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Freitag, 01. Februar 2013 – Antisemitismus, die nächste

Hello, Freunde des Rechtsstaates,

vor dem Gesetz sind alle Menschen gleich? Auch wer kein Geld hat, konnte bislang dank der Prozesskostenhilfe seine Sache vor Gericht vertreten. Bald nicht mehr. „Ein geplantes Gesetz könnte dieses Kernprinzip des sozialen Rechtsstaates aufweichen. Deutsche Anwälte sind empört“, schreibt Heribert Prantl in der SZ.

Bislang mussten die 16 Bundesländer für Prozesskostenhilfe die läppische Summe von 500 Millionen Euro ausgeben – für die Grundlage unseres Rechtsstaates. Gerechtigkeit ist den Ländern zu teuer geworden, sie wollen den Staat in die Ungerechtigkeit sparen. Schließlich benötigen sie immense Gelder zum Ausbau des Nürburgrings, von Stuttgart 21, Berliner Flughäfen, Hamburger Elbhafen und sonstigen Gigantoluxusrennomierprojekten, wo Euroscheine frei flottierend in den Äther gewirbelt werden.

Eine Richtervereinigung hatte schon im letzten Jahr das Vorhaben als „erschütternd verfassungswidrig“ bezeichnet. Gerechtigkeit wird vom Geldbeutel abhängen. Alles andere können wir uns nicht mehr leisten. Wer künftig sein Recht will und keine Knete hat, kriegt ein Gnadendarlehen – wenn er täglich bei der nächsten Polizeidienststelle seinen Kotau macht.

Warum schreibt nur Prantl über diese Riesensauerei? Die Vierte Gewalt denkt gar nicht daran, als Bollwerk der Demokratie aufzutreten und ist dabei, sich

als Kontrolle der drei andern Gewalten abzuschaffen.

 

Die Deutschen imitieren immer mehr den failed state Amerika. Sollte Amerika eines Tages der Demokratie mit heiligem Eid auf die Bibel abschwören, werden die Deutschen am nächsten Tag mit Beifall nachziehen. Freiheit ist das Geschenk Gottes an die Menschheit. Sein Geschenk hat er wieder zurückgenommen, teilte seine PR-Stelle mit. Wer sucht, der findet, wer gefunden hat, kann wieder verlieren – wenn er ein Loch in der Hose hat.

Die Götter in den Verfassungen christlicher Demokratien sind postmoderne Wesen, die sich schnell langweilen und öfter eine neue heilige Sau durchs Dorf jagen. Freiheit? War gestern. Rechtsstaat? Ha, wie lustig!

John Kiriakou ist ein ehemaliger CIA-Agent, der den Waterboarding-Folter-Skandal in die Öffentlichkeit brachte. Mit dem Effekt, dass er wegen Verletzung eines Geheimhaltungsgesetzes zu 30 Monaten verknackt wurde. Kaum hatte er in einem Interview über die Foltermethoden berichtet, gab es Ermittlungen gegen seine Frau, Finanzkontrollen, FBI-Untersuchungen und Anklage wegen Spionage.

Der zuständige Oberfolterer wird in den nächsten Tagen neuer CIA-Chef.

Es ist nicht bekannt, dass die Freiheitsschwätzer der Raffgierbrigaden auch nur das kleinste Wörtchen zu diesen eklatanten Freiheitsberaubungen und Rechtsverletzungen geäußert hätten. Solange ihre unverrottbaren Schätze nicht gefoltert und kaserniert werden, ist Amerika für sie das freieste Land der Geschichte. (Dorothea Hahn in der TAZ)

Wie nicht anders zu erwarten: kaum will ein gemäßigter Israel-Kritiker in Amerika Verteidigungsminister werden, werden seine Pläne schaumgebremst. Er bremst sich allerdings auch selbst aus. Für die Aussagen, es gebe in Washington eine jüdische Lobby, die US-Politiker „einschüchtere“ und sie dazu bringe, „dumme Sachen“ zu beschließen, hatte er sich bereits entschuldigt. Beispiele konnte er keine nennen. Zensur ist, wie man hier erkennt, identisch mit plötzlichem Alzheimer.

Was ist der Unterschied zwischen Amerika und Deutschland? Hier wäre ein ähnlicher Kandidat bereits bei der Wahl zum Ortsvorsitzenden in Hinterbischofsheim davongejagt worden. Der Westen sinkt immer mehr zurück in die päpstliche Ordo des Mittelalters. (Matthias Kolb in der SZ)

 

Die kritischste Presse der Welt, die israelische, steht unter Totalzensur, wenn’s um Militärisches geht. Kein Kommentar unter dieser Nummer. Vermutlich hat die israelische Luftwaffe eine Lieferung von Hisbollah-Raketen in Syrien völkerrechtswidrig angegriffen. Da sich das heilige Land unter Dauerbedrohung durch die ganze Welt sieht, schert es sich einen feuchten Kehricht ums Völkerrecht. Immer geht es um Sein oder Nichtsein.

Da helfen nur biblisch legitimierte Racheakte – rechtzeitig zur Profilierung Netanjahus bei der Bildung eines Kriegskabinetts demnächst gegen den Iran. Bei Krieg schließen sich die Reihen der sonst zerstrittenen heimatlichen Parteien und Wankelmütige können elegant zur patriotischen Staatsraison genötigt werden.

Wie immer ist alles geheim. Wer das Geheime kritisierte, hätte keine Ahnung von nichts. In der deutschen Presse besteht ohnehin keine Gefahr für überflüssige Kritik. O-Ton SZ:

„Doch nun war offenbar eine rote Linie überschritten mit der mutmaßlich geplanten Lieferung modernster Luftabwehr-Waffen an die Hisbollah. Es war eine Gelegenheit zu demonstrieren, dass Israel sehr genau beobachtet, was jenseits der Grenze passiert – und gegebenenfalls vor einem Eingreifen nicht zurückschreckt.“ Oder: „Israel wird das kalkuliert haben, als es die Kampfjets losschickte zum Einsatz in Syrien. Man kann der Regierung in Jerusalem also nicht vorwerfen, blind eine neue Kriegsgefahr heraufbeschworen zu haben.“

Ein Blankoscheck ist nichts gegen diese vorauseilende Kriecherei. Man weiß zwar von nichts, aber alles wird seine Richtigkeit haben. Wenn Engel Kriege führen, ist Gott mit ihnen. (Peter Münch in der SZ)

Etwas kritischer ist der Kommentar von Peter Philipp in der TAZ: „Netanjahu spielt mit dem Feuer“.

 

Das Simon-Wiesenthal-Zentrum hat Jakob Augstein erneut zum Antisemiten erklärt. Die erste Attacke wurde mit Diffamierungen Broders begründet, für die der Polterer sich – partiell – entschuldigt hatte. Kein Grund für Unfehlbare, nicht noch eins drauf zu setzen. Nun muss das Streitgespräch Augsteins mit Graumann als Fundgrube herhalten, um Augstein aus der dritten Hölle in die vierte zu versetzen.

Als Broder-Ersatz war Küntzel eingesprungen. Er beklagte eine massenhafte Solidarisierung sowohl in der deutschen Politik wie in den deutschen Medien. Schlechte Karten für die unrettbaren Deutschen.

„Der Politologe forderte die Deutschen auf, sich bewusst zu machen, dass deutsche Israel-Kritik stets eine Funktion erfülle – nämlich sich von der eigenen Schuld für den Holocaust zu entlasten. Wem diese Versuchung nicht klar sei, der könne nicht wirklich mitreden.“

In einer Demokratie kann jeder mitreden, selbst wenn er Stuss spricht. Alles, was vom Gesetz nicht verboten ist, untersteht der Freiheit der Meinungsäußerung und muss von Küntzel nicht genehmigt werden.

Die Funktion einer Israel-Kritik – ist die Kritik an Israel. Sollten andere Funktionen bewusst oder unbewusst damit verbunden sein, müssten sie nachgewiesen werden.

Küntzel weist nichts nach, er dekretiert. Von eigener Schuld zu entlasten, ist legitim, zumal es gar keine Schuld gibt. Die heute lebenden Deutschen haben mit den NS-Untaten nichts zu tun. Dann wäre das Gefühl der Schuld eine eingebildete, mit der sich Menschen belasten, obwohl sie keine Übeltat begingen.

Welchen Deutschen wirft Küntzel Schuld am Holocaust vor? Die Übeltäter sind zu 99,9% in die ewigen Jagdgründe abgetreten. Die Nachkommen der Täter sind keine Täter, halten zu Gnaden. Im rationalen Recht gilt nicht der biblische Sippenhaft-Satz: „Denn ich, der HERR, dein Gott, bin ein eifriger Gott, der da heimsucht der Väter Missetat an den Kindern bis in das dritte und vierte Glied, die mich hassen; und tue Barmherzigkeit an vielen Tausenden, die mich liebhaben und meine Gebote halten.“

Keine Tat, keine Schuld, keine Strafe. Kinder von Tätern haben oft stellvertretende Schuldgefühle für ihre Eltern. Sie fühlen sich für ihre Erzieher verantwortlich und nehmen die Schuld für deren Versagen auf die eigenen Schultern. Das sind psychologisch verständliche Sentiments, die auf die Couch gehören, nicht in die Politik. Schuldbewusste Menschen sind leicht lenk- und manipulierbar, ihnen fehlt das Selbstbewusstsein zum autonomen Handeln.

Die heutigen Deutschen haben überhaupt keine Schuldgefühle mehr zu haben – höchstens dafür, dass sie Israel nicht angemessen, laut und deutlich zur Rechenschaft auffordern. Wie jedes andere demokratische Land auf dieser Welt. Ja noch mehr, weil beide Länder befreundet sein wollen. Weil nur Druck von außen das Regime in Jerusalem dazu bringen kann, von seiner notorischen Unfriedenspolitik Abstand zu nehmen.

Der Publizist Matthias Küntzel betonte, Augstein wolle nicht die Freiheit zur Kritik, sondern die Freiheit zum Ressentiment“. Laut Wiki sind Ressentiments vom Recht nicht verboten, es sei, sie sind verboten. Was Küntzel unter Ressentiments versteht, darunter verstehen andere Zeitgenossen Kritik.

Welche Ressentiments erlaubt und welche verboten sind, muss durch die gewählte Mehrheit festgelegt werden und nicht durch eine Definition ex cathedra. Dass Graumann in besagtem Interview Augstein nicht als Antisemiten bezeichnet, scheint keinen Cooper und keinen Küntzel zu interessieren. Wie wär‘s mit einem Streitgespräch zwischen Unfehlbaren, die sich in vielem widersprechen?

Dem Rabbi Cooper ist tatsächlich aufgegangen, dass das Deutschland von heute nicht mehr das von 1933 sei. Das hinderte ihn nicht daran, die heutigen Ultras mit den Opfern des Holocausts zu identifizieren: „Das ist klassischer Judenhass“, so Cooper. Immerhin seien die orthodoxen Juden auch diejenigen gewesen, die dem Judenhass der Nazi-Zeit wegen ihrer äußerlichen Erkennbarkeit als erste zum Opfer fielen.“

Klassischer Judenhass ist Hass auf die jüdischen Christusmörder, sonst nichts. Augstein kritisiert die verhängnisvolle fundamentalistische Rolle der Offenbarungsbesitzer im heutigen Israel.

Man habe ursprünglich nur Augsteins Texte kritisiert, so Cooper, aber nicht in sein Inneres schauen können. Das ist, hört, hört, eine neue Vorsichtsstrategie. Sonst haben Antisemitismus-Wächter nicht die geringsten Schwierigkeiten, mit dem Auge Gottes ins Innere anderer Menschen zu schauen.

Doch spätestens seit dem Streitgespräch mit Graumann wisse man absolut genau, dass Augstein ein Antisemit ist. Israel werde heute wie der klassische Jude für alles schuldig gesprochen: ein klarer Beweis für Augsteins Antisemitismus.

In der Tat, Juden waren allzu oft die Sündenböcke der Christen. Die Gefahr der Übertragung der Sündenbockrolle auf Israel ist nicht von der Hand zu weisen.

Wie kann pure Wiederholung eines neurotischen Mechanismus von einer rationalen, wenn auch äußerlich ähnlich scheinenden Tat unterschieden werden? Durch Einbeziehung aller Umstände der Tat, die in Verdacht stehen, eine pure Wiederholung zu sein.

Beispiel. Ein Serienkiller hat viele Menschen ermordet, sitzt hinter Gittern und steht erneut in Verdacht, einen Menschen im Gefängnis getötet zu haben. a) es könnte sich tatsächlich um die Wiederholungstat eines unheilbaren Totmachers handeln. b) es könnte aber auch die Tat eines Zellengenossen sein, der die Tat so geschickt arrangierte, dass der Verdacht auf den Übeltäter fallen soll. Ein Fahnder, der nur von einer Wiederholungstat ausginge, hätte seinen Beruf verfehlt.

Ob die Kritik an Israel nur eine plumpe und gefährliche as Wiederholungstat ist – oder aber eine legitime Kritik, kann nur durch eine angemessene Sachanalyse der Politik Israels herausgefunden werden. Immerhin – das kommt in den antisemitischen Verfahren in diesem Lande nie zur Sprache – gibt es auch israelische Kritiker, die ihr Land weitaus schärfer kritisieren als Augstein es tat.

Überhaupt ist es eine erbärmliche Debatte, wenn Kritiker wie Avraham Burg, Moshe Zuckermann, Uri Avnery selten die Gelegenheit erhalten, ihre Meinung in deutschen Gazetten kund zu tun. Von TV-Talkshows gar nicht zu reden. Es gibt keine freie Streitkultur in diesem Lande. Warum ist Broder zu feige, gegen Avnery anzutreten? In vorauseilendem Gehorsam laden die deutschen Medienhirsche immer nur die Freunderl der Ultras und der jeweiligen Regierungen in Jerusalem ein. Ein lachhafter Zustand, einem Land wie Weißrussland angemessen.

Den Begriff Stereotyp sollte man allmählich im Meer versenken, wo es am tiefsten ist. Nationen haben Stereotype, auch Juden. Positive und negative. Sie sind nicht schon dadurch falsch, dass sie erwähnt werden. Auch hier muss der klassische Wahrheitsbeweis geführt werden. Stimmt die Aussage mit der Wirklichkeit überein – oder nicht? Was würden jene Eltern zu ihrem Sprössling sagen, der sich von ihren Vorwürfen genervt fühlte: eure stereotypen Nörgeleien gehen mir auf den Geist. Obgleich er selber weiß, dass die Vorwürfe im Grunde richtig sind? Die bloße Qualifizierung einer Aussage als Stereotyp sagt nichts über ihren Wahrheitsgehalt.

Leander Steinkopf stellt in der FAZ immerhin die längst fällige Frage: „Wie kann es nun aber sein, dass das SWC Augstein einen Antisemiten nennt, während die deutsche Presselandschaft ihn großflächig verteidigt? Wenn man verschiedener Meinung über den konkreten Fall ist, aber in der eigentlichen Sache – nämlich der Bekämpfung des Antisemitismus – einig, dann muss irgendwo ein Missverständnis vorliegen.“

Tatsächlich droht immer mehr eine Frontalstellung zwischen den Juden und den Deutschen. Im präzisen Sinn gibt es weder den Juden noch den Deutschen. Im statistischen Sinn aber gibt es nationale Eigentümlichkeiten, von denen jeder Jude oder jeder Deutsche mehr oder weniger tangiert wird.

Missverständnis ist ein harmlos Wörtchen. Als ob beide Seiten schon über die strittigen Punkte debattiert hätten. Fast hätte man sich schon geeinigt, doch dummerweise ist am Ende eine Kleinigkeit dazwischen gekommen und hat die nahe Verständigung torpediert. Mumpitz, es gab noch nie einen sinnvollen deutsch-jüdischen Dialog. Es herrscht nicht das geringste Verständnis unter den beiden Parteien. Von Missverständnis zu sprechen, ist die Untertreibung des Jahres.

Antisemitismus sei heute vor allem Anti-Israelismus, waren sich Cooper und Küntzel einig. Das wäre ja ein beruhigender Befund für alle Antisemitismus-Wächter. Denn die hiesige Israelkritik muss als harmlose Alibikritik eingeschätzt werden. Cooper und Küntzel selbst äußern keinerlei Kritik an Israel. An welchem Punkt eine legitime in eine illegitime Israelkritik überginge, das nachzuweisen haben sie nicht nötig.

Diese nicht existente Israelkritik desavouiert jede Antisemitismus-Spurensuche und zeigt, welche Funktion die Antisemitismus-Schelte hierzulande hat: mit allen Methoden der Einschüchterung die Deutschen von einer angemessenen Israelkritik abzuhalten. Cooper & Co betätigen sich als Apologeten einer unmenschlichen Politik des Netanjahu-Regimes und seiner Ultra-Hintermänner.

Um dem Ganzen einen pseudowissenschaftlichen Anstrich zu geben, wird ein Antisemitismus-Test vorgelegt, den man wie ein Fieberthermometer anlegen kann und schon haben wir falsifizierbare quantitative Ergebnisse. Der Test stammt von Scharansky, einem rechtsgerichteten Politiker in Israel. „Scharansky schreibt, der neue Antisemitismus sei schwieriger bloßzustellen, weil er sich hinter dem Schein legitimer Israelkritik verstecke oder sogar im Namen der Menschenrechte geäußert werde.“

Ein ungeheurer Satz, den man so auslegen könnte – und so wird er ausgelegt –, dass der Verdacht des Antisemitismus umso stärker ist, je mehr er sich als legitime Israelkritik oder im Namen der Menschenrechte äußert. Ist eine Israelkritik legitim, spielt die vermutete Motivation keine Rolle und darf keine spielen, solange die Kritik im Bereich des Legitimen bleibt.

Wie kann Kritik falsch sein, wenn sie richtig und legitim ist? Sind wir im Irrenhaus? Ob Kritik von Hass oder Freundschaft motiviert ist, spielt nicht den Hauch einer Rolle. Hass kann hellsichtiger sein als dumpfe Nettigkeit.

Niemand wird daran gehindert, hinter legitimer Kritik bestimmte Emotionen zu vermuten. Das mindeste an methodischer Klarheit wäre, beide Komplexe unabhängig voneinander zu besprechen. Eine eindeutige Korrelation zwischen Gefühlen und Sachverhalt gibt es nur im Hausbuch von Allwissenden. Wie wär‘s, gelegentlich Freud zu lesen? Die trivialsten Erkenntnisse der psychoanalytischen Seelenerforschung sind bei Deutschen und Juden im Orkus verschwunden.

Trotz zunehmender Schwierigkeiten, so der Testerfinder, gäbe es drei Indikatoren, mit denen man Antisemitismus einwandfrei erkennen könne: „Delegitimation, Dämonisierung und Doppelstandard. Delegitimation steht für gedankliche Anstrengungen, Israels Existenzrecht in Zweifel zu ziehen, obwohl es allen anderen Staaten der Erde zuerkannt werde. Dämonisierung finde statt, wo der Staat Israel für irrationale Vergleiche herhalten müsse, wenn er etwa mit Nazideutschland oder dem organisierten Terror verglichen werde. Cooper zeigte sich hier besonders alarmiert von Vergleichen orthodoxer Juden mit gewalttätigen Islamisten. Ein Doppelstandard schließlich liege vor, wenn Israel selektiv für Missstände kritisiert werde, die sich auch in anderen Ländern finden ließen.“

a) Delegitimation, der Versuch, Israels Existenzrecht in Zweifel zu ziehen, soll bei Augstein vorliegen? Ebenso gut könnte man behaupten, er wolle Netanjahu persönlich über den Haufen schießen. Wer in Deutschland, außer einigen hirnverbrannten Vollidioten, zieht Israels Existenzrecht in Frage? Das zu behaupten, muss als Deutschenhass bezeichnet werden.

b) Dämonisierung. Vergleiche mit Nazi-Untaten haben – zumeist in der Erregung – stattgefunden. Von ihnen ist nichts mehr zu hören. Doch nicht alles, was nicht akkurat nationalsozialistisch ist, ist schon erlaubt. Es gibt den Standard der Menschenrechte, an denen Israel gemessen werden muss. Nicht die Nichtübereinstimmung mit dem Nationalsozialismus, sondern die Übereinstimmung mit der UN-Menschenrechtscharta entscheidet über die Legitimität der Israelpolitik.

Der Vergleich der Ultras mit gewalttätigen Islamisten ist nicht nur erlaubt, sondern unausweichlich, denn die biblizistische Landnahmepolitik, die von den Superfrommen vertreten wird, ist Gewalt. Auch dann, wenn man nicht selbst die Palästinenser mit dem Gewehrkolben von ihrem Land verjagt. Die Ultras gönnen sich inzwischen eine ganze Armee. Hier wiederholt sich die Arbeitsteilung der katholischen Inquisition: die Popen verurteilten zu Folter und Tod, die Schergen des Staates durften sich die Hände schmutzig machen. Auch die Unfehlbarkeit der Rabbiner und vieler Antisemitismus-Wächter ist nichts anderes als papistische Unfehlbarkeit ex cathedra.

c) Doppelstandard. Wenn Israel für Vorgänge kritisiert wird, die auch in anderen Ländern stattfinden, könnte man von Doppelstandard erst dann sprechen, wenn die vergleichbaren Vorgänge nicht kritisiert werden. Davon kann überhaupt keine Rede sein. Der Unterschied in der Tonstärke der Kritik gründet allein in der unterschiedlichen Ferne und Nähe der Staaten. Assads Untaten zu kritisieren ist Eulen nach Athen tragen, das versteht sich von selbst. Israel hingegen zählt sich zum demokratischen Westen, es will die humane Villa im Dschungel sein. Israel hat Einfluss in Amerika. Es gehört zu den engsten Verbündeten Deutschlands.

Kritik an Israel ist lebensnotwendige Selbstkritik des Westens. Wer demokratische Kriterien verletzt, muss intrinsisch so scharf kritisiert werden wie man sich selbst kritisieren muss. Legitim wäre allein die Gegenkritik: ihr Deutschen kritisiert uns Juden mit anderen Maßstäben als euch selbst. Doch davon ist nichts zu hören.

Fazit: die Suche nach Antisemitismus-Faktoren befindet sich in Deutschland auf erbarmenswertem Niveau. Die wirklichen Gefahren einer möglichen Rückkehr des Schreckens sieht sie nicht mal auf dem Papier. Alle theologischen Ursachen des Antisemitismus werden streng ausgeblendet. Es findet eine zunehmende Kumpanei der Religionen statt, die ihre Unduldsamkeiten gegeneinander verbergen, bis sie sich wieder stark genug fühlen, den offenen Kampf zu wagen. Zunehmend wird Antisemitismus-Kritik missbraucht, um radikale Religions- und Bibelkritik zu unterbinden und vernunftfeindlicher Gegenaufklärung die Hintertür zu öffnen.

Die Antisemitismus-Kritik darf nicht länger das Privileg einer irrtumslosen Kaste sein und muss Pflicht sein für jeden wachen Bürger, der die Wiederholung grauenhafter Verbrechen verhindern aber auch den Palästinensern zu einem gerechten Frieden verhelfen will, deren Schicksal von Antisemitismus-Wächtern nicht mal erwähnt wird. Das muss möglich sein, ohne israelische Menschenrechtsverletzungen mit Untaten der Nationalsozialisten in einen Sack zu stecken.

Solange deutsche Fußmattenregierungen den israelischen Regimes die Füße küssen, müssen die deutsche und israelische Zivilgesellschaft vorangehen und sich für Wahrhaftigkeit der Beziehungen einsetzen. In diesem Sinn sind selbstkritische Israelis der deutschen Feigheitsgesellschaft um Meilen überlegen.

 

PS. Die Analyse des Streitgesprächs zwischen Augstein und Graumann wird bei passender Gelegenheit eingefügt.