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Donnerstag, 27. September 2012 – Neomalthusianer

Hello, Freunde der Kinder,

In einem Cafe am Prenzlauer Berg in Berlin ist der Zutritt für Kinder verboten. „Bestimmte Orte sind einfach nichts für Kinder“, erklärt der Cafe-Besitzer. Er wolle einen lärmfreien Raum, in dem auch Mütter in Ruhe ihren Espresso trinken könnten. Es gab auch positive Reaktionen von Müttern. Ob sie ihre lärmenden Bälger direkt vor der Türe knebeln und anleinen können, solange sie ihren Latte macchiato schlürfen, wurde nicht berichtet.

Warum ist die Schule noch nicht zur kinderfreien Zone ernannt worden – wegen überzufällig vieler kinderfeindlicher pädagogischer Elemente? Warum ist die Welt noch nicht geschlossen worden wegen zunehmender Unverträglichkeit zwischen Gewinnstreben und kindlichem Glück?

Eric Hansen ist amerikanischer Buchautor, der die Mormonen für die amerikanischste Version aller christlichen Kirchen hält. Das sogenannte positive Denken sei schon in ihre Theologie eingebaut. Mormonen glauben nämlich, dass Kinder schon vor ihrer Geburt im Himmel befragt werden, ob sie überhaupt auf die Erde wollten.

Gott Himself habe sie vorgewarnt, das irdische Leben sei kein Zuckerschlecken und nicht alle Menschen würden ins Paradies zurückkehren, weil sie sich hienieden zu schlecht benehmen würden. Wer nicht wolle, so der Schöpfer, der müsse auch nicht.

Jetzt ratet, wie viel Prozent der Kinder den Höllenritt nach unten wagen? Zwei Drittel aller Kinder halten das schöne Leben bei den Engeln für zu langweilig und wagen

lieber das Risiko Erde als sich mit dem süßen, ungefährlichen Nichtstun im Himmel zu plagen.

Mit anderen Worten, die Kinder wussten, was sie sich antaten, als sie sich zum Trip ins Erdenleben entschlossen. „So gesehen, kann ein Mormone nie sagen: «Ich habe mir das hier nicht ausgesucht». Im Gegenteil: genau das hat er. Er kann auch nicht klagen, die Welt sei unfair, oder er habe schlechter abgeschnitten als andere.“

(Eric T. Hansen in der ZEIT über die Mormonen in Amerika)

„Die Glücklichen wurden nie geboren“, meint John Milton in seinem Verlorenen Paradies. Es bleibt unklar, ob der englische Dichter genau den Sinn des mormonischen Mythos trifft. Sind die Erdenverweigerer wirklich glücklicher als die Abenteurer, die die irdische Herausforderung annehmen und nach vielen göttlichen Versuchungen die Heimkehr in den Himmel schaffen? Sie haben sich das zweite Glück mit Irrungen und Wirrungen verdient, während die Nesthocker von der himmlischen Behörde nur gehätschelt wurden.

Unversehens sind wir mitten im Streit um das BGE gelandet. Müssen die Menschen erst ihr Glück im Schweiße ihrer Tränen erarbeiten oder darf jeder vorleistungslos an den Futternapf, gleichgültig, ob er etwas zum BIP beigetragen hat?

Was die Mormonen als uramerikanische Ideologie ins präembryonale Leben verschieben, hat Augustin mit der Lehre vom freien Willen geschafft: nicht Gott ist schuld, sondern die Menschen, die sich frei für Heil oder Unheil entscheiden können.

Hier sehen wir den Urkonflikt in der amerikanischen Seele, der von keinem Psychoanalytiker auch nur mit einem Wörtchen erwähnt wird. Weil die Seelenklempner die theologischen Märchen als unantastbaren Glauben betrachten und nicht als psychische Projektionen und Fiktionen.

Theologische Geschichten sind Tagträume, weshalb in jedem Trivialschinken aus Hollywood der Satz fällt: lebe deinen Traum. Natürlich kann der Traum auch ein Alptraum sein. Sei ein Mann und lebe deinen Alptraum, Mitt Romney! Aus diesem Stoff sind alle amerikanischen Heldengeschichten, die das Böse aus der Hüfte erschießen können.

Der Urkonflikt der Amerikaner besteht im Gegensatz von empfundener Freiheit und geglaubter calvinistischer Vorherbestimmung. Sind sie nun frei oder von Gott prädestinierte Roboter? Hier haben die Mormonen die Marktnische erkannt und plädieren auf frei – bereits im Himmel.

Auf diese Idee ist nicht mal Augustin gekommen, als er sein Buch über den freien Willen schrieb. Das war noch ziemlich in seiner heidnisch-neuplatonischen Zeit. Je mehr er sich ins Buch der Bücher vergrub, je mehr verging ihm der freie Wille und er wurde zum Prediger des unfreien Willens, der von Luther und Calvin in unterschiedlicher Ausprägung übernommen wurde. Die katholische Theologie hat keine Skrupel, sich stets auf den freien Willen ihres Kirchenvaters zu berufen, als ob sie nicht wüsste, dass er in seiner Bischofszeit das genaue Gegenteil vertrat.

Das freieste Volk der Welt ist in der heiligen Stimmung des vollständigen Vorherbestimmtseins erzogen worden. „Also erbarmt er sich nun, wessen er will, verhärtet aber, wen er will.“ Da bleibt nicht die kleinste Ritze für einen freien Willen. Gott ist der Regisseur allen Geschehens, da kann kein Menschlein mitreden.

„Geschieht ein Unglück in einer Stadt, und der Herr hätte es nicht gewirkt?“ „Ich bins, der Herr, der ich das Licht bilde und die Finsternis schaffe, der ich Heil wirke und Unheil schaffe, ich bins, der Herr, der dies alles wirkt.“

Die Amerikaner scheinen diese Worte als paradoxe Intervention genommen zu haben: ah, der Herr sagt das Gegenteil von dem, was er denkt, um uns zur Freiheit zu verlocken. Oder die Amerikaner haben den Widerspruch zwischen Prädestination und politischer Freiheit entweder nicht bemerkt oder gleich verleugnet. Oder sie haben einen Kompromiss gebildet aus individueller Freiheit und kollektiver Prädestination.

Die Geschichte liegt fest und wird gezwungen zum Fortschritt, zu einer bestimmten technischen Grundausstattung und zu einer raffenden Wirtschaftsform, die Gottes Lieblinge begünstigt. Schon vielen ist aufgefallen, dass neoliberale Freiheit sich nur auf wirtschaftlichen Erfolg beschränkt.

Völlig undenkbar, dass heute ein Volk sich entschlösse, aus dem ganzen Profitzirkus auszusteigen, um zu sagen: wir ernähren uns ab jetzt nach Möglichkeit autark und begnügen uns mit dem, was uns überleben lässt, ansonsten freuen wir uns unseres Lebens. Wir entscheiden uns frei, wie lange wir malochen und wie lange wir erkenntnisreiche Muße pflegen wollen.

Hätte dieses Land noch wertvolle Rohstoffe, wäre binnen kurzer Zeit ein Vorwand gefunden, um das geknechtete Volk mit NATO-Kraft zu befreien und ihm gönnerhaft die Demokratie zu bringen.

Die verdrängte Freiheitsproblematik haben sich die Mormonen zunutze gemacht und die Mär von den frei wählenden Kindern erfunden, die trotz Vorwarnung das amerikanische Leben gewählt haben, um ihre außerordentlichen Fähigkeiten unter Beweis zu stellen.

Wer ist nun schuld am Leben der Verwahrlosten und Schwachen? Nicht der Staat, nicht das böse Wirtschaftssystem – es sind die Kinder. Die Kinder sind schuld am Leben der Erwachsenen. Die Letzten beißen die Hunde.

Ganz oben sitzt Gott. Der ist Schöpfer von allem, aber an allem schuldlos. Dann kommen die erwachsenen Kreaturen, die an allem schuld wären – wenn sie keine Kinder hätten, auf die sie alles schieben können. Kinder sind schuld an der gesamten Misere ihrer Eltern und Erzieher.

Wären sie klug, schön und erfolgreich, könnten sie die Misserfolge der Alten ausgleichen und rächen. Aber so kriechen sie immer knapp an Hartz4 vorbei. Wie kann man mit solchen Rohrkrepierern bei den Nachbarn angeben können?

Bei John Milton spürt man den Neid der schuldig Geborenen auf die glücklichen Ungeborenen. Die Glücklichen wurden nie geboren. Geboren zu sein, ist schon ein Fluch. „Die Geburt ist der eigentliche Skandal“ (Jonathan Swift). „Man muss die Menschen bei ihrer Geburt beweinen, nicht nach ihrem Tode.“ (Montesquieu) „Besser wärs, nie geboren zu sein,“ sagt sogar „Hedonist“ Heinrich Heine.

Heute wird nicht die Geburt, sondern der Tod geschmäht. Ein Zeichen, dass das Leben insgesamt leichter geworden ist?

Auch die Griechen waren keine leichtsinnigen Hüpfer, die das Dionysische nicht kannten und stets heiter und sorglos in den Tag hineinlebten (möglichst auf Kosten der Deutschen, wie es heute heißt). Sie kannten die Abgründe des Lebens, aber sie ließen sich nicht davon bestimmen.

Eines ihrer schwärzesten Worte lautete: „Das Beste ist, nie geboren zu sein, das Zweitbeste, möglichst schnell wieder abzuscheiden“. Das Unglück sollte realistisch gesehen werden, doch es sollte nicht das letzte Wort behalten. Lerne durch Leiden, war ein geflügeltes Wort, sich vom Leiden nicht völlig übermannen zu lassen. Sondern allen Widrigkeiten stand zu halten und trotz allem das eigene und politische Glück anzustreben.

Es ist falsch, dass die Antike vor Leid und Schmerz die Augen schloss. Die Tragiker und Dichter beschrieben das selbst- und fremdverschuldete Unglück in allen furcht- und mitleiderregenden Dissonanzen. Dennoch sollte man nicht resignieren, sondern den Kampf aufnehmen gegen seine leidenden Affekte. Man sollte sich das Tragische anschauen, um sich von Furcht und Schrecken zu reinigen.

Katharsis war das Ziel der Kunst, Moral der Sinn der Ästhetik. Noch bei Schiller war Theater eine moralische Anstalt, worüber sich erst die Romantiker lustig zu machen begannen, bis die Deutsche Bewegung jede Moral als Schwächlichkeit westlicher Humanitätsheuchler niedermachte.

Eins aber machten die Griechen auf keinen Fall: das Schreckliche des Daseins war keine Rechtfertigung für drogenhafte Flucht in ein jenseitiges Seelenheil. Die Griechen ließen sich nicht dazu hinreißen, „dem Leben seinen Eigenwert zu nehmen und es zu einer bloßen Vorbereitung auf den Tod zu erniedrigen.“ Sondern sie riefen alle psychischen Kräfte – ihre Zähigkeit und Tapferkeit, ihr vernünftiges Denken – zum Widerstand gegen Leid und Tod auf, „in der Überzeugung, dass sie sich siegreich überwinden lassen“. (Wilhelm Nestle, Die Überwindung des Leids in der Antike)

Was hat dies alles mit dem ersten ordentlichen Professor für Ökonomie zu tun, dem englischen Pastoren Thomas Malthus? Malthus gehörte zu den ersten Pessimisten der Wirtschaftswissenschaft.

Die Ökonomie hatte mit großen Versprechungen begonnen. Adam Smith sah bereits visionär den wachsenden Wohlstand der Nationen, die Verbesserung der Lebensumstände der unteren Stände. Alles konnte gut werden, wenn man nur die Reichen daran hinderte, in Hinterzimmern ihr Süppchen zu kochen.

Smith gehörte zur optimistischen und aufgeklärten Gründergeneration der neuen Wissenschaft vom Tausch, von der Produktion, der Arbeitsteilung, dem Lohn und den Profiten. Die ersten Entwürfe sahen noch keine unlösbaren Klassenkämpfe, sondern Harmonie aller Kräfte – unter der Regie einer Unsichtbaren Hand.

Doch schnell kamen Ernüchterung und der Bruch mit der Harmonie. Carlyle nannte die neue Wissenschaft die dismal science, die traurige Wissenschaft, die scientia sinistra.

(Nietzsches „Fröhliche Wissenschaft“ war deshalb möglich, weil ihm am Schicksal der Schwachen nicht mehr gelegen war. Ihm ging‘s um die Zukunft der Starken in einer neuen Erdregierung, die kein schlechtes Gewissen hatte, auf Kosten der Vielzuvielen zu leben.)  

Malthus sah durch den neuen Kapitalismus viele Probleme auf die Völker zukommen. Nicht auf die Starken und Wenigen, sondern auf die arbeitenden Unterschichten. Schuld an dem heraufziehenden Elend – waren sie selbst. Weil sie sich vermehrten wie die Kaninchen und nicht genug zu essen hatten für ihren zahlreichen Nachwuchs. Bekamen sie mehr Lohn, wurden sie leichtsinnig und heckten noch mehr Kinder, die sie nicht ernähren konnten, weil die Produktionskraft der Gesellschaft nicht mithalten konnte.

Es war immer ein Missverhältnis zwischen der Zahl der Schwachen und der realen Wirtschaftspotenz, die diese Menschenmassen nicht ernähren konnte. Grund des übermäßigen und unverantwortlichen Zeugens war die zügellose Sexualsucht der gottlosen Unterschichten.

Wer war, genau genommen, schuld am Elend der Erwachsenen? Die Kinder, die allzuvielen Kinder, die ihren triebgesteuerten Eltern die Haare vom Kopf fraßen. Der meistzitierte Satz von Malthus – gleichgültig, dass er ihn später aus opportunistischen Gründen strich – lautet: „der in die schon mit Beschlag belegte Welt Geborene findet an der großen Tafel der Natur keinen für ihn gedeckten Platz. Die Natur befiehlt ihm, wieder zu verschwinden und zögert nicht, ihrem Befehl nachzuhelfen.“

Womit wir mitten in der Gegenwart wären. Es ist allerdings nicht die Natur, die dem Befehl des Verschwindens nachhilft. Es ist der Mensch, der sich hinter Naturgesetzen versteckt, die zuverlässig dafür sorgen, dass überzählige Esser von der Platte gefegt werden. Die eiserne Klugheit wirtschaftlicher Naturgesetze kämpft mit eisernem Besen gegen den Wildwuchs einer sexuell chaotischen Unterschicht, die nicht fähig ist, sich der Strenge der Naturgesetze zu fügen.

Nur die Angehörigen der Oberschicht sind im Einklang mit der Natur, die nicht für alle sorgen kann, sondern nur für die Cleveren, deren Wissen identisch ist mit der Macht.

In jener Zeit kamen die Massen auf: die aus Dörfern und Allmenden vertriebenen Bauern, die kleinen Bäcker und Metzger, über die Adam Smith noch so empathisch schreiben konnte. Durch reine Quantität drohten die Unteren die edle Qualität der oberen Stände zu überfluten. Man musste Vorkehrungen treffen.

Fast zur gleichen Zeit – bei Deutschen immer etwas später – wütete Mephisto gegen das immer neue Leben, das er nicht totschlagen konnte:

„Und dem verdammten Zeug, der Tier- und Menschenbrut,

Dem ist nun gar nichts anzuhaben:

Wie viele hab ich schon begraben

Und immer zirkuliert ein neues frisches Blut!

So geht es fort, man möchte rasend werden.“

Diese Wut auf die Vielzuvielen zirkuliert immer noch. Ja, sie wächst bei den oberen Schichten, wenn auch hinter den Kulissen. Darauf macht Ilija Trojanow mit einem fulminanten TAZ-Kommentar aufmerksam.

Es ist nicht nur Mitt Romney, der sich neulich in einer internen Rede verriet, als er fast die Hälfte seines Volkes, das ihn wählen soll, dem Abdecker übergab. CNN-Gründer Ted Turner will gleich die ganze Menschheit ausdünnen. „Eine Bevölkerung weltweit von 250 bis 300 Millionen, ein Rückgang um 95% wäre ideal.“

Auch der reichste und karitativste Mensch auf der ganzen Welt, Bill Gates, will die Menschheit mit besseren Impfungsmethoden um 10 bis 15 % schrumpfen lassen. Womit er den Hauptzweck seiner Nächstenliebe auf den Tisch gelegt hat.

Nicht nur in den USA haben die Neomalthusianer Hochkonjunktur. Auch in Russland werden schon Tabellen mit überflüssigen Völkern angefertigt. Bislang sind es schon 107 Staaten mit 80% der Weltbevölkerung. Den meisten Überschuss haben China und Indien. Immer die anderen sind die Überflüssigen.

Die Griechen versuchten ihre Missstände durch Einsicht zu lösen, unter Einschaltung der Vernunft und demokratischer Beratungen des Volkes. Ziel des kollektiven Nachdenkens und Entscheidens war das Glück der Polis.

Die Moderne verwendet einen dreieinigen Instrumentenkasten, um die planetarischen Probleme zu lösen, die ihr über den Kopf zu wachsen drohen:

a) Rückkehr der Religion, Flucht ins Jenseits. b) Konzentration und Zusammenballung einer winzigen Global-Elite, die sich auf machtgestützte Inseln der Seligen zurückzieht und c) dem – jetzt noch – projektiven Auslöschen der Majorität der Menschheit, die bei genügender Gewaltpotenz in absehbarer Zeit in ein reales Eliminieren verwandelt werden könnte.

Bei neugermanischen Malthusianern und Darwinisten vor 80 Jahren sprach man von Raum im Osten, von der Vernichtung des lebensunwerten, überflüssigen, schädlichen und naturfeindlichen Lebens.

Von Malthus über Darwin bis Hitler vibriert Europa von der endzeitlichen Vision einer planetarischen Katharsis. Sei es durch wirtschaftliche Verknappungen und Verteuerungen. Sei es durch Überleben der Tüchtigsten. Sei es durch Eliminieren der Überflüssigen.

Im Vergleich mit den drohenden Menschheitskatastrophen, die sich jetzt schon als Probedenken ankündigen, wird das Völkerverbrechen der Deutschen eine Petitesse sein.