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Donnerstag, 30. August 2012 – Die Wurzeln des Antisemitismus

Hello, Freunde der Blockfreien,

nach dem Fall hatte man sie schon aufgegeben, doch die Blockfreien haben sich unter neuen Vorzeichen regeneriert und treffen sich zum Gipfel in Teheran. Im vergangenen Jahr hatte die Bewegung in Belgrad ihren 50. Geburtstag gefeiert.

Gründungsziele waren Antikolonialismus, Selbstbestimmung der Völker, Antiimperialismus und Antirassismus. In den meisten der 120 Staaten müsste das Ziel „Selbstbestimmung“ erst noch durchgesetzt werden. Zum ersten Mal nach 30 Jahren, dem Bruch zwischen Iran und Ägypten, reist ein ägyptischer Präsident nach Teheran.

Der Aufstieg Chinas zur Weltmacht könnte der Blockfreienbewegung neuen Aufschwung geben, schreibt Andreas Zumach in der TAZ. Viele Staaten in Afrika und Asien spüren immer stärker den Druck konträrer Interessen Pekings und Washingtons. Manche fühlen sich erinnert an die Zeit des Kalten Krieges zwischen der Sowjetunion und den USA.

Die Weltkarte wird neu sortiert. Früher stand Amerika einem sozialistischen Land gegenüber, heute der ältesten Kultur der Welt, sozialistisch auf dem Papier, kapitalistisch in der Realität – mit unendlich langer konfuzianischer Tradition. (Dazu Andreas Zumach in der TAZ)

Wo befinden wir uns? Auf einer pietistischen Brüderversammlung, einem Kardinals-Konzil? „Ein Interview mit Delegierten führt schon nach wenigen Minuten zu Bibelzitaten.“ Theologische Auseinandersetzungen bilden das Zentrum des Parteitags, Aufhänger sind Abtreibungsfrage und Schwulenehe. Eine

messianische Jüdin, eine Mormonin, ein Katholik streiten sich über die Definition des Heiligen.

Außenpolitik, Steuern, Arbeitsplätze, solche Kleinigkeiten werden nicht mal erwähnt. Die Frau an seiner Seite im knallbunten roten Kleid erzählt von Love – und ihren überstandenen Krankheiten.

Auch das ist praktische Theologie: ein behindertes Kind oder schwere Erkrankungen der Frau des Kandidaten. Zwei Pflichtbestandteile erfolgreicher amerikanischer Kollektiv-Biografien, durch Leid zum Sieg. Heimsuchungen des Herrn zur Überprüfung der Glaubenstreue.

Die Krankheiten des John F. mussten früher geheim gehalten werden. Der Kandidat muss gesund und stark sein. Die Rolle Hiobs fällt heute den Frauen zu, die stellvertretend für den Heros bezeugen können: Der Herr hat die Familie gezüchtigt, weil er sie liebt. Die Prüfungen sind bestanden, der Herr will, dass der glaubenstreue Clan die Welt regiert. (Dorothea Hahn in der TAZ über den Parteitag der Republikaner in USA)

Klimawandel in Tampa? Eine Glaubensfrage. Die einen glauben daran, die anderen halten es für ausgeschlossen, dass Gott sich von seinen Kreaturen ins Wetter pfuschen lässt. Ist es nicht der Herr, der über Gerechte und Ungerechte regnen lässt?

Mark Russo, Friedensrichter, baut auf den Schöpfer: „Gott ist klüger als wir Menschen, er würde niemals zulassen, dass wir Menschen sein Werk so verändern.“ Demokraten glauben eher an den menschlich verursachten Klima-Faktor, Republikaner mit Bestimmtheit nicht.

Sozialwissenschaftler warnen vor einem neuen „Kulturkampf“ zwischen rechts und links. Man sieht, nicht nur deutsche Korrespondenten sind auf dem biblischen Auge blind. Es geht nicht um Kultur-, es geht immer mehr um Glaubenskampf.

Selbst innerhalb der Reihen der Republikaner verhärten sich die Fronten. Es sind die Fronten des rechten Glaubens – für deutsche Medien immer noch Folklore. Der aufgeklärte Glaube der Deutschen soll durch hinterwäldlerischen Biblizismus aus dem Mittleren Westen nicht ins Wanken geraten.

Wissenschaftsfragen werden in Amerika wie auf einem mittelalterlichen Konvent zu Glaubensfragen erklärt. Das mangelhaft aufgeklärte Amerika, geprägt von unendlich vielen eingewanderten Gläubigen aus aller Welt, die jenseits des Großen Wassers das neue Kanaan suchten, stößt immer mehr die wenigen verbliebenen Aufklärungsreste einiger Intellektueller von der Ostküste ab und kehrt zurück in den Schoß Abrahams. (Christian Wernicke in der SZ über die Diskussion zum Klimawandel in USA)

Ines Pohl, Obfrau der TAZ, sieht eine neue Dimension an zunehmenden Hass auf dem Parteitag, wie es früher in Amerika nicht denkbar war. Gefühlsmäßig sind die Erwählten aus Gottes eigenem Land bereits auf dem Niveau des 30-jährigen Glaubenskrieges in Europa.

Das Ganze rufe Assoziationen an totalitäre Regime hervor, so Pohl. Es gebe nur noch Freund und Feind. Wer nicht für mich ist, ist gegen mich: Pohl zitiert sogar das Neue Testament, doch deutsche Schreiber benutzen solche Zitate nie analytisch, sondern nur als metaphorische Girlanden. Was hat Religion mit Sätzen der Schrift zu tun?

„In den Diskussionen um die drei großen Gs – God, Guns and Gays – gilt die Null-Toleranz-Grenze.“ Werden hier nur Ängste geschürt, wie Pohl in angepasstem Mediendeutsch schreibt? (Ines Pohl in der TAZ über den Wahlkampf in USA)

Halten zu Gnaden, hier werden Glaubensfronten geschürt. Hier wütet der steigende Fanatismus Rechtgläubiger, die ihre Botschaften direkt von oben erhalten.

 

Judith Butler ist Philosophin von Weltrang. Nebenbei, eine jüdische Philosophin, die mit dem Adornopreis geehrt werden soll. Der Generalsekretär des Zentralrats der Juden attackiert Butler im eingeübten Brüll- und Kreischton. Sie sei eine moralisch verderbte, bekennende Israel-Hasserin.

Dieter Graumann schloss sich seinem Sekretär an. Dass Israelhass prämierungswürdig sei, könne er nicht nachvollziehen. Butler habe nicht nur die Frechheit besessen, Israel zu kritisieren, sondern Hamas und Hisbolla der „globalen Linken“ zuzuordnen.

Butler erklärte, grundsätzlich gegen Gewalt zu sein, weshalb sie die beiden Organisationen auch nicht unterstützen könne. Sie setze sich für gleiche Bedingungen des israelisch-palästinensischen Zusammenlebens ein. „Wie so viele andere sehne ich mich nach einem wahrhaft demokratischen Gemeinwesen für diese Länder.“

Es sei „unwahr, absurd und schmerzvoll, dass jene, die eine Kritik am Staat Israel formulieren, antisemitisch sind oder, falls jüdisch, sich selbst hassen.“

Jan Küveler erinnert in der WELT an die exakten Parallelen, als vor Jahren der israelkritische Alfred Grosser ebenfalls in der Pauluskirche vom Zentralrat dekonstruiert werden sollte. Was ihm damals nicht gelang.

Grosser und Butler solidarisieren sich mit dem Leid der unterdrückten Palästinenser, der Zentralrat lehnt „jede Kritik“ am Staat Israel ab.

Küveler schreibt einen Schlusssatz, den man hierzulande nicht oft lesen kann: „Zu überlegen, wie diese beiden Perspektiven versöhnt werden können, scheint jedenfalls fruchtbarer, als die Diskussion – womöglich durch den Vorwurf des Antisemitismus oder der moralischen Verderbtheit – vorschnell abzubrechen.“ (Jan Küveler in der WELT über die Diskussion um Judith Butler)

In der Jury sitzen die Schriftstellerin Marlene Streeruwitz und der Philosoph Axel Honneth. Zur Verteidigung ihrer Laureatin hört man von ihnen nichts.

 

Michael Wolffsohn hat in der WELT einen der konstruktivsten Beiträge zur Beschneidungsdebatte geschrieben. Jude ist, wer von einer jüdischen Mutter geboren sei, das Beschnittensein sei nicht notwendig, so stünde es unmissverständlich in der Halacha, dem jüdischen Religionsgesetz.

Was läuft hier ab? Sollten die vielen orthodoxen Debattenbeiträge diesen unbedeutenden Fakt nicht gekannt haben? Man reibt sich die Augen ob der PR-Strategien des Vernebelns, Bedrohens und Einschüchterns, die von Wolffsohn drastisch kommentiert werden:

„Dass einige politisch-jüdische und rabbinische Repräsentanten den Bogen zum Holocaust schlugen oder mit Auswanderung drohten, war, bezogen, auf die bewährte bundesdeutsche Demokratie, substanz- und taktlos.“

Hat man jemals in einer brisanten Streitfrage gelesen, dass ein jüdischer Deutscher die deutsche Demokratie gegen seine jüdischen Glaubensbrüder verteidigt? Sollten „ausgerechnet deutsche“ Demokraten weniger demokratisch sein als „wir Juden, als ich“? fragt der Autor.

Das Kölner Urteil sollte man als Stimulans nehmen, um jüdische Glaubensinhalte zu überdenken und, wenn’s sein muss, auch zu ändern.

Hier liegen Welten zwischen Wolffsohn und Graumann, der, wiewohl liberal, die Beschneidung für unverhandelbar hält.

Nicht Graumann, es ist der emeritierte Historiker aus München, der die Beschneidung für Krücken hält auf dem Weg zu Gott und die Frage stellt: wie viele Krücken braucht der Mensch zur Erfüllung ethischer Prinzipien?

Wolffsohn reiht sich ein in die Gruppe großer jüdischer Denker, für die Religion nichts als die Ermöglichung von Ethik sein kann. Aus einer Herrin der Welt hat Religion sich in eine ancilla philosophiae (Magd der Philosophie) verwandelt. Das war der Standpunkt der meisten aufgeklärten Deisten und Rationalisten.

Da moralische Prinzipien verhandelbar sind – sofern man als Basis vernünftiges Denken zulässt – und Gott nur die subjektive Ermöglichung von Moral ist, muss über ihn nicht verhandelt werden. Präziser: über ihn wird automatisch verhandelt, wenn über Moral verhandelt wird.

Ist man sich über humane Moral einig, können alle Götter, die diese Moral ermöglichen, willkommen geheißen werden – auch wenn man sie selbst nicht für existenznotwendig hält und schon gar nicht identisch mit einem biblischen Rache- und Gnadengott. Dieses Niveau der Religionsdebatte hatten die Aufklärer schon vor 300 Jahren erreicht, wovon heute fast nichts mehr zu spüren ist.

Zudem wird übersehen: Religionskritiker sind nicht per se Atheisten oder Agnostiker. Was sie selber glauben, ist ziemlich belanglos. Ausschlaggebend ist allein, dass sie ihren Glauben oder Nichtglauben in den Dienst der Menschenrechte stellen.

Gott ist der Moral verpflichtet, nicht Moral einem willkürlich handelnden, verfluchenden und segnenden Gott.

In einem kurzen Aufriss weist Wolffsohn auf die schon in den Mosebüchern beginnende Vergeistigung oder Spiritualisierung des blutigen Rituals hin: „So beschneidet nun eure Herzen und seid fortan nicht mehr halsstarrig.“ ( Altes Testament > 5. Mose 10,16 / http://www.way2god.org/de/bibel/5_mose/10/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/5_mose/10/“>5.Mos. 10,16)

Womit die Brücke zum Christentum geschlagen ist – was die meisten Christen nicht zur Kenntnis nehmen. „Denn die Beschneidung ist wohl nützlich, wenn du das Gesetz befolgst; wenn du aber ein Übertreter des Gesetzes bist, so ist deine Beschneidung zur Unbeschnittenheit geworden.“ ( Neues Testament > Römer 2,25 / http://www.way2god.org/de/bibel/roemer/2/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/roemer/2/“>Röm. 2,25)

Der das schrieb, war der „jüdische Pharisäer Paulus“, wie Wolffsohn nicht ohne Stolz anmerkt. (Nebenbei: Paulus Betonung der Gesetzesbefolgung gerät in Kollision mit seiner Gnadenlehre. Die Kollision kann man nur auflösen, wenn man die Befolgung der Gesetze nur sola gratia für möglich hält.)

Und nun eine ganz ungewöhnliche Mahnung an die Juden: „Sollte nicht auch diese paulinische Variante von Juden bedacht werden?“ Für ultraorthodoxe Juden muss das wie Blasphemie klingen. Ist das Christentum, wiewohl von Juden gegründet, nicht ein schrecklicher Abfall vom uralten alttestamentarischen Glauben?

Wäre dem nicht so, stünde einer ökumenischen Vereinigung der beiden Glaubensrichtungen nicht viel im Weg. Das Christentum, einst als Reform eines verhärteten und versteinerten Judentums gedacht, hätte das Judentum mit Verspätung doch noch reformiert oder sich vom Judentum reformieren lassen. Für diesen Vorschlag wird der Jude Wolffsohn keinen Dank aus rechtgläubigen Kreisen ernten.

Paulus wiederholt seine Position im 1. Brief an die Korinther: „Die Beschneidung ist nichts und die Vorhaut ist nichts, sondern das Halten der Gebote Gottes ist alles.“ Das sei nicht nur die Haltung des Paulus, sondern der rabbinisch-talmudischen Diskussion im ersten Jahrhundert ndZ.

Genauer, die Rabbinen waren gespalten. Menschen, die damals zum Judentum übertraten, mussten sich nicht beschneiden lassen – sie wurden getauft. Die allerchristlichste Taufe ist nämlich ein jüdischer Brauch. Anders hätte Johannes der Täufer den Sohn des Zimmermanns nicht taufen können.

„Ja, so viel Judentum steckt im Christentum, so viel Christentum steckt im Judentum. Vielleicht hilft diese Einsicht zu einer Versachlichung der Diskussion sowie zu jüdischer und christlicher Selbsterkenntnis, Selbstbesinnung, Selbstbestimmung.“ (Michael Wolffsohn in der WELT: Die Vorhaut des Herzens)

Leider endet hier der Artikel, er müsste dringend eine Fortsetzung finden. Denn Wolffsohns Ermahnungen wenden sich auch kritisch gegen die christlichen Kirchen, die sich im Beschneidungsstreit berechnend-schweigsam an die Seite der jüdischen Ultras stellten.

Was sie hochmütig verschwiegen und für sich behielten, war ihre dogmatische Überlegenheit über die archaische jüdische Gesetzesposition. Sie taktierten unter der machiavellistischen Perspektive, was den Juden nützt, nützt auch uns – gleichgültig, ob wir den jüdischen Standpunkt für richtig halten oder nicht. Letzteres natürlich.

Wolffsohn war der Einzige, der den wieder aufbrechenden St. Andreasgraben zwischen Juden- und Christentum bemerkte und sogleich im Geiste der Verständigung und Versöhnung überbrücken wollte.

Zu diesem Zweck aber müsste prinzipieller gefragt werden: Was ist der Unterschied zwischen der Mutter- und der Tochterreligion? Nur wer diese Frage beantwortet, kommt dem religiösen Ursprung des Antisemitismus näher, der keineswegs durch rassistische Modernisierungen und ideologische Neumaskierungen historisch abgetan ist.

Den Hass der Christen auf die Juden mit mittelalterlichen Gräuelmärchen angeblicher Ermordungen christlicher Kinder zu begründen, ist abenteuerlich. Ein kleiner Blick auf diese hysterischen Verleumdungsmythen hätte die richtige Spur weisen können: es handelt sich um die gehässig ausgemalte Verbildlichung der – Beschneidung. Juden haben es mit Blut, Skalpieren und kleinen Kindern zu tun. Es war eine verleumderische Verballhornung des tiefsten Unterschieds zwischen Christen und Juden: der Beschneidung.

Denken wir an Freud, der die Beschneidung als Ursache des Antisemitismus betrachtete. Die Christen würden die Beschneidung als Kastration betrachten und sich ängstigen. Daraus entstünde der Hass auf die Juden, die sie als potentielle Mörder betrachteten. Im 19. Jahrhundert sah der Kanzler der Tübinger Universität, Authenrieth, in der Beschneidung einen überkommenen Ersatz für das Menschenopfer – was der Ritus tatsächlich auch war.

Offensichtlich war die gehässige Einschätzung, wer einmal Menschen opferte und noch immer mit dem Messer an Knaben herumfuchtelt, kann leicht mal daneben- und tiefer schneiden. Auch Freuds Einschätzung bezieht sich auf eine Verstümmelung, ja auf einen Mord, auf die Ermordung der männlichen Potenz. Wer kastriert ist, ist kein ganzer Mann. Er kann keine Kinder mehr zeugen, seinen Pflichten als Ehemann nicht mehr nachkommen, er ist eine lächerliche Figur, ja eine soziales Nichts.

In dieselbe Kerbe schlägt die „Ermordung“ des christlichen Heilands. Die Juden schrecken vor nichts zurück, wenn es um das Monopol ihrer unfehlbaren Religion geht. Genau dies taten die Christen, als sie um der Rettung und Bewahrung der heiligen Stätten in Palästina keinen Kreuzzug für überflüssig hielten, um der Unfehlbarkeit ihres Dogmas ihren Tribut zu entrichten.

Man sollte nicht davon ausgehen, dass christliche Fanatiker keine Probleme mit ihren Menschenschlächtereien gehabt hätten. Es waren Menschen, die auch mal menschliche Gefühle hatten, bevor sie religiös indoktriniert wurden. Oft mit Feuer und Schwert.

Warum werden Menschen zu Fanatikern? Weil sie ihre tiefen Zweifel an ihrem verbrecherischen Tun mit fanatischem Gelärme übertönen müssen, das alle leisen Einwände und Gegenstimmen im Innern der Menschen zum Schweigen bringt.

Kein Mensch wird als Fanatiker geboren. Der nagende Zweifel an ihrem oft auferzwungenen Glauben musste bei den neubekehrten Germanen mit Stumpf und Stil ausgerottet werden, indem man jene tötete, die man für die Entdecker und Erfinder dieses christlichen Glaubens hielt: die Juden.

Wofür sie sich selbst hassten, dafür hassten sie die Juden. Ihren Selbsthass lenkten sie auf die angeblich überlegenen Gründer aller abrahamitischen Religionen, die Urheber aller religiösen Übel in der Welt.

Vergessen wir nicht, zur Zeit der Kreuzzüge war der christliche Glaube in weiten Kreisen der germanischen Bevölkerung noch lange nicht befestigt. Es war eine genial-verruchte Idee des Papstes und seiner Treuesten – wie Bernhard von Clairvaux –, die unsicheren Kantonisten durch angsteinflössende Predigten über Weltuntergang und Höllenstrafen in ein Fieber zu versetzen, das panisch um sich griff und zu allem bereit war, um die eigene Seele vor dem Äußersten zu bewahren.

Das konnte nur durch extreme Glaubensbeweise geschehen, in denen alle humanen Stimmen aus den Seelen der tumben Germanen durch auflodernden Fanatismus getilgt wurden.

Die emotionale Gründung des christlichen Europas geschah durch ein riesiges kollektives Verbrechen an Andersgläubigen, das sich in die prägsamen Seelen der Waldbewohner einbrannte und zur beginnenden Verinnerlichung des Glaubens im Protestantismus und den ketzerischen Sekten führte.

Die beginnenden Glaubenskriege zwischen Katholiken und Protestanten waren nur die Fortsetzung der Kreuzzüge – der Christen gegen sich selbst. Der Selbsthass der Christen fand keine Kanalisierung mehr nach außen und musste in den religiösen Binnenraum gelenkt werden. Die mittelalterlich europäische Ordo zerbrach in viele Nationalstaaten.

Psychisch gesehen, ist die EU eine emotionale Wiederholung der mittelalterlichen Ordo, die jetzt erneut – durch fiskalische Glaubenskriege – zu zerbrechen droht.

Die einen wollen wieder zurück unter den Dom einer einheitlichen Religion und sind enttäuscht, wenn dieser Traum sich als Illusion erweist.

Die anderen – etwa die Engländer, die schon damals ihre Sonderrolle spielten – wollen alles andere als eine „päpstliche“ Zentralregierung, auch wenn sie in Brüssel angesiedelt ist.

Wie damals rangeln Deutsche und Franzosen um die Vorherrschaft des zerbrechenden Karolingerreiches.

Uralte, nie völlig verarbeitete historische Dämonen bestimmen das aktuellste Geschehen der Gegenwart. Was man nicht begriffen hat, muss man wiederholen.

Katholiken und Juden legen Wert auf das Halten der Gesetze, auf Werkgerechtigkeit. Luther glaubte, die Werkerei der Katholen und Juden durch die Rechtfertigung aus Glauben überwunden zu haben.

Nicht Pelagius, der – noch ganz im Stil griechischer Philosophen – das tugendhafte Leben rühmte, sondern Augustins Gnadenlehre setzte sich bei dem Wittenberger durch. Für Pelagius war Gott einer, der das tugendhafte Leben des Menschen gerecht beurteilte und mit Seligkeit belohnte.

Sokrates und die Griechen hatten eine fremdbestimmte, auf Lohn und Strafen beruhende Moral abgelehnt. Das Handeln des selbstbewussten Menschen sollte autonom sein. Pelagius verwässerte diese Autonomie durch heteronome Konsequenzen im Himmel.

Aber erst bei Augustin wurde der letzte Rest der menschlichen Tugendhaftigkeit durch die Gnade eines Erlösers vernichtet. Kein Mensch kann durch eigene Kraft moralische Werke tun. Es ist Gott selbst, der durch das Erlösungswerk seines Sohnes den Menschen in einen neuen wiedergeborenen Menschen verwandelt.

Woran erkennt man den wiedergeborenen Christen, der jedem jüdischen und katholischen Gesetzesbefolger und Werker haushoch überlegen sein will? Durch bessere Moralität?

Nicht aus menschlicher Perspektive. Denn im erleuchteten Zustand gilt Augustins ama et fac quod vis, das Luther in die Formel übersetzte: sündige tapfer, aber glaube. Mit anderen Worten, die wahren Gläubigen haben wieder den paradiesischen Zustand des non posse peccare – des nicht Sündigenkönnens – erreicht.

Sie können tun und treiben, was sie wollen, es ist immer gottwohlgefällig. In frommer Motivation können sie gar die Welt in Schutt und Asche legen. Der Mensch sieht, was vor Augen ist, Gott sieht das Herz an.

Für wahre Christen gilt kein Gesetz mehr, keine moralisch verpflichtenden Werke. Sie leben im Status heiliger Anomie oder runderneuerter Gesetzlosigkeit. Nur Gott kann ihre verborgende Motivation erkennen und würdigen.

Normalen Sterblichen, Andersgläubigen und Juden müssen Christen wie aus dem Ruder laufende Teufel erscheinen, wenn sie foltern, brandschatzen und verbrennen. Wenn sie sagen: Deus lo volt, Gott will es, ist alles abgesegnet.

Das gilt für Lutheraner, in gewisser Hinsicht aber auch für Katholiken. Vergessen wir nicht, dass Augustin zwar nicht mehr die Autorität Nr. 1 für die Päpstlichen war (das war Thomas von Aquin), doch noch immer eine erste Adresse.

Es entstand eine groteske Situation. Die Christen fühlten sich den Juden durch ihre Gnadenlehre religiös haushoch überlegen, konnten aber ihre behauptete Überlegenheit im politischen und täglichen Leben nicht im mindesten beweisen. Im Gegenteil, ihr ständig aufflackernder antijüdischer Furor stellte die angeblich wirtschaftliche Verruchtheit der Juden an rasender Unmenschlichkeit weit in den Schatten.

Den Beweis des Geistes und der Kraft, den Beweis ihrer moralischen Überlegenheit blieben die Christen schuldig. Nur ein Mittel konnte diese Schande ungeschehen machen: man musste die Juden, die Zeugen der christlichen Verbrechen, gnadenlos beseitigen. Wenn es keine Zeugen der bösen Tat gibt, gibt es auch keine böse Tat. Zudem war es ein gottwohlgefälliges Werk, die Mörder des Erlösers ihrer gerechten Strafe zuzuführen.

Die Beschneidungsdebatte hat die alten Rivalitäten zwischen Juden und Christen reaktiviert. Indem die Juden mit ihrem blutigen Ritual gegen die ordentlichen Gesetze verstoßen, begehen sie eine „Sünde“. Nicht anders, als sie im MA gegen das Gesetz des Zinsverbots verstießen. Doch weil man sie zur Wohlstandsmehrung dringend benötigte, musste man sie straffrei lassen. Der Jude ist sündig, aber er darf nicht bestraft werden. (Aus der Summa Angelica des Angelus von Chivasso: „Jude sein ist ein Verbrechen, das jedoch von den Christen nicht bestraft werden darf.“)

Heute nicht anders. Der Jude macht sich strafbar, doch man braucht ihn als Zeugen der gelungenen deutschen Reedukation. Also darf ihm die Sünde durch ein Sondergesetz oder Straffreiheit nicht angerechnet werden.

Indem der Christ sich souverän fühlt, wenn er das Gesetz durch Gnadenerweis außer Kraft setzt, glaubt er, die religiöse Überlegenheit erwiesen zu haben. Der Christ glaubt, dem Juden entgegenzukommen und ihm versöhnlich die Hand zu reichen – und doch stellt er sich über ihn und verschärft erneut die Distanz zwischen den beiden ewig konkurrierenden Glaubensrichtungen.

Emotional gibt er jenem zu verstehen: Jude, kein Mensch kann durch eigene Kraft die Gesetze Gottes vollständig erfüllen. Wir aber drücken ein Auge zu, lassen Gnade vor Recht ergehen und vergeben dir deine narzisstische Hybris.

So fällt die Versöhnung zusammen mit dem Sieg des christlichen Glaubens, dem Triumph der Gnade über die Werkgerechtigkeit und vergebliche Koscherzählerei der Juden, die unter der täglichen Fron ihrer 613 Gesetze stehen.

So begann die Geschichte des praktischen Antisemitismus im Mittelalter, als die Christen die „Sünden“ der Juden benötigten, um reich und wohlhabend zu werden. Es war wie im verbotenen Verhältnis des Frommen zu seiner lüsternen Geliebten, ohne die er nicht leben kann und die er vor Gott und der Welt verleugnen muss. Irgendwann zerreißen ihn seine moralischen Skrupel und Selbstvorwürfe und – er muss die hexenhafte Versucherin erdrosseln.

Ab heute kann sich diese mittelalterliche folie à deux wiederholen, wenn die Deutschen den sündigen Juden ein Sonderrecht in Beschneidungsdingen einräumen und Gnade vor Recht ergehen lassen. Ab diesem Punkt werden die erlassenen Sünden in einem verborgenen Buch, im Unbewussten der Christen, notiert und aufsummiert. Denn die Gnade der Christen ist nur aufgesetzt und äußerlich. In Wahrheit werden die Christen den Juden nie vergeben.

Kommt es eines Tages zu verschärften Konflikten mit den Juden, werden die verborgenen Bücher aus dem kollektiven Unbewussten geholt und geöffnet. Der Tag der Abrechnung ist da.

Die Deutschen haben die Aufarbeitung ihrer Vergangenheit primanerhaft und gehorsam als werkgerechtes Bereuen und Büßen absolviert. Ihr wahres psychologisches, sprich theologisches Verhältnis zum Judentum haben sie nie verstanden. Wie auch? Wie kann man eine fremde Religion verstehen, wenn man die eigene nicht versteht?

Der wahre Antisemitismus der Deutschen besteht in der Weigerung, sich selbst zu erkennen.