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Donnerstag, 26. Juli 2012 – Dirk Pilz II

Hello, Freunde der Parteien,

wozu brauchen wir ein Verhältniswahlrecht? Schon der Begriff geht in die Irre, es geht um ein Parteienwahlrecht, mit dem sichergestellt werden soll, dass Parteien eine garantierte Rolle im Parlament spielen – unabhängig von der Wahl einzelner Persönlichkeiten.

Besteht der Liberalismus nicht in der Bedeutsamkeit von Individuen und nicht kollektiver, anonymer Blöcke, die im Bundestag die Einzelpersönlichkeiten zur Parteienraison und zum Fraktionszwang nötigen können? Wer nur über Parteilisten gewählt wurde, ist nicht als Persönlichkeit, sondern als Lakai der Partei ins Parlament gekommen.

Es ist widersinnig, die übermäßige Herrschaft der Parteien anzuprangern, jedoch ein Wahlrecht aufrecht zu erhalten, das den Kollektivismus stärkt.

Im Artikel 21 GG heißt es: „Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung mit. Ihre Gründung ist frei. Ihre innere Ordnung muss demokratischen Grundsätzen entsprechen.“

Zwischen Mitwirken und Dominieren im Stile gottgewollter Machtblöcke klaffen Welten. Die um sich greifende Macht unserer Parteien ist vom Grundgesetz nicht gedeckt. Wessen Wohl und Wehe von der Parteiführung abhängt, der ist nicht frei in seiner Entscheidung.

Diese Abhängigkeit kann demokratischen Grundsätzen nicht entsprechen, denn

das Individuum kann seiner eigenen Meinung, seinem Gewissen, nicht folgen. Wie stark eine Partei im Parlament vertreten ist, darf nur von der Anzahl der Kandidaten abhängen, die gewählt worden sind und nebenbei einer Partei angehören.

Profilscharfe Parteien gibt es ohnehin nicht mehr. Warum sollte man eine von außen nicht einsehbare Machthorde wählen?

Das Verhältniswahlrecht ist ein Parteienbegünstigungsrecht, das aus der Angst geboren wurde, ein pures Persönlichkeitswahlrecht könnte zum Chaos führen. Es könnte sich herausstellen, dass die mächtigsten Parteien gar nicht so viele Persönlichkeiten aufzubieten haben, die das Volk für wählbar hielte.

Über Nacht könnten die Piraten oder andere bunte Vögel eine gewichtigere Rolle spielen als unsere Geldeliten es für richtig hielten. Es könnten unberechenbare Verhältnisse eintreten, die die Vorherrschaft der Finanzblöcke nicht mehr respektieren könnten.

Das Verhältniswahlrecht hat die Funktion, den launischen und unkalkulierbaren Großen Lümmel in berechenbare und lenkbare Verhältnisse zu zwingen – durch kontinuierliche Puffergrößen.

Jetzt verstehen wir, warum wir von der klassischen Demokratie in Athen nichts lernen können. Wir sollen gar nichts lernen. Der Wille des Volkes könnte ungefiltert und maßstabgetreu im Bundestag abgebildet werden.

Alle Macht geht vom Volke aus – und wird von den Parteien so lange geknetet und gewalkt, bis sie in richtigen Bahnen verläuft. Doch echte Demokraten brauchen keine parteilichen Gouvernanten, die ihren Willen biegen und fälschen, bis er ins obrigkeitliche Korsett passt.

Karlsruhe hat keine Klarheit geschaffen, sondern nur einen weiteren faulen Kompromiss verordnet. Die Zahl der Überhangmandate – wenn mehr Persönlichkeiten durch Erststimmen gewählt wurden, als der jeweiligen Partei durch Zweitstimmen zustünden – auf 15 festzulegen, ist willkürlich. Es gibt keine prästabilierte Harmonie zwischen Erst- und Zweitstimmen, da helfen keine mathematischen Tricks.

Das Wahlrecht sollte so vereinfacht werden, dass es noch verstanden wird. Das kann nicht der Fall sein, wenn selbst die roten Roben an ihre Grenzen stoßen und Mathematiker das Kommando übernehmen.

Nun könnte es geschehen, dass der nächste Pfusch erneut in Karlsruhe landet, weil jemand gewichtige Einwände erhöbe. Dann hätten wir einen failed state, eine nicht funktionsfähige Demokratie. Bald beginnen die Wahlkämpfe und wir haben kein ordnungsgemäßes Wahlrecht.

Schon längst hätte in der Öffentlichkeit eine grundsätzliche Debatte über den Wahlmodus stattfinden müssen. Doch man hat keine Zeit mehr für demokratische Fundamentalfragen, man muss dem Geschwindigkeitsrausch der Börsen und Ratingagenturen folgen. Eine Polis darf kein lebendiger Organismus sein, sie muss funktionieren wie eine schnurrende Maschine.

Kein heutiger Gazetten-Kommentar lässt sich auf grundsätzliche Fragen ein. Man schilt die Politik, ohne die Dinge an der Wurzel zu packen.

 

Zins ist der Lohn des Geldes, wenn es in der Fremde tüchtig für seinen Besitzer gearbeitet hat. Derjenige, der es verleiht, hätte ja Wunderdinge mit ihm anstellen können, also braucht er Entschädigung für die entgangenen Wunderdinge. Derjenige, der es lieh, hat sein Eigentum vermehrt, also soll er für das geborgte Geld löhnen.

Soweit, so schlecht. Denn der Grundsatz, auf dem das obligate Zinsdenken beruht, ist der Grundsatz des endlosen Wachstums. Kein Baum aber kann in den Himmel wachsen, kein Zins das Vermögen ins Unendliche vermehren.

Nehmen wir aber mal an, man hätte sich in einer Polis auf die Gepflogenheit des Zinsnehmens verständigt, wer legt dann fest, wie hoch die Zinssätze für welche Leistungen sind?

Wenn eine Volkswirtschaft schon in Schieflage geraten ist, muss sie durch Bestrafungszinsen vollends in den Abgrund fahren? Müssten nicht gerade Zinsmechanismen – die eigentlichen Windmaschinen des unendlichen Wachstums – transparent in aller Öffentlichkeit durch legitimierte Personen festgelegt werden?

Legitimierte Personen sind gewählte Personen und keine Raubritterkarrieristen. Erneut stellt sich heraus, dass auch bei den Zinssätzen die weltführenden Banken betrogen haben. Während kleine Bankkunden zu wenig Zinsen für ihr Erspartes erhielten, kassierten die internationalen Zinsmonopolisten lumpige Billionen mit krimineller Energie. Darunter auch die Deutsche Bank mit ihrem neuen Chef, der in Verdacht steht, von den Manipulationen gewusst zu haben.

Ulrike Herrmann plädiert für Abschaffen der anonymen Machenschaften, dann könne auch niemand mehr betrügen. Besser wäre: Abschaffen und Haftstrafen.

 

Daniel Bax hat den Grünen-Abgeordneten Memet Kilic zur Frage der Beschneidung interviewt. Kilic ist in der Türkei aufgewachsen und seit 2009 integrationspolitischer Sprecher der Grünen im Bundestag.

Die Religionen sollten sich unterordnen und die jungen Männer Gelegenheit erhalten, sich erst mit 14 zu entscheiden, ob sie beschnitten werden wollen, meint Kilic. „Denn das, was in heiligen Büchern gepredigt wird, muss im Licht der Vernunft und des medizinischen Fortschritts neu interpretiert werden.“ Der Staat dürfe religiöse Riten und Gebräuche in Frage stellen und sollte in einen Dialog mit den Religionen treten.

Kleiner Einwand: Heilige Bücher kann man nicht nach Belieben „interpretieren“. Insofern sie unverträglich sind mit der Vernunft, muss man sagen: unverträglich. Man kann nicht an ihnen herumpfuschen, bis sie – unter Verfälschung des Originaltextes – wieder salon- und predigttauglich geworden sind.

Es ist unmöglich, sich auf Autonomie zu berufen und sich im gleichen Moment einer unfehlbaren Autorität unterzuordnen.

 

Fortsetzung zu Dirk Pilz:

Schon vor Tagen schrieb er einen hitzigen Kommentar gegen die „Macht der Ahnungslosen“, worunter er „dogmatische“ Atheisten und Gottlose versteht, die keine Argumente und nur Meinungen hätten. Inwieweit er sich selbst als Jünger eines Gottes versteht, hat er nicht verraten.

Die Verteidigung der Religion klingt viel souveräner und objektiver, wenn man sie selbst nicht vertritt. Dann kann man als fairer Beschützer der Armen und Schwachen auftreten. Die Lieblingspose der Intellektuellen ist seit Karl Mannheim die Unabhängigkeit von allen Lobbygruppen, das Drüberschweben über den Niederungen eigensüchtiger Interessen.

Da Religion und Atheismus in der Geschichte der BRD noch nie sinnvoll und leidenschaftlich debattiert wurden, nehmen wir Pilzens Kommentar als Symptom, dass die Gesellschaft sich endlich dazu herablässt, sich mit ihrem lieben Gott zu beschäftigen.

Es seien vor allem Atheisten, die sich „mit energischem Missionseifer“ gegen die Beschneidung gewehrt hätten und also ginge es im Grunde um den Streit zwischen Glaube und Unglaube.

Auch wenn nach wie vor etwa 50% der Bevölkerung zu den beiden großen Kirchen gehörten, fühle sich die Mehrheit doch dem Atheismus verpflichtet, „ohne sich dafür explizit entscheiden zu haben.“ Im Gegensatz offenbar zu den Religiösen, die sich bereits im zarten Alter von wenigen Tagen und Monaten ganz bewusst zu ihrem jeweiligen Vater im Himmel bekennen.

Der Atheismus befinde sich, da er nichts über sich weiß, nicht nur in einem „erbärmlichen Zustand“, sondern sei zudem zu einer bedrohlichen Gefahr für die Gesellschaft geworden, denn er habe antiislamische und antisemitische Affekte erkennen lassen.

Wäre dem so, könnte die Bekämpfung des Unglaubens hier schon eingestellt werden, denn was gibt es Gefährlicheres als Feindlichkeit gegen semitische Religionen? Doch Pilz scheint seinem Totschlagargument nicht zu trauen, weswegen er sich vorsichtshalber nach weiteren Argumenten umsieht.

Es seien Atheisten, die die religiöse Erziehung als Indoktrination bezeichnen würden. Warum Pilz sich über diesen Vorwurf erregt, bleibt verwunderlich, denn er gibt selbst zu: „Auch eine atheistische Erziehung ist Indoktrination.“ Wenn sie es auch ist, ist es die fromme Erziehung ebenfalls. Vermutlich meint er, jede Erziehung sei Indoktrination, was solle also der Vorwurf?

Bevor wir klären, was Indoktrination ist, eine kleine Anmerkung fürs Protokoll. Der Streit um Beschneidung ist kein Grundsatzstreit um Religionen oder Antireligionen. Es geht um einen Rechtsstreit. Darf das allgemeine Recht im Namen höherwertiger Instanzen unterlaufen oder ausgehöhlt werden?

Gesetze einer Demokratie können nur durch die gewählte Legislative im Parlament verändert werden. Letztlich durch den Willen des Volkes. Einer solchen Gesetzgebung müssten ausführliche Debatten in der Öffentlichkeit vorausgegangen sein, die mit Hilfe vernünftiger Argumente geführt werden. Höllenbedrohende oder seligkeitsbelohnende Aussagen in Posen unfehlbarer Heiligkeit sind lächerlich und müssen zurückgewiesen werden.

In der Beschneidungsdebatte werden nur die rechtsanmaßenden Übergriffe der Religion attackiert. Der weitere Inhalt der Religion, der sich mit keinem § anlegt, ist Angelegenheit der Religion, die sie nach Willkür und Seligkeitsbedürfnissen selbst zu regeln hat.

Eine grundsätzliche philosophische Debatte um Glaube und Vernunft spielt auf einem andern Feld und hängt nicht sachlich mit der Beschneidungsdebatte zusammen.

Beide Themen müssen streng gesondert werden. Warum? Weil auch Gläubige, wenn sie denn demokratisch sein wollten, diesen Konflikt mit sich selbst austragen müssten. Es spräche gegen die demokratische Kompetenz der Frommen aller Konfessionen, wenn nur Gottlose für den Erhalt des Rechtsstaats stritten.

Ohne es zu bemerken, verweist Pilz alle Erlösungsgläubigen in das Lager vor- und gegendemokratischer Rechtsfeinde. Es ist auch ein Schlag ins Gesicht der kessen These, dass Deutschland die Synthese aus Glaube und Vernunft gefunden habe. Eine schöne Synthese, wenn bei jedem Konflikt zwischen Vernunft und Credo automatisch die Vernunft zurückweichen müsste.

Eine Erziehung ohne Beeinflussung des Kindes wäre wie Waschen ohne Wasser, ja sogar eine Verletzung der Erziehungspflicht der Eltern.

Ist Erziehung per se Indoktrinierung? Dann hätte es nie eine Entwicklung der Menschheit gegeben, wenn man unter Indoktrinierung die absolut geltende und unverrückbare Weitergabe elterlicher Traditionen verstünde.

Die gesamte griechische Philosophie ist ein einziger Aufstand gegen Tradition und Indoktrination. Keine Aufklärungsbewegung ohne heftige Angriffe gegen das Heiligste und Schreckenerregendste der herrschenden Religionen.

Eine vernünftige Pädagogik unterscheidet sich von einer manipulierenden dadurch, dass sie dem Kind die Freiheit lässt, die Faktoren der elterlichen Beeinflussung wahrzunehmen, zu reflektieren und sich eines Tages zu entscheiden, ob es sie zur Erziehung seiner eigenen Kinder einsetzen will.

Vernünftige Eltern fördern und entwickeln die Vernunftanlagen des Kindes, damit es lernt, seine Autoritäten kritisch zu sehen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen.

Soweit der Inhalt aller aufgeklärten pädagogischen Konzepte von Kant bis Neill. Das Sapere aude muss an Pilz spurlos vorübergegangen sein, wie an allen neoromantischen Befürwortern der Indoktrination.

Nun erscheinen bei Pilz alle Argumente gegen die Vernunft, die Vernunft einst gegen den Glauben anführte. Origineller geht’s nicht. Doch auf Originalität legen wir keinen Wert, sondern nur, pardon, auf schlichte Wahrheit.

a) Vernunft sei dogmatisch.

Was ist ein Dogma? Ein unüberprüfbarer Glaubenssatz, der sich per göttlicher Autorität jeglicher Debatte entzieht. Sollte eine Vernunft dies tun, wäre sie keine, sondern hätte sich zum Glauben zurückentwickelt.

Dass in einer jahrtausendealten Glaubenskultur jede Emanzipation sich nicht auf einen Schlag alle eingetrichterten Religionsneurosen aus den Rippen schwitzen kann: um dies zu verstehen, muss man nicht Psychologie studieren. Bei allen Aufklärern lassen sich dogmatische Reste ihrer frommen Erziehung nachweisen. Bei Kant das radikale Böse, bei Rousseau seine calvinistischen Zwangsbeglückungen, bei seinem Schüler Robespierre sein „bestes Argument“: die Guillotine.

b) Auch Atheismus sei ein Glaube.

Kein Mensch könne ohne Glauben leben. Ein wahrhaft tiefes Argument, das die weit streuende Vieldeutigkeit des Begriffs Glaube für sich nutzt. Ebenso könnte man sagen, eine hochmoralische moderne Gesellschaft komme ohne Laster nicht aus, denn ohne Laster aus Spanien gäb‘s keine frischen Tomaten. Die Verschiedenheit des Glaubens hat Pilz an anderer Stelle selbst zugegeben: „An Gott zu glauben, ist etwas anderes als daran zu glauben, dass morgen endlich die Sonne scheint.“

An Vernunft muss man zuerst als Hypothese glauben. Dann sieht man, ob man gute Erfahrungen mit ihr macht. Allmählich kann der Glaube zu einer erfahrungsgesättigten Wirklichkeit werden, aus bloßem Glauben ist Zuversicht und Selbstsicherheit geworden. Nicht anders bei allen Lerninhalten, die ich mit Selbstbewusstsein besser meistere als unter Zagen und Selbstzweifeln.

Wenn der religiöse Glaube genau so verführe, gäb‘s keine Probleme, denn er würde sich der kritischen Prüfung stellen. In diesem Falle bräuchte er keine Immunisierung durch Heiligkeit, sondern könnte auf die Früchte seines Glaubens verweisen. Früchte des Glaubens gibt‘s in einer uralten Glaubenskultur zuhauf. Die schrecklichen Früchte des Glaubens waren ein Hauptgrund für die Aufklärer, gegen die Barbareien der Kirchen vorzugehen.

Durch den Kampf mit der Vernunft haben sich die Kirchen humanisiert. Doch noch immer beharren sie auf den schriftlichen Quellen der Inhumanität, die sie nach Belieben reaktivieren könnten – wenn sie erneut mächtiger werden würden.

Solange es Katechismen gibt, in denen Dogmen stehen, die bei Verlust der Seligkeit geglaubt werden müssen, solange hat die Kirche der freien Debatte abgeschworen.

Solange ein einzelner Mann im Vatikan verhindern kann, dass Frauen Priesterinnen werden dürfen, obgleich die Majorität seiner Schäfchen es für richtig hält, solange herrscht faschistischer Dogmatismus in der Kirche.

Dass die Früchte verschiedener Erziehungsstile und Philosophien nur von einem Standpunkt außerhalb der Gesellschaft festgestellt werden könnten – wie Pilz behauptet – ist absurd. Dann hätten wir auf keinem Gebiet die Möglichkeit, den Wettbewerb der Standpunkte empirisch zu überprüfen.

Nur nebenbei: auf die Schrecklichkeiten der Kirchen kommt Pilz mit keinem Wörtchen zu reden. Das klingt, als hätten die Atheisten die lodernden Feuerstöße für Ketzer sich aus den Rippen geschwitzt. Die blutige Bilanz der Gläubigen wird aus ihren Büchern getilgt und den Gegnern ins Stammbuch geschrieben. Buchfälscherei nennt man das gewöhnlich.

c) Der Kampf gegen die Religion – nicht identisch mit der Beschneidungsdebatte! – ist ein Kampf gegen die inhumanen Früchte der Religion. Nicht gegen Religion an sich. Was andere Menschen glauben, ist höchstens aus psychologischen Gründen interessant. Es gibt keinen Wettstreit abstrakten Fürwahrhaltens.

Leider haben moderne Atheisten den Streit auf theoretische oder erkenntnistheoretische Argumente verkürzt und verfälscht. Ob es einen Gott gibt oder nicht: solche Fragen sind sinnlos, weil unbeantwortbar. Vor allem sind sie belanglos, denn kein Gott entscheidet über das menschliche Leben.

Selbst wenn ein genialer Denker mit messerscharfer Logik die Existenz eines Gottes bewiese, wären wir keinen Schritt weiter. Denn abendländische Religionskritik kritisiert nicht die Behauptung, dass Götter existieren, sondern dass abendländische Religionen und ihre biblischen Götter viel Unheil angerichtet haben.

Ein Gott der Vernunft ist nicht identisch mit dem Gott der Bibel. Vernünftige Religionskritik unterscheidet zwischen humanen, naturverbundenen Göttern und menschenfeindlichen, naturhassenden Göttern. Es müssen die Taten der Religionen beurteilt werden, erst im zweiten Schritt die Frage, welchen Glaubenssätzen sie entsprossen sind. Warum sollte eine Religion, die rundum voller Liebe und Solidarität zu Mensch und Natur wäre, bekämpft werden? Das wäre Wahnsinn und religiöser Dogmatismus.

d) Jeder vernünftige Glaube ist nichts als eine Hypothese zu praktischen Zwecken.

Wer Götter, Daimonen oder Schutzengel benötigt, um ein guter Mensch zu sein, soll an ihnen festhalten. Es ist wie in der Heuristik, jener Lehre, wie man zu fruchtbaren Ideen und Gedanken kommt. Wenn Einstein eine Geliebte nötig hatte, um zur Relativitätstheorie zu kommen, ist das seine Sache. Wenn Kekule ein interessantes Traumleben benötigte, um im Schlaf die Formel für Benzol zu schauen, soll er lebhaft und plastisch träumen.

Ein sinnvoller „Atheismus“ – der alles glauben kann, was ihn menschlicher macht – könnte mit Luthers Devise beschrieben werden, dass man leben solle, als ob es Gott nicht gäbe. Als ob alles von uns abhinge. Das Als Ob ist unabhängig von Gottesbeweisen und handelt in uneingeschränkter Autonomie.

Ob es Gott gibt, daran hatte Sokrates seine Zweifel. Sollte es ihn aber geben, würde er ihn in der Unterwelt mit dem größten Vergnügen in ein Streitgespräch verwickeln und sein angebliches Wissen überprüfen.

Solange Gott nicht benutzt wird, um Unfähigkeiten der Menschen zu kaschieren und zu kompensieren, kann er sie nicht mehr erniedrigen. Er wird ihre Kompetenzen stärken und fördern.

Ein Religionskritiker ist nicht identisch mit einem Gottesleugner. Er kann Anhänger einer Naturreligion sein, weil er Natur auf diese Weise ehren und schützen will. Er kann an Gaia, Demeter, Hera oder Zeus glauben, wenn er in ihnen die Prinzipien eines humanen Lebens verwirklicht sieht.

Ohnehin weiß er, dass Götter von Menschen erfunden wurden, nicht, um vor ihnen niederzuknien und sie in Demut anzubeten, sondern um sie „auszubeuten“ im Dienst eines geglückten Lebens. Götter müssen den Menschen dienen, nicht Menschen den Göttern. Ein Vernunftglaube macht den Glauben zum Instrument des Lebens.

e) Die heutige Atheismusdebatte verläuft noch immer in den Bahnen des 18. und 19. Jahrhunderts und beschränkt sich auf den Austausch abgenagter Sätze, in denen kein Leben mehr steckt.

Soll der Streit vernünftig sein, müssen die Thesen überprüfbar werden. Das kann nur durch edlen Wettstreit der Taten geschehen, die einem hypothetischen Glauben entspringen und die jeder mit eigenen Sinneswahrnehmungen verifizieren kann.

Der Theaterkritiker Dirk Pilz sollte bei Lessings Nathan dem Weisen nachlesen. Welcher Ring der echte ist, lässt sich durch Klügeln und Spekulieren nicht herauskriegen. Bei Lessing sollte jeder Ringbesitzer die Echtheit seines Ringes allein durch die Menschlichkeit seines Tuns unter Beweis stellen.

Sinnvolles Streiten um Religion ist ein Wettkampf um die humanste Lebensführung. Nicht die Frage nach Gott, sondern die Frage nach der Humanität unserer Taten muss im Mittelpunkt des demokratischen Wettstreits sein. Alles andere sind dogmatische Wichtigtuereien, von Gottlosen wie von Gottgläubigen.

f) Man muss Pilz durchaus Recht geben, dass viele Atheisten nicht wissen, wovon sie reden.

Das gilt noch mehr von Gläubigen. Die Bibel als Sammlung von Argumenten zum Beweis des Glaubens zu betrachten, wie Pilz es tut, ist genau so intelligent, wie die Genesis als Beweis für die creatio ex nihilo anführen. Wer Offenbarung nicht von Ratio unterscheiden kann, hat auch Tertullians griechenfeindlichen Satz nicht verstanden: Ich glaube, weil es absurd ist.

Es gibt so eine blasierte Attitüde der Rechtgläubigen, alles aus ihrer Religion abzuleiten, selbst ihren absoluten Widerspruch. So behauptet Pilz ohne zu Erröten, das Christentum habe sogar den Atheismus erfunden. Ein kleiner Blick in eine Philosophiegeschichte hätte ihn gelehrt, dass als erster europäischer Atheist der Grieche Pherekydes von Syros gilt.

g) Völlig unverträglich ist irdische Vernunft mit der theologischen Heuchelphrase, der Glaube sei ein Ausdruck der Überzeugung, dass „der Mensch sich nicht selber hat“. Eine Haltung der Demut, dass die „eigenen Überzeugungen nicht der Wahrheit letzter Schluss sind“.

Hier wird der unfehlbare Glaube in ein postmodernes Wischiwaschi verfälscht. Der demütige Christ ist davon überzeugt, dass die ganze Heilsgeschichte nur um seiner eigenen Seligkeit willen von Gott erfunden wurde. Diese Demut ist die größtmögliche Hybris, die im Universum bislang ausgedacht wurde. Sie hat zum naturverachtenden Anthropozentrismus geführt, der die ganze Schöpfung nur als Kulisse zur subjektiven Seligkeit betrachtet.

Die wahre Autonomie kommt ohne falsche Demut aus, kann sich in Polis und Natur einreihen und alle Lebewesen als gleichberechtigte anerkennen. Nur wahres Selbstbewusstsein schützt vor der barbarischen Grandiosität, im Mittelpunkt des Universums und der Fürsorge eines apokalyptischen Gottes zu stehen.

Fazit:

Pilz verwandelt Vernunft in eine dogmatische Chimäre, um sie mit jenen Vorwürfen anzugreifen, die in allen bisherigen Aufklärungsbewegungen dem Glauben gemacht wurden. Er dreht den Spieß um, um die Vorteile der Vernunft dem entmündigenden Glauben und die Nachteile des Glaubens der Vernunft anzudichten.

In einem Punkt ist ihm Recht zu geben: der heutige Atheismus ist auf dem Niveau theoretischer Verknöcherung und szientiver Schaumbildung stehen geblieben. Er hat es nicht geschafft, das Wesen einer humanen sokratischen Vernunft herauszustellen.

Vernunft unterscheidet sich von dogmatischem Glauben durch die Angabe ihrer Widerlegbarkeit.

Geht es um wissenschaftliche Thesen, müssen sie durch Experimente, geht es um Moral und Solidarität, durch nachweisbare Praxis überprüft werden. Das Feld der praktischen Überprüfung ist die globale Politik, die Gestaltung des menschlichen Schicksals auf dem ganzen Planeten.

Das ist der Vorrang der praktischen vor der theoretischen Vernunft. Ein Glaube ist dann unvernünftig, wenn er zu vernunftlosen inhumanen Taten führt.

Theorien haben wir im Licht ihrer Folgen zu bewerten. Wenn Taten barbarisch sind, muss auf barbarische Glaubensquellen zurückgeschlossen werden.

Das Christentum hat sich bislang durch menschen- und naturfreundliche Taten nicht hervorgetan. Die ideologischen Ursachen ihres Menschenhasses sind in ihren Heiligen Drehbüchern nachzulesen.

Im Kontext der Beschneidungsdebatte benutzt Pilz die rechtswidrige Attacke einer hybriden Heiligkeit gegen den Rechtsstaat, um die Vernunft der Demokratie zu schwächen und die Vorzüge einer irrationalen Religion zu preisen.