeschriebenen Glaubenskanon des Klerus? Dann müssten sie auch die Frage stellen: Gilt das Gebot der Nächstenliebe nur für den christlichen Nächsten oder auch für ketzerische Andersgläubige?

Selbst wenn alle Zahlen hieb- und stichfest wären, erhöbe sich die Frage: die Tatsachen haben wir, was machen wir nun mit ihnen?

Man kann wie Sarrazin konstatieren: Deutschland schafft sich ab, die Muslime erschüttern unser Land. Man könnte aber auch schließen: die Deutschen sind nicht unschuldig an der Stimmung der Ausländer, die sie selbst ins Land geholt haben.

Wie ich in den Wald hineinrufe, schallt es heraus. Natürlich darf Akzeptanz nicht unkritisch sein – so wenig wie im außenpolitischen Fall Griechenlands und Israels –, ein Fehler, den sentimentale Verbrüderungs-Multi-Kultis nicht selten machten.

Noch weniger dienen verzerrte Wahrnehmungen der „Fremden“, die oft schon in der dritten und vierten Generation hier ansässig sind, der emotionalen Eingliederung.

Die Deutschen kennen auch hier nur ein Entweder-Oder. Entweder blind-freundlich oder feindlich-verzerrt. Über 50% der Deutschen stimmen dem Satz zu: „Der Islam ist eine Religion der Intoleranz“. Was hätten dieselben Probanden geantwortet, wenn die Frage gelautet hätte: Halten Sie das Christentum, das Judentum für intolerante Religionen?

Die Ursachen der Verhetzung liegen nicht am äußersten Rand der Gesellschaft, sie liegen in der Mitte sogenannter bürgerlicher Wissenschaften und hermetischer Elitezirkel.

Erinnern wir an jene deutschen Wissenschaften, die genau bewiesen, dass „Neger“ Halbaffen sind, Juden gefährliche Untermenschen, Schwule und Lesben krank und Sinti und Roma nicht zur arischen Rasse gehören. Erinnern wir uns an Mengele & Co, die im Namen der medizinischen Wissenschaft die Menschen zu experimentellen Zwecken traktierten wie heute unzählige Tiere in Käfigen traktiert werden.

Einer der besten deutschen Sozialwissenschaftler ist der Soziologe Wilhelm Heitmeyer, der sich Konfliktforscher nennt. Gabriele Goettle von der TAZ hat ihn besucht. Seit 1992 hat er als einer der ersten eine sprunghaft verschärfende Fremdenfeindlichkeit konstatiert.

Sein Institut untersucht das Syndrom der „gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“, dessen ideologischer Kern der Glaube an die Ungleichwertigkeit ist. Genau das Phänomen, das für kapitalistische Apologeten das wahre Credo der leistungsbezogenen Arbeitswelt ist. Jeder ist anders, gleich ist niemand, wir wollen die Besten und die Schlechtesten ins Abseits.

Der Kern der Ökonomie müsste nach Heitmeyers Logik eine gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit sein. Kein Wunder, dass in einer offiziellen Clement-Broschüre von Parasiten die Rede war, womit Leute gemeint sind, die sich in der sozialen Hängematte auf Kosten des Staates durchmogeln. Da ist kaum noch ein Unterschied zum Nazijargon über lebensunwertes Leben.

Im Falle des Islam, so Heitmeyer, werde nicht unterschieden zwischen einem brutalen Islam und dem friedlichen Glaubensleben der meisten Muslime.

Die Einführung von Hartz4 in 2005 sei ein Signalereignis gewesen. Plötzlich gerieten auch die Mittelschichten in Schieflage und begannen sich vor dem Absturz zu ängstigen. Dass die Angst gewisse Abwertungsmuster gegenüber Fremden verstärkte – die Letzten beißen die Hunde – war unausweichlich.

Parallel zu diesen sozialen Verwerfungen ging eine schleichende Demokratieentleerung einher. Das bedeutet – im Einklang mit dem englischen Forscher Colin Crouch, der dazu den Begriff der Postdemokratie erfunden hatte –, dass die Säulen der Demokratie noch erhalten seien, aber ihre innere Substanz schwinde.

Solche schleichenden Prozesse unterhöhlten das gesellschaftliche Vertrauen und führe zu rechtsreaktionären Einstellungen. Wozu Islamfeindlichkeit, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit, autoritäre Aggressionen und Anomie zählen, eine Art allgemeiner Desorientierung.

Anomie ist die Haltung von Menschen, die keine Chancen mehr sehen, mit normalen, gesetzlichen Methoden (= Nomos) nach oben zu kommen und deshalb zu antimoralischen Mitteln greifen würden. Völlig klar, dass die Methoden des normalen Kapitalismus längst schon anomisch unterhöhlt sind.

Einen anderen schleichenden Vorgang hat der berühmte amerikanische Soziologe Richard Sennett entdeckt: die Ökonomisierung des Sozialen. Wirtschaftliche Leitbegriffe wie Effizienz, Verwertbarkeit und Nützlichkeit dringen in Bereiche ein, in denen solche Bewertungsmuster wie Gift wirken: in Schulen, ja, in den ganzen privaten Bereich.

So gerieten immer mehr soziologische Gruppen in Verdacht, gesellschaftlichen Anforderungen nicht mehr zu genügen: Zuwanderer, Langzeitarbeitslose, Behinderte und Obdachlose.

Am meisten könne man bestimmte Abwertungen bei den oberen Schichten feststellen. Der Philosoph Sloterdijk etwa nannte den Staat einen „kleptomanischen“, also einen Staat, der seine – vor allem die gutbetuchten – Bürger legal bestiehlt. Das alles könne man als Klassenkampf von oben bezeichnen.

Ein merkwürdiges Phänomen, das Heitmeyers Forschungen erbrachten, war, dass in den Kategorien Fremdenfeindlichkeit und Rassismus die Frauen höhere Werte erhielten als die Männer. Bei Älteren nicht anders. Ausgerechnet die verfemte Jugend schneidet am besten ab.

Es sei eine völlige Fehleinschätzung, wenn man einen klaren Strich zwischen rechtsradikalen Umtrieben und der normalen Gesellschaft ziehen wollte. Insgesamt habe sich der gesellschaftliche Ton massiv ins Rohe verschoben. Gerade Hartz-Empfänger würden kollektiv diskriminiert.

Je größer die Unterschiede auf allen Gebieten würden, umso massiver würden die sozialen Probleme. Die Ungleichheit zersetze regelrecht die Gesellschaft. Was in den 90ern noch undenkbar schien, sei heute normal.

Es gebe so etwas wie einen semantischen Klassenkampf. Wer besser mit der Sprache zu hantieren weiß, die Begriffe am besten besetzen kann, könne sie auch am besten als Kampf- und Diffamierungsmittel einsetzen.

Fazit: eine explosive Situation sei als Dauerzustand eingetreten. „Entsicherung, Richtungslosigkeit und Instabilität sind zur neuen Normalität geworden.“

Somit wären wir im Wunschparadies der Hayekianer und Ackermänner angekommen – und der Literaten und Künstler, die alle unisono und gleichgeschaltet das Ungleichwertige, Außerordentliche und Grenzenlose anbeten.

Kindern muss man Grenzen setzen, erfolgreiche Eltern erkennt man daran, dass sie Grenzen sprengen und das Außer-Ordentliche realisieren, das man mit Fug: Anomie nennen könnte. Noch Fragen, Kienzle?