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Donnerstag, 26. April 2012 – Universelle und partikulare Moral

Hello, Freunde der Kirche,

woran erkennt man, dass die Kirche wieder obenauf ist? Dass sie ihre Kompromisse mit der toleranten Moderne zurückzieht und auf die unverfälschte Intoleranz wortwörtlicher Texte ihrer heiligen Schriften rekurriert.

Hat sie sich noch vor kurzem mit verfälschten Bibelzitaten dem Zeitgeist angedienert wie: vor Gott sind alle Menschen gleich, oder: „Das ist mein Blut des Bundes, das für alle vergossen wird zur Vergebung der Sünden“ ( Neues Testament > Matthäus 26,26 ff / http://www.way2god.org/de/bibel/matthaeus/26/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/matthaeus/26/“>Matth. 26,26 ff), um demokratisches Flair zu verbreiten, ist die Zeit der Koketterie vorbei. Ab jetzt wird wieder wörtlich und selektiv gepredigt.

Das Blut wird nicht mehr für alle, sondern nur für viele vergossen. Genau genommen nur für die Erwählten Gottes. Christen werden ehrlich, wenn sie mächtig werden.

Sie werfen den Mummenschanz der „billigen Gnade“ und kostenlosen Liebe für alle ab und tun offiziell, was sie seit 2000 Jahren zu tun pflegen: sie sortieren die Menschheit nach Spreu und Weizen.

Um die Verwirrung perfekt zu machen, hält der Papst aber an der Deutung fest, dass der Heiland für alle gestorben sei, obgleich der Text eine klare andere Sprache spricht. Was schwarz auf weiß dasteht, kann einen unfehlbaren Schriftdeuter nicht kümmern.

Das „für viele“ sei nur ein Semitismus, der richtig verstanden werden müsse, was auf Deutsch heißt, er muss mit brachialer Gewalt ver-christlicht werden. Womit der heilige Vater seinen Schäfchen zu verstehen geben will, dass nur Juden die Welt spalten, Christus aber sich aller Welt erbarme.

Ein Schelm, wer hier an eine antisemitische Schriftdeutung denkt. Die hebräische Vorlage

steht in Altes Testament > 2. Mose 24,8 / http://www.way2god.org/de/bibel/2_mose/24/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/2_mose/24/“>2.Mos. 24,8: „Danach nahm Mose das Blut, besprengte das Volk damit und sprach: Seht, das ist das Blut des Bundes, den der Herr auf Grund all dieser Gebote mit euch geschlossen hat.“ Damit sind nur die Kinder Israels gemeint und nicht alle Welt. Obwohl also dasteht: für viele, sollen die Schäfchen für alle glauben.

Mit dieser dreisten Wahrheitsverdrehung handelt der Papismus nicht anders als sein ehemaliger Hauptgegner Luther, der den aufmüpfigen Bauern ins Stammbuch schrieb: „Wenn die Obrigkeit sagt, 2 und 5 sind gleich 8, so musst du‘s glauben.“ Luther setzt an die Stelle des Papstes die politische Obrigkeit: nicht nur ein Todesurteil für die Bauern, sondern für eine mündige Zukunftsgesellschaft in Deutschland.

Wenn die Obrigkeit mit Hilfe Gottes ihren Untertanen beliebig ein X für ein U vormachen kann, müssen wir uns über heutige Gazetten nicht wundern, die an die Stelle der Obrigkeit getreten sind und glauben, die Massen nach Belieben ihres Weges führen zu können.

Offensichtlich hat Jesus einen Gesinnungswandel durchgemacht (vorausgesetzt, die Bücher wurden nicht nachträglich von jenen Kräften redigiert, die sich später als judenfeindliche herausgestellt haben). Zuerst sagt er unmissverständlich: „Ich bin nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel gesandt.“ ( Neues Testament > Matthäus 15,24 / http://www.way2god.org/de/bibel/matthaeus/15/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/matthaeus/15/“>Matth. 15,24 Neues Testament > Matthäus 15,24 / http://www.way2god.org/de/bibel/matthaeus/15/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/matthaeus/15/“>) Doch am Schluss seines irdischen Aufenthalts sendet er seine Jünger in alle Welt: „Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und Erden. Darum gehet hin und machet alle Völker zu Jünger und taufet sie.“ ( Neues Testament > Matthäus 28,18 ff / http://www.way2god.org/de/bibel/matthaeus/28/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/matthaeus/28/“>Matth. 28,18 ff)

Wem alle Gewalt gegeben wurde, der ist Gewaltherrscher über alle und also müssen alle Menschen unter seine Gewaltherrschaft gezwungen werden. Das Zeichen der erzwungenen Beugung ist die Taufe.

Während orthodoxe Juden, abgesehen von einigen Missionierungsphasen in alten Zeiten, unter sich bleiben wollen und eine klare auseinanderdividierende Moral vertreten, erheben Christen den Anspruch, über diesen stammesfixierten Separatismus hinausgewachsen zu sein und eine generelle Moral gegründet zu haben, die für alle Menschen zu gelten hat.

Jüdische Philosophen der Aufklärung wie Moses Mendelssohn oder Neukantianer wie Hermann Cohen, die ihren jüdischen Glauben nicht aufgeben wollten, hatten einige Probleme, den Universalismus einer Vernunftmoral mit dem Partikularismus einer ausschließenden Offenbarungsbotschaft in Einklang zu bringen.

Das gelang ihnen nur, wenn sie den Offenbarungscharakter der Schrift leugneten und die Gesetze Jahwes als vernunftgeleitete Gesetze deuteten, die für alle Menschen gelten, unabhängig von ihrem Glauben.

Hier tun sich Welten auf zwischen Anhängern der generellen Vernunft und den heutigen Ultras, die Andersgläubige verabscheuen und den Schatz höherer Erkenntnisse für sich allein beanspruchen.

In der politischen Praxis des Staates Israel setzen sich immer mehr die eifernden Partikularisten gegen den Universalismus der Demokratie durch, die keine Ausnahmen vor dem Gesetz zulässt. Eine funktionierende Demokratie kennt keine Bevorzugten vor dem Gesetz, keine Sonderrechte für Menschen, die einen extraordinären Status für sich reklamieren.

Das philosophische Kernproblem des jungen israelischen Staates ist der unaufgelöste Konflikt zwischen universell-demokratischen Menschenrechten und partikularistisch Erleuchteten, die sich anmaßen, Privilegierte vor Gott und den Menschen zu sein.

Der atheistische Zionismus der Anfänge ist spätestens seit dem überwältigenden Sieg des 6-Tage-Krieges peu à peu in die Atmosphäre ihres unbewussten Kinder- und Stetlglaubens zurückgekehrt und besitzt immer weniger Kraft, sich gegen die aggressiver werdenden Zumutungen der Ultras zur Wehr zu setzen.

Es ist wie im christlichen Abendland, das sich einbildet, aufgeklärt zu sein, obgleich den Modernen die religiösen Urelemente aus allen Poren kriechen.

Auch hier ähneln sich Deutsche und Israelis wie ein Ei dem andern. Offiziell sind beide Völker glaubensfern, in ihren Staaten sollte Religion eine Privatsache sein. Dennoch bestimmen religiöse Konstanten bewusstseinslos ihr Gefühlsleben und in zunehmendem Maß die Grundlagen ihrer Politik.

Was beiden Nationen fehlt, ist eine prinzipielle Religionskritik, die den unvollendeten Prozess der längst verblassten Aufklärung fortführe.

Die Aufklärung des 18.Jahrhunderts blieb abstrakt und seminaristisch. Die unendlich verzweigten, oft subkutanen Prägungen des alltäglichen Lebens durch eingebläute Kindheitsdogmen und heiligmäßige Verhaltensmuster blieben unerkannt und lebten unter veränderten Schlagworten weiter.

Der liberale Individualismus war oft nichts anderes als die Fortführung des individuellen Heilsegoismus, der Fortschrittsglaube nichts anderes als die eschatologische Sehnsucht nach dem Ende der Weltgeschichte.

„Unsere ganze europäische Kultur bewegt sich seit langem schon mit einer Tortur der Spannung, die von Jahrzehnt zu Jahrzehnt wächst, wie auf eine Katastrophe los: unruhig, gewaltsam, überstürzt, einem Strom ähnlich, der ans Ende will, der sich nicht mehr besinnt, der Furcht davor hat, sich zu besinnen.“ (Nietzsche, Vorrede 2 aus dem Nachlaßtorso „Der Wille zur Macht“)

Die meisten Kriege unter den westlichen Staaten, der Hass der christlichen Völker auf die Juden war nichts anderes als der Entscheidungskampf um die einzig wahre auserwählte Nation. Wem gebührt die Krone am Ende der Geschichte, aus welchem Volk wird der Messias auferstehen und der quälenden Geschichte ein Ende machen?  

Die Besinnungslosigkeit, die apathische Geistesabwesenheit gegenwärtiger Weltpolitik sind Symptome eines Wartens auf das Ende, zerrissen zwischen resignierter Sehnsucht nach dem Untergang und fiebriger Erwartung des Endsieges in Glanz und Gloria.

Seit den Anfängen der Christianisierung leben die Europäer in Erwartung des Endes der Welt. Zuerst passiv und abwartend, dann zunehmend aktiv in selbsterfüllender Prophezeiung.

Die optimistische Hoffnung der Amerikaner, der zynische Pessimismus der Europäer sind zwei Seiten derselben Medaille, des beschleunigten Zueilens auf das Ende.   Optimisten sind Erben der Auserwählten, Pessimisten fühlen sich als Verworfene.

Die Welt kann ihre angehäufte Sünd und Schuld nicht länger auf den Schultern tragen und will zurück in den Zustand ihrer ursprünglichen Integrität. Schuldentilgung ist kein ökonomischer, sondern ein theologisch-politischer Begriff, der seine Minusbilanz immer weniger erträgt, je höher die Müll- und Sündenberge wachsen und je weniger die selbstreinigenden Kräfte der Gattung zur Geltung kommen.

Die Säkularisierung ist nur ein Tarnmanöver Halbaufgeklärter, die sich den Schein der Emanzipation verleihen. Doch hinter den Attrappen entzauberter Sachlichkeit walten die uralten dreieinigen Götter, die ihr irdisches Eigentum – das sie eine Weile an ihren Widersacher verloren hatten –, wieder ins Heimische bringen wollen.

Die Schwierigkeit der Deutschen, ihren transzendenten Ballast aus ihrem kleinen aufgeklärten Bewusstsein zu entfernen, liegt daran, dass die Kirchen – unter listiger Mitwirkung unserer biblizistischen Befreier – das Kunststück fertigbrachten, ihre 99%-ige Verstrickung mit dem Nationalsozialismus ins Gegenteil zu verfälschen und sich den Nachkriegsgenerationen als Retterin aus der Not zu präsentieren.

Die Schwierigkeiten der Juden, rücksichtslose Kritik an ihrer Religion zu üben, liegt am Problem des Holocaust, dessen Ursachen darin liegen, dass nicht so sehr eine andersrassische Nation, sondern ein jahrtausendlang verfemter Irrglaube am Boden zerstört werden sollte.

Selbst irreligiöse Altzionisten wie Uri Avnery scheinen Schwierigkeiten mit grundsätzlicher Religionskritik zu haben. Er thematisiert die religiösen Fallstricke nur ad hoc im Zusammenhang mit Tagesproblemen, selten ohne den absichernden Zusatz, wie schön er diverse Sätze des Alten Testaments findet.

Während fromme Ultras keinen Hehl aus ihrer menschheitsspaltenden Schwarz-Weiß-Moral machen, verstecken die christlichen Kirchen ihren Partikularismus hinter universellen Scheinfloskeln.

Wenn Christus für alle gestorben ist, heißt das nicht, dass alle von ihm gerettet werden. Viele sind berufen, wenige sind auserwählt. Das „für alle“ wird zu einer universellen Schuldzuschreibung: ihr alle – die ganze Menschheit – seid schuld daran, dass der Erlöser sein Blut für euch vergießen musste, um euch vor dem Verderben zu erretten. Wer diese Heldentat mit ungläubiger Undankbarkeit beantwortet, hat es verdient, für alle Zeiten bestraft zu werden.

Auch das Christentum polarisiert und spaltet die Menschheit, wenngleich unter dem trügerischen Vorzeichen eines Universalismus, vor dem angeblich alle Menschen gleich sind. In Wirklichkeit wird auch hier unbarmherzig die Spreu vom Weizen gesondert.

Indes geht unerbittlich der landraubende Kurs der Netanjahu-Regierung weiter. Drei bislang inoffizielle Siedlungen werden post hoc anerkannt, Friedensverhandlungen mit Abbas systematisch unterlaufen. Ein entschiedener israelischer Friedenswille ist nicht erkennbar.

Die partikularistisch-imperiale Moral drängt den noch vorhandenen Universalismus verschiedener kleinerer Friedensgruppen wie Uri Avnerys Gush Shalom ins Abseits. Ultrareligiöse Israelis wundern sich über die Unbeliebtheit ihrer Nation unter den Völkern der Welt – nicht. Ihre Erklärung zeugt von paranoidem Verfolgungswahn: in jeder Generation werden die Gojim aufstehen und den Versuch unternehmen, das jüdische Volk auszulöschen.

Solange diese biblisch genährte Verschwörungstheorie nicht aus dem Unbewussten der Mehrheit der Bevölkerung verschwindet, solange wird das sado-masochistische Verhältnis zwischen Israel und seinen Nachbarn sich gegenseitig aufschaukeln.

Die potentiellen Opfer müssen sich als präventive Täter darstellen, um ihre aggressiven Ängste vorbeugend zu legitimieren. Die Täter-Opfer-Identität beruht auf der komplementären Gegenseitigkeit aller Beteiligten.

Das christliche Gegenstück zu den bizarren ultrarechten Religionsphantasien bilden die abenteuerlichen Polit-Illusionen eines Newt Gingrich.

Bezahlt wurde sein Wahlkampf von einem steinreichen Netanjahu-Freund und siehste mal, schon leugnet er die Existenz eines palästinensischen Volkes.

Würde man ihn zum amerikanischen Präsidenten wählen – was nicht mehr geschehen kann –, gäbe es in wenigen Jahren eine dauerhafte Basis auf dem Mond. Das nordkoreanische Atomprogramm könnte man mit überdimensionalen Laserkanonen zerstören und Kinderarbeit sollte endlich als Beitrag zur kindgemäßen Entwicklung anerkannt werden.

Generell ginge es darum, Amerika nicht den Gottlosen, Dealern, Arbeitsscheuen und Neidern zu überlassen. Wenn der muslimische Feind der Gegenwart bezwungen sein wird, zeigt sich immer deutlicher die nächste Verkörperung des absoluten Bösen am Horizont: die Gottesleugner und Naturfreunde.

Doch nicht verzweifeln, es gibt auch Gegenkräfte: Das Buch des amerikanischen Historikers Stephen Greenblatt über Lukrez, den römischen Schüler Epikurs, der das Glück der Menschen auf Erden sieht. („Die Wende: Wie die Renaissance begann“) Ruth Fühner stellt das Buch in der BZ vor.

Epikurs Götter waren so glücklich, dass sie sich auf Inseln der Seligen im Universum nur mit sich selbst beschäftigten. Sie hatten es nicht nötig, ihr Glück durch das Unglück der Menschen bestätigen zu lassen.

Selbst Atheisten könnten sich solche Götter gefallen lassen. Dazu der Kommentar von Georg Diez.