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Donnerstag, 29. November 2012 – Dekalog und Menschenrechte

Hello, Freunde der Chancengerechtigkeit,

hat jemand mal Bilder vom Start des New Yorker Marathons gesehen? Da ist der Pulk der Starter fast so lang wie die ganze Rennstrecke. Wenn sich beim Startpfiff die ersten in Bewegung setzen, können die Letzten noch eine halbe Stunde ein Nickerchen machen.

Wenn unsere Kinder in Kitas und Grundschulen gehen, zeigen sie bereits dieselben Unterschiede wie die ihrer Eltern aus verschiedenen Schichten. Ehrgeizige Eltern bringen ihre Kinder in Grundschulen mit wenigen Ausländerkindern. Ehrgeizige Grundschulen werben bereits um deutsche Kinder mit dezentem Hinweis auf die geringe Migrantenquote ihres Hauses. Bei Kitas ist diese Entwicklung schon längst der Fall.

Die moderne Gesellschaft entwickelt sich immer ungleicher. Doch zwischendrin wird irgendwann ein Schnitt gemacht, den man Start nennt – und plötzlich ist der Nachwuchs der Ungleichen völlig gleich. Die unerwartete Gleichheit soll das Werk der Natur sein, die alle Kinder – in Ungleichheit gebiert. Das nennt man neoliberale Logik.

Margot Käßmann wird zum lutherischen Pin-up-Girl der Öffentlich-Rechtlichen. Hat sie uns in der ARD mit dem Satz in Angst und Schrecken versetzt, dass wir alle sterben müssen – weshalb wir unter ihre Fittiche kommen sollen, damit sie uns zu Gott bringt –, behauptet sie nun im ZDF, die 10 Gebote seinen die Grundlagen der Menschenrechte.

Unter der Dauereinwirkung religiöser Opiate nimmt man es in kirchlichen Kreisen

mit der Wahrheit nicht so genau. In der lutherschen Version heißt das erste Gebot: Du sollst nicht andere Götter haben neben mir. Die Frage Nr. 14 „Was ist das?“ beantwortet der Reformator: „Wir sollen Gott über alle Dinge fürchten, lieben und vertrauen.“

Kann man fürchten und lieben gleichzeitig? Das Fürchten haben sensible Theologen ab der Romantik gestrichen und das Lügengebilde vom „lieben Gott“ erfunden. Sag das mal einem frisch verliebten Paar, sie sollen sich lieben und fürchten.

Der Theologe Walter Otto hat daraus das allgemeine religiöse Gesetz gemacht, das Heilige sei Tremendum et Fascinosum, etwas, wovor man sich fürchtet und wovon man fasziniert ist. Bin ich von etwas fasziniert, fürchte ich es insgeheim. Passt das zusammen?

Faszination und Faschismus haben denselben Wortstamm. Die Fasces waren Rutenbündel, Symbole der Macht. Macht zieht mich in ihren Bann und fasziniert mich. Vor der Macht fürchte ich mich aber auch, wenn sie sich gegen mich wendet und mich zur Schnecke macht. Ich bewundere die Macht, damit sie mir nichts tut. Macht, ich verehre dich und bete dich an, solange du mir kein Leides tust.

Den liebenden Vater liebe ich zurück, er belohnt meinen Gehorsam mit ewiger Seligkeit. Luther nennt den liebenden Gott den offenbaren Gott (deus revelatus). Im Neuen Testament hat er sich als Liebender geoffenbart. Den zu fürchtenden Gott nennt er den verborgenen Gott (deus absconditus). Der furchtbare Gott ist der Gott des Alten Testaments.

Jetzt beginnt der Trug, der den Antisemitismus an der Wende zum 19. Jahrhundert wieder angeheizt hat. Selbst kirchenferne und judenfreundliche Gelehrte wie der Historiker Mommsen – der sich energisch gegen Treitschkes: „Die Juden sind unser Unglück“ gewehrt hatte – empfahl seinen jüdischen Freunden, zum Christentum überzutreten. Das Christentum des Neuen Testaments sei Religion der Liebe, das Judentum des Alten Testaments die Religion der Rache, des Auge um Auge.

Zwischen Altem und Neuen Testament habe ein Quantensprung stattgefunden, die Verfasser der Bibel hätten das archaische Vergeltungsprinzip des Alten Testaments überwunden und seien zur liebenden und gnädigen Vaterfigur des Gleichnisses vom Verlorenen Sohn übergegangen.

Der wichtigste Theologe unter Kaiser Willem, Adolf von Harnack, hat in den Mittelpunkt seines damaligen Bestsellers „Vom Wesen des Christentums“ dieses Gleichnis gestellt, wo ein antiautoritärer chaotischer Sohn seinen allerliebsten Vater im Stich lässt, sein Erbe verprasst, sich bei den Schweinen herumtreibt, allmählich bemerkt, dass er allein nicht zurecht kommt, es an Vaters reichlich gedecktem Tisch immer noch am besten ist und am Ende reuig und bußfertig zurückkriecht: „Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir: ich bin nicht mehr wert, dein Sohn zu heißen.“

Weil er sein Leben selbständig leben wollte, hat er gegen den Vater gesündigt und muss seinen Emanzipationsversuch in Sack und Asche bereuen. Deutsche Väter brauchen solche Versagersöhne, dass sie die einzigartigen Helfer und Erlöser ihrer Kinder spielen können, deren Konkurrenz sie insgeheim gefürchtet haben.

Die Erziehung der meisten Väter produziert versagende Söhne und Töchter, damit die Familie das Gleichnis vom verlornen Sohn spielen kann. Welch Triumph des Vaters, großzügig sein ganzes Hab und Gut anzubieten und den Loser an die Brust zu drücken: „Bringet schnell das beste Kleid heraus und ziehet es ihm an und gebet ihm ein Ring an die Hand und Schuhe an die Füße und holet das gemästete Kalb, schlachtet es und lasst uns essen und fröhlich sein. Denn dieser mein Sohn war tot (!!!) und ist wieder lebendig geworden, er war verloren und ist wieder gefunden worden. Und sie fingen an, fröhlich zu sein.“ ( Neues Testament > Lukas 15,11 ff / http://www.way2god.org/de/bibel/lukas/15/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/lukas/15/“>Luk. 15,11 ff)

Die Figur des bankrottierenden und zum Väterlichen zurückkriechenden Sohnes ist die Standardbiografie der heutigen Ex-68er, die mit ihren kommunistischen Revolutionen gescheitert waren und zurück in die etablierte Gesellschaft krochen. Vor allem in die Hochschulen, wo Gescheiterte, die sich geläutert gaben, mit Kirche und Macht ihren Bund schlossen.

Der deutsche Durchschnittscharakter ist der gebrochene, auf der Suche nach dem heilenden Vater. Als die Mitscherlichs von der vaterlosen Gesellschaft sprachen, haben sie den himmlischen Vater vergessen, den die Trebergenossen sehr wohl im Sinn hatten und heute noch immer haben. Nicht, dass man sonderlich fromm wäre, doch der Glaube an den Vater – zumindest hinter den Kulissen, aber dort ganz bestimmt – gehört zur Grundausstattung deutscher Rückengeschädigter.

Es wird seine Gründe haben, wenn diese Generation „Rücken hat“. Ohne gebrochenes Rückgrat nimmt der himmlische Vater die beschädigte Sohnesware nicht zurück. Theologisch korrekt formuliert: die Söhne müssen gestorben sein, damit sie auferstehen dürfen. Weshalb der deutschen Literaturkritik gescheiterte Helden die allerliebsten sind.

Brave und gehorsame Söhne wissen das und scheitern prophylaktisch, um ihren Vätern einen Liebesdienst zu tun. Schaut Väter, ohne euch geht’s nicht, ohne euch kommen wir nicht zurecht.

Doch langsam, hat es seit Adenauer noch Väterfiguren gegeben? Willy Brandt war ein totgeschwiegener Großer Bruder oder aushäusiger Onkel mit bizarrer Biografie, der unvermutet aus der Diaspora zurückkehrte und an den man sich erstmal gewöhnen musste. Kiesinger war eine schwäbische Vaterkarikatur. Dann kamen nur noch Rabauken-Anführer der Straßengangs ans Ruder: Helmut Schmidt, Helmut Kohl, Gerhard Schröder, Joschka Fischer. Jetzt regiert Ruinenmutter Merkel, die den Schrott der Männer wegräumen muss.

Der Neoliberalismus hat einen Vater mit zwei Köpfen: den persönlichen Gott, den die Amerikaner täglich anbeten und den unpersönlichen, der bestimmte Wirtschaftsgesetze erlassen hat, die von den Auserwählten am besten gehändelt werden, um dem Vater im Himmel zu gefallen.

Warum steht bei Harnack der Vater im Mittelpunkt der an die Weltspitze arrivierten wilhelminischen Epoche? Waren sie nicht schon siegestrunken genug von ihrer wissenschaftlichen und ökonomischen Aufholjagd? Das Reich Albions hatten sie bereits in den Schatten gestellt. Der rohe Geselle überm Teich war zwar muskulös, aber geistlos. Im Reich der Wissenschaft waren sie singulär, wozu brauchten sie noch einen Vater?

Eben drum, um des Erfolges willen. Nach langen, auch gottlosen Dekaden im 19. Jahrhundert waren die Deutschen wieder ins Väterliche zurückgekrochen und wurden prompt mit Welterfolg belohnt.

Ab Feuerbach über Schopenhauer bis Nietzsche hatte der Glaube an den liebenden Vater Risse bekommen. Die Deutschen kokettieren gern mit atheistischer Vaterlosigkeit, doch den peinigenden Tod Gottes ertragen sie nicht. Ist der Deutsche heute ein Gottesverneiner, kriecht er morgen auf dem Zahnfleisch ins Münster, um seinen unerhörten Vatermord in schaurigen Gesängen zu bereuen und um Gnade und Rückkehrrecht zu winseln.

Warum predigt Bloch ununterbrochen den aufrechten Gang? Weil die Deutschen mit gebrochenen Knochen nicht aufrecht stehen können und tun müssen, als ob, weshalb sie die Walkingstöcke erfunden haben, damit sie schneidig am Stock gehen können.

Das Evangelium des Vaters war für Harnack keine konkurrierende Religion neben anderen Religionen. Es war die Religion an sich, die siegreiche über alle andern. Durch Gott den Vater hatte die deutsche Seele ihren unendlichen Wert erkannt. Auf dem Papier, in der Innerlichkeit hatte sie den schon vorher gehabt, aber nicht in politischer Hinsicht.

Seit dem Niedergang der väterlichen Kaiser im Mittelalter waren die Deutschen paternalistisch verwaist. Echte Führer des römischen Reichs deutscher Nation gab es nicht im Flickerlteppich deutscher Zerrissenheit. Friedrich war heidnischer Junggeselle, zynischer König nur von Preußen. Die Habsburger waren strudelessende Österreicher und ausländische Weltenherrscher geworden, mit Deutschland hatten sie nichts zu tun.

Als der Erzfeind Frankreich besiegt war und die neuen Herren Europas an die Weltspitze rückten, brauchten sie einen standesgemäßen Vater im Himmelreich, vor dem sie salutieren konnten. „Ich bete an die Macht der Liebe“, mit Akzent auf Macht, war das Lied des verlorenen Sohnes, der es ohne den Vater probiert hatte, aber gescheitert war:

„Ich liebt und lebte recht im Zwange,

Wie ich mir lebte ohne Dich;

Ich wollte Dich nicht, ach so lange,

Doch liebtest Du und suchtest mich,

Mich böses Kind aus bösem Samen,

Im hohen, holden Jesusnamen.“

Christliche Liebe ist Machtliebe. Nach vielen Jahrhunderten des Niedergangs, der Irrungen und Wirrungen, hatten die deutschen Lande wieder zueinander gefunden und waren auf den Thron zurückgekehrt, ob auf den europäischen oder den Weltenthron, das würde sich noch zeigen.

Die verloren gegangenen und geläuterten Söhne hatten in Wichs, Uniform und Tschindarassa ins Heimische gefunden und feierten mit dem omnipotenten Vater das Fest der Versöhnung.

Eine siegreich aufstrebende Nation hat auch eine siegreiche Religion. Und also zeigte sich für den Haupttheologen dieser Epoche, der mit Willem auf vertrautem Fuß stand und im Kaiserschloss ein– und ausging, dass „das Evangelium überhaupt keine positive Religion ist wie die anderen, dass es nichts Statutarisches und Partikularistisches hat, dass es also die Religion selbst ist. Es ist erhaben über allen Gesetzen und Spannungen von Diesseits und Jenseits, Vernunft und Ekstase, Arbeit und Weltflucht, Jüdischem und Griechischem. In allen (= Gegensätzen und Spannungen) kann es regieren, und in keinem irdischen Element ist es eingeschlossen oder notwendig mit ihm behaftet.“

Mit anderen Worten, alle dialektischen Widersprüche sind durchgearbeitet und besiegt, Hegels ideeller Triumph hatte Recht behalten und war zur machtpolitischen Realität geworden. Es gab keine Gegensätze mehr zwischen Erde und Himmel, Vernunft und Gefühlsrausch, Judentum und Griechentum. Der Weltgeist in seinem letzten synthetischen Dritten Reich war angebrochen.

Den Wettlauf ans Ziel der Geschichte hatten die deutschen Christen gewonnen. Sie kannten weder Katholiken, noch Lutheraner, weder Juden (leider doch), noch Gräcomanen, weder Rationale, noch Irrationale. Sie waren alles geworden: Kopf und Bauch, Verstand und Sentiment, kühl und leidenschaftlich, innig und äußerlich, spirituell und militaristisch, politisch und philosophisch, stolz und erfolgreich und doch demütig, barhäuptig vor Gott, vor dem sie kindlich das Haupt neigten.

Als freie Kinder Gottes hatten sie es nicht mehr nötig, sich an den Buchstaben der Gesetze zu halten wie die Juden. Sie hatten die Freiheit der Kinder Gottes erobert, die nicht mehr unter den Geboten, sondern über ihnen stand und die sie in Vollmacht neu deuten konnten. „Man kann ferner sagen, dass man aus den Anweisungen des Herrn über das Gebot der Liebe hinaus keine unverbrüchlichen Gesetze machen dürfe, sonst schädige man die christliche Freiheit und verschränke der christlichen Religion das hohe Recht, in ihrer Ausgestaltung dem Gang der Geschichte unbefangen folgen zu dürfen.“

Echte Lutheraner sind an keine formulierten Gebote gebunden. Sie verfügen frei über die Interpretation aller göttlichen Gesetze. Fachleute sprechen von Antinomie (=gegen das Gesetz). Genauer müsste man sagen: über dem Gesetz. Zehn Gebote und sonstigen Kinderkram überlassen gotttrunkene Geschichtssieger jüdischen Pharisäern.

Hier sehen wir die Entjudung des christlichen Dogmas, um sich als wahres auserwähltes Volk zu präsentieren. Freie Kinder Gottes und wahre Brüder Jesu stehen über den Gesetzen Gottes. Juden waren Pharisäer geblieben und Pharisäer „hielten das Volk in Banden und mordeten ihm die Seele. Gegen diese unberufene Obrigkeit zeigte Jesus eine wahrhaft befreiende und erquickende Pietätlosigkeit. Er ist nicht müde geworden, – ja, er steigerte sich im Kampf bis zum heiligsten Zorn –, diese „Obrigkeit“ zu befehden, ihre Wolfsnatur und ihre Heuchelei aufzudecken und ihr das Gericht anzukündigen. … Eben diesen Leuten hielt er die furchtbare Strafpredigt Neues Testament > Matthäus 23 / http://www.way2god.org/de/bibel/matthaeus/23/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/matthaeus/23/“>Matthäus 23

29„Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr der Propheten Gräber bauet und schmücket der Gerechten Gräber 30 und sprecht: Wären wir zu unsrer Väter Zeiten gewesen, so wollten wir nicht teilhaftig sein mit ihnen an der Propheten Blut! 31 So gebt ihr über euch selbst Zeugnis, daß ihr Kinder seid derer, die die Propheten getötet haben. 32 Wohlan, erfüllet auch ihr das Maß eurer Väter! 33 Ihr Schlangen und Otterngezücht! wie wollt ihr der höllischen Verdammnis entrinnen? 34 Darum siehe, ich sende zu euch Propheten und Weise und Schriftgelehrte; und deren werdet ihr etliche töten und kreuzigen, und etliche werdet ihr geißeln in ihren Schulen und werdet sie verfolgen von einer Stadt zu der anderen; 35 auf daß über euch komme all das gerechte Blut, das vergossen ist auf Erden, von dem Blut des gerechten Abel an bis auf das Blut des Zacharias, des Sohnes Berechja’s, welchen ihr getötet habt zwischen dem Tempel und dem Altar. 36 Wahrlich ich sage euch, daß solches alles wird über dies Geschlecht kommen.“

Nicht nur, dass die christliche Botschaft des vergebenden Vaters dem Despoten des Alten Testaments überlegen war, den jüdischen Heuchlern wurde – wie apart – das unerbittliche Schlussgericht desselben angekündigt.

Bei Harnack hören wir bereits die ersten Hassgesänge gegen die Juden, die von den Nationalsozialisten vier Jahrzehnte später ins Werk gesetzt wurden. Zu jener Zeit erfand Wilhelm Marr den Begriff Antisemitismus. Zu jener Zeit hieß der Prediger am Kaiserhof Adolf Stoecker, der einer der aggressivsten Judenhetzer im Kaiserreich wurde. Stoecker, der sich auch politisch betätigte, attackierte die Demokratie, das Wahlrecht, die französische Aufklärung und die Säkularisierung.

Dieselben Vorgänge beginnen sich im heutigen Berlin zu wiederholen. Vorläufig noch in harmlos scheinenden Phänomenen. Die Religion greift immer mehr in die Politik ein. Das laizistische Denken wird verhöhnt, immer mehr aktive Protestanten erobern die Machtpositionen in Berlin. Komplementär assistiert vom schwäbischen Katholiken Kretschmann, der sich vehement dafür einsetzt, dass Religion keine Privatsache sein dürfe.

Auch der biedere Wolfgang Thierse müsste sich wegen antidemokratischer Blasphemie vor dem Verfassungsgericht verantworten. Obgleich er zugeben muss, dass Demokratie gegen die Kirchen von den Aufklärern durchgesetzt wurde, bringt er das logische Kunststück fertig, ihr das Sterbeglöcklein zu läuten, wenn sie ohne religiöse Werte als Fundament bliebe. Freiheit, Solidarität, Gerechtigkeit, Menschenrechte und Toleranz seien biblischer Herkunft, ohne diese Tugenden wäre der Staat zum Untergang verurteilt.

Hier weiß man nicht, was man mehr bewundern soll, die Dreistigkeit, die sich mit fremden Tugenden schmückt oder die Ignoranz, die sich kundig gibt. Thierse verfügt über ein gern benutztes Todschlagargument. Im DDR-Sozialismus habe er die schädlichen Wirkungen des Atheismus erlebt, was er in der BRD auf jeden Fall verhindern will.

Die DDR war kein Atheismus, sondern ein sozialistischer Totalitarismus, dessen Atheismus mehr dem Christentum glich, als Thierse sich bis heute eingestehen kann. Blochs Satz scheint er nicht zu kennen: „Nur ein Atheist kann ein guter Christ sein, gewiss aber auch: nur ein Christ kann ein guter Atheist sein.“ Wenn das kein Grund ist, kein Atheist zu sein, gibt es keinen mehr.

(Ein Streitgespräch mit Wolfgang Thierse von Evelyn Finger und Karsten Polke-Majewski in der ZEIT)

In den Medien wird Vernunft allenthalben als französische Metze beschimpft. Der abstrakte und inhaltsleere Gott im Vorwort zum Grundgesetz wird zum christlichen transsubstantiiert. In der Beschneidungsfrage gelten Zitate aus dem Alten Testament als juristische Argumente. Merkel spricht ausschließlich vom Selbstbestimmungsrecht der Religionen, vom Selbstbestimmungsrecht der Polis spricht sie nie. Auch nicht davon, was geschieht, wenn beide Rechte kollidieren.

Es versteht sich von selbst, dass Religion die unheilige Welt dominieren muss. Kein Staatsakt ohne ökumenische Thron- und Altargottesdienste. Das Gottlose wird zum Staatsfeind Nummer eins erklärt. Jede Ironie, jede Kritik an der allerheiligsten Religion wird zur Blasphemie dämonisiert. In welchem Maß die Religion ihre Gegner täglich in die Hölle wünscht, gilt als selbstverständlich und unanstößig.

Kein Aufstiegsorientierter, der sich nicht des Segens der Kirche versicherte – wenn auch nur aus PR-Gründen. Atheist Schröder saß in seiner Kanzlerzeit immer in der ersten Reihe direkt unter Bischof Huber, Peer Steinbrück hat bei seiner Nominierung schnell seine Beziehung zu Gott geklärt. Übrigens von keiner Gazette kommentiert. Kaum ein VIP, der in Talkshows vergäße, seinen Bezug zu Gott zu erwähnen.

Es ist wie beim Märchen vom Hasen und dem Igel: Gott ist allhier und wartet auf dich.

Für Luther ist das erste Gebot des Dekalogs der Inbegriff aller Gebote. Wer nicht an Gott glaubt, kann die Gebote gar nicht halten. Und selbst wenn: alles wäre vergeblich, denn es wäre ein eigenmächtiges, auf eigene Kraft und Vernunft vertrauendes moralisches Verhalten.

In seinem Kommentar zum ersten Gebot zitiert Luther Altes Testament > Sprüche 3,5 / http://www.way2god.org/de/bibel/sprueche/3/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/sprueche/3/“>Spr. 3,5: „Verlass dich auf den Herr von ganzem Herzen und verlass dich nicht auf deinen Verstand. Oder Altes Testament > Jeremia 17,5 / http://www.way2god.org/de/bibel/jeremia/17/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/jeremia/17/“>Jer. 17,5: Verflucht der Mann, der sich auf Menschen verlässt.“ Oder Neues Testament > Matthäus 4,10 / http://www.way2god.org/de/bibel/matthaeus/4/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/matthaeus/4/“>Matth. 4,10: „Du sollst anbeten Gott, deinen Herrn und ihm allein dienen.“

Was geschieht mit jenen, die diesen eifersüchtigen Gott nicht anbeten, sich auf ihre Vernunft verlassen, aus eigener Kraft moralisch sein wollen, sich auf Menschen verlassen und dem unfehlbaren Himmel eine Nase drehen?

Das sagt uns die Antwort auf die Frage 85: „Was droht Gott allen, die ihn hassen und seine Gebote übertreten?“ Solchen Menschen droht „Zorn und Ungnade, zeitlicher Tod und ewige Verdammnis.“ Zur Erläuterung die Stelle aus Altes Testament > 5. Mose 27,26 / http://www.way2god.org/de/bibel/5_mose/27/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/5_mose/27/“>5.Mos. 27 Altes Testament > 5. Mose 27,26 / http://www.way2god.org/de/bibel/5_mose/27/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/5_mose/27/“>,26: „Verflucht sei, wer nicht alle Worte dieses Gesetzes erfüllt, dass er danach tue.“

Es müssen alle Gebote erfüllt werden, auch das Gebot, an den Geber der Gesetze zu glauben. Wer nicht glaubt, wird aussortiert. Der Kern der Gebote ist der Befehl, den intoleranten Gott der Bibel anzubeten. Es geht nicht um moralisches Handeln, es geht um Entweder-Oder, um Sein oder Nichtsein, um Himmel oder Hölle.

Das also ist der liebende Gott des Neuen Testaments, der dem Rachegott des Alten Testaments himmelweit überlegen sein soll.

Die deutschen Harnacks, die sich mit ihrem gnädigen Vatergott dem Rachegott des Alten Testaments überlegen dünkten, hatten die eschatologischen Endpunkte der Heilsgeschichte aus kosmetischen Gründen amputiert. Dennoch konnten sie auf den zornigen Gott nicht verzichten, der vor allem die Aufgabe hatte, sein ursprünglich erwähltes Volk mit Tod und Verderben zu bedrohen – was vierzig Jahre später die Nationalsozialisten in „anständiger“ Weise in Taten umsetzten.

Wenn der Dekalog die Grundlage der Menschenrechte wäre, müsste jeder menschenrechtlich gesonnene Mensch auf der Welt zuerst zum Christentum übertreten, damit er humanistisch handeln kann. Sein Glaubensbekenntnis ersetzte alles moralische Tun, ohne rechten Glauben wäre sein Handeln ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Den Haag könnte sich vor Arbeit nicht retten.

Im Jüngsten Gericht müsste Frau Käßmann an der rechten Seite ihres Herrn und Inquisitors sitzen, zu richten die Lebendigen und die Toten.