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Donnerstag, 23. August 2012 – Sachzwang und Glaube

Hello, Freunde der Religionen,

glaubst du an Gott? Ah, du bist religiös. Glaubst du nicht an Gott? Ah, dann bist du auch religiös, du glaubst an einen Nicht-Gott. Deutscher Dialog.

Was ist der Unterschied zwischen Philosophie und Religion? Von außen gibt’s keinen. Es sind Versuche, sich die menschliche Situation in der Welt, die wir uns nicht ausgesucht haben, mit Gefühl und Verstand in unterschiedlicher Betonung zusammenzureimen.

Wir machen uns einen Reim auf unendlich viele Sinneseindrücke, die wir ordnen, vergleichen, reduzieren, verstehen, erklären, um einen unbekannten Ort in einen bekannten zu verwandeln, auf dem wir überleben können. Bislang muss uns die Aufgabe geglückt sein, sonst hätten wir nicht Millionen von Jahren an dem Ort, den wir Erde nennen, überleben können.

Ob die Überlebensleistung groß ist, darüber lässt sich streiten. Wer den Menschen als Gattung Tier unter Tieren betrachtet, verweist auf die Verwandtschaft mit den Tieren und fragt: warum sollte die Leistung groß sein, da es doch so viele tierische Geschwister gibt, die dieselbe Leistung bringen? Sind wir nicht alle Geschöpfe der Natur, die uns mit allen Fähigkeiten ausgestattet hat, um in einer natürlichen Umgebung zu existieren?

Wer den Menschen als eine besondere Gattung betrachtet, die das Tier durch Geist und Bewusstsein überragt, wird auf die mangelhafte Instinktfähigkeit des Menschen verweisen. Unsere anfängliche Unterlegenheit und

mangelnde Angepasstheit, die unzureichende Versorgung der Natur mit Mechanismen, die uns das Überlegen und Nachdenken ersparen, hat uns animiert und angespornt, aus der Not eine Tugend zu machen.

Unsere instinktive Unterlegenheit haben wir zum Ausbau unserer geistigen Überlegenheit genutzt, die allerdings den Kontakt mit der Natur immer mehr zu verlieren, ja sich in eine Gegnerschaft und Feindschaft zur Natur zu verwandeln droht.

Der überlegene Geist könnte sich als selbsttötende Hypothek erweisen. Der Geist gaukelt uns eine Überlegenheit vor, die uns vom Boden der Tatsachen abheben lässt und uns in Götter verwandelt, eine Überlegenheit, die die Abhängigkeit von der Natur in hybride Überlegenheit umdeutet und verfälscht und uns autorisiert, die Natur nach Willkür zu erschaffen oder abzuschaffen.

Wären wir allmächtige Götter, drohte uns keine Gefahr. Wir könnten unsere Erfahrungen nach Belieben wiederholen oder unter veränderten Umständen neue Erfahrungen sammeln. Ja, wir wären auf Erfahrungen und Lernen gar nicht angewiesen, denn unsere Allmacht schlösse Allwissenheit ein.

Unsere Beziehung zur Natur wäre ein folgenloses Spielen mit unendlichen Möglichkeiten, die alle gleich gut, ungefährlich und harmlos wären, denn unliebsame Konsequenzen wären ausgeschlossen. Ginge mal eine Welt in Stücke, schon hätten wir uns eine neue aus dem Ärmel geschüttelt.

Sind wir Tiere unter Tieren, hängt die Überlebensfähigkeit allein von der Natur ab. Solange sie uns eine Nische gewährt und anweist, ist uns ein Platz auf Erden gesichert. Einfluss auf die Natur hätten wir keinen. Um hier ein unvermutetes Wort zu verwenden: wir lebten allein von der Gnade der Natur.

Als Menschen der zuverlässigen Natur-Gnade überdrüssig wurden, flüchteten sie unter eine unberechenbare und willkürliche Gottesgnade.

Wenn wir Tiere wären, wäre unser Geist ein Handicap und wir wären den Tieren unterlegen. Denn Tiere leben identisch mit der Natur, wir hingegen entfernen uns im Geist von der innigen Verbindung mit der Natur, die den Tieren eigen ist. Tiere sind geerdet, Menschen schweben illusionär in der Luft.

Nicht wenige Philosophien und Naturreligionen, die den Menschen als schwaches Tier und Tiere als dem Menschen überlegene Wesen betrachten. In diesem Fall hätten Menschen nur eine Chance zum Überleben: mit Hilfe ihres Geistes müssten sie lernend und Erfahrungen sammelnd die instinktive Überlegenheit und den Vorsprung der Tiere mit Bewusstsein, Lernfähigkeit und Willen ausgleichen.

Auch diejenigen, die sich nicht für Götter halten, betrachten das bewusste Tun der Menschen als Zeichen der Überlegenheit über die Tiere, die ihre Naturverbundenheit nur der Determinierung ihrer bewusstlosen Instinkte verdankten.

Doch das ist Augenwischerei. Sind wir Geschöpfe der Natur, haben wir all unsere Fähigkeiten nur ihr zu verdanken, wozu Bewusstsein, Denken und Wollen gehören. Nur wer eine gestörte Beziehung zur Natur hat und sie als Gebärerin allen Lebens verleugnet, muss menschliche und natürliche Fähigkeiten auseinanderdividieren.

Bei Gott als Urheber allen Seins fällt diese Nötigung zum Auseinanderdividieren natürlich weg. Wer sich rühmt, der rühme sich des Herrn. Wer wagte zu bekennen: wer sich rühmt, der rühme sich der Natur? Auch in metaphysischem Sinn gilt, was Vati im Himmel geziemt, geziemt nicht Mutti Natur.

Von außen sind Religionen und Philosophien Welterklärungsmodelle der gleichen Kategorie. Schaut man genauer hin, unterscheiden sich geistüberlegene Vater-Religionen von naturidentischen Mutter-Religionen.

Zurückgebliebene Deutsche haben kein Problem, alle Religionen mit einem metaphysischen Mörser zum Einheitsbrei zu verrühren.

Der wichtigste Unterschied zwischen Weltweisheit und Gottesweisheit ist die Herkunft der Erkenntnisse. Ein eifersüchtiger und auf die Lernfähigkeiten des Menschen neidischer Gott überlässt nichts seinem menschlichen Konkurrenten. Denn jener könnte ihm über den Kopf wachsen. Er verabreicht seinem Geschöpf alle Weisheiten von oben, die jener verinnerlichen muss, um vor seinem Schöpfer aus Dankbarkeit auf den Knien zu liegen.

Die sündige Kreatur gilt als lernunfähig, also muss ihr alles offenbart werden. Die Weisheit Gottes wird zur Weisheit des Menschen erklärt. Wer Weisheiten aus anderer Quelle bezieht, ist des Teufels.

Des Teufels sind alle Philosophien, die Offenbarungen irgendwelcher Autoritäten ablehnen und sich selber auf den Weg des Erkennens machen. Was sie für richtig halten, muss durch ihr Gehirn geflossen und mit eigenem Kopf durchdacht worden sein.

Wer Wahrheiten aufstellt, muss sie auf Herz und Nieren überprüfen lassen. Bei unfehlbaren Offenbarungen fällt jede Prüfung weg, ja, wird mit Höllenstrafen bedroht. „Sehet zu, ob euch etwa jemand dieses Glaubens berauben will durch Philosophie und leere Täuschung, gestützt auf Überlieferung der Menschen, auf die Naturmächte der Welt.“ ( Neues Testament > Kolosser 2,8 / http://www.way2god.org/de/bibel/kolosser/2/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/kolosser/2/“>Kol. 2,8)

Natur und Philosophie sind leere Täuschungen und die Hauptfeinde der Offenbarung. „Vernichten werde ich die Weisheit der Weisen und die Einsicht der Einsichtigen werde ich verwerfen.“ ( Neues Testament > 1. Korinther 1,19 / http://www.way2god.org/de/bibel/1_korinther/1/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/1_korinther/1/“>1.Kor. 1,19) „Wenn ihr mit Christus den Naturmächten abgestorben seid, warum lasst ihr euch, als lebtet ihr noch in der Welt, Satzungen vorschreiben?“ ( Neues Testament > Kolosser 2,20 / http://www.way2god.org/de/bibel/kolosser/2/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/kolosser/2/“>Kol. Neues Testament > Kolosser 2,20 / http://www.way2god.org/de/bibel/kolosser/2/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/kolosser/2/“> 2,20)

Für Christen ist die Natur schon hienieden tot, sie selbst leben nicht mehr in dieser, sondern in der zukünftigen Welt. Erde, Natur, Kosmos: alles haben sie hinter sich verbrannt, überschwemmt und vernichtet. Nach ihnen die Sintflut, das Weltenfeuer, das Nichts. Vor ihnen ein neuer Himmel und eine neue Erde.

Womit wir beim Thema Blasphemie angekommen wären. Blasphemie gegen die Natur, die Heimstatt des Menschen, die bedenkenlos geopfert wird, um einer aus Alpträumen geborenen Phantasmagorie anzuhängen, die sich als geglaubte Apokalypse selbst in Realität verwandelt.

Blasphemie ist ein schwaches und ungenügendes Wort, um die Vernichtungswut gegen Welt, Erde und Kosmos zu beschreiben. Es heißt Rufschädigung. Mit schlechtem Ruf könnte man leben, manchmal geradezu vorzüglich: Und ist der Ruf erst ruiniert, lebt sich’s gänzlich ungeniert.

Es geht um die spurenlose Beseitigung unserer Existenzbedingungen, um das radikale Löschen des Planeten. Mit zweitausendjähriger Ansage, Drohung und Verheißung. Herr, komm, ach komme bald: dann wird Schluss sein mit der ersten Schöpfung, mit Mutter Natur und allen Geschöpfen.

Ein größeres Verbrechen gegen Mensch und Natur ist noch nicht gedacht worden. Natürlich wird das Verbrechen nicht zur Tat. Denn die Fieberträume sind lächerliche Verwünschungen von Menschen, die mit ihrem Leben auf Erden nicht zurechtkommen. Einen Gott als Autor solcher Ungeheuerlichkeiten gibt es nicht im letzten Winkel des Universums.

Und doch wird etwas geschehen. Denn solche fanatischen Verdammungsgesänge realisieren sich selbst – wenn sie zur Politik werden dürfen. Seit Beginn der Neuzeit dürfen und müssen sie: als technischer Fortschritt und wirtschaftlicher Kapitalismus.

Die selbsterfüllende Prophezeiung religiös-universeller Gesamtvernichtung wurde zum Kern der Moderne. Als Schaffung einer neuen Erde und als Vernichtung der alten. In Erfindung katastrophaler Waffen, in ökonomischer und technischer Zerstückelung von Mensch und Natur.

Die Folgen brennen uns täglich mehr auf der Haut, bringen Hitzewellen, Tornados, Dürren, schwindende Ernten, zerstörten Humus, vergiftete Atmosphären, steigende Meeresfluten, Fukushimas und Tschernobyls, Hungerseuchen, Kinder, die nur wenige Tage leben, Mütter, die ihre Kinder verrecken sehen, Kriege zwischen den Gläubigen der Vaterreligionen, die ihren Erlöser kommen, ihren Messias siegen sehen wollen, um das Ende der Geschichte als Bezwinger aller Heiden und Ungläubigen auf einer neuen Erde zu feiern.

Um die Natur müssen wir uns nicht sorgen. Schon viele Wandlungen und Katastrophen hat sie erlebt und mit links überwunden. Sie ist von Ewigkeit zu Ewigkeit.

Um unser suizidales Menschengeschlecht müssen wir zittern, uns ängstigen und fürchten. Denn jene Nische, die Mutter Natur für uns bereitstellte, ist in höchster Gefahr.

Gäbe es im Universum eine Kolonie voller Teufel, sie würden sich die Schenkel klopfen und Toben vor Lachen ob der verkehrten Welt.

Was gilt den Menschen als Blasphemie? Ein geistesbehindertes christliches Mädchen in Pakistan soll Koranseiten verbrannt haben (Sascha Zastiral in der TAZ über Blasphemiegesetze in Pakistan), eine Frauengruppe wollte mit Hilfe der Gottesmutter einen Despoten verjagen, einem am Kreuz hängenden Heiland wurde ein Wort natürlicher Begattung zugerufen. (SPIEGEL-Interview von Fabienne Hurst mit Martin Sonntag, dem Geschäftsführer der Karikaturenausstellung in Kassel)

Gibt es etwas Obszöneres, Naturlästerliches und Frevlerisches als ununterbrochene Predigten landauf und landab gegen die Herrlichkeit, Zuverlässigkeit und Beständigkeit der Mutter Natur?

Naturhassende Religionen haben die Aura der Heiligkeit der Natur entwendet und für sich reserviert, das Gekränktheitsmonopol allein für sich reklamiert und besetzt.

Die Asymmetrie der religiösen Kriegsführung könnte nicht absurder sein. Die Gottlosen, Naturgläubigen, Ökologen und Agnostiker müssten sich schleunigst zur Kirche erklären, um nicht nur harmlose Blasphemievorwürfe gegen die Erlöser zu erheben. Sie müssten ein Welttribunal fordern gegen alle, deren heiliger Glaube in selbsterfüllender Natur- und Menschenzerstörung besteht.

Das Gefälle könnte nicht abenteuerlicher sein. Hier Nadelstiche um nichts, dort ein kompakter, existentieller Frontalangriff gegen alles, was uns am Leben erhält.

Von allen Seiten kommen die Einwände: sind Christen nicht unter den eifrigsten Naturschützern zu finden? Dürfen Formulierungen einer uralten Schrift buchstäblich ernst genommen werden? Haben sich die meisten Gläubigen nicht von solch wüsten Märchen der Vorzeit gelöst, sich entmythologisiert, sich fortentwickelt zu einem natur- und menschenfreundlichen Humanismus?

O yeah, Sir, vielmals und vielerorts. Doch wenn sie, die sich Christen nennen, solches taten, sind sie keine Christen mehr, sondern – Humanisten, die sich mangels treffender Begriffe fälschlicher- und irrtümlicherweise Christen nennen. Präzise und angemessene Wörter und Begriffe kennen sie nicht und stehen ihnen nicht zur Verfügung.

Wenn sie moralisch gut sein wollen zu Mensch, Tier und Pflanzen, nennen sie sich in ihrer blöde gemachten Einfalt Christen. Christsein ist für sie das Höchste und Beste, das sie kennen. Und das sie durch die Praxis der Kirchen, die sie erfreulich kritisch sehen, verfälscht und korrumpiert erleben.

Jüngstes Beispiel die Pussy-Riots in Moskau, die nicht die Religion, sondern die Popen angegriffen haben. Irrtümlich identifizieren sie die Frohe Botschaft mit Barmherzigkeit, Milde und Menschlichkeit. Die Praxis der Kirchen ist keine Verfälschung des Neuen Testaments, sondern dessen wortwörtliche Realisierung, die genuine Frucht des neutestamentlichen Baumes.

Von Anfang an bereiten sich die Kirchen in Gedanken, Worten und Werken durch Akkumulation der Macht auf die Wiederkunft ihres Heilands und Erlösers vor, der die Gesamtmacht über die Schöpfung als Pantokrator übernehmen wird und seit seiner Auferstehung anonym bereits übernommen hat.

Diese Passagen der Schrift sind den meisten gutgläubigen Christen unbekannt. Fahrlässig nennen sie sich Christen, vom christlichen Dogma haben sie nicht die geringste Ahnung. Sie halten es nicht für nötig, die kanonischen Schriften ihres angeblichen Glaubens zur Kenntnis zu nehmen. Gutgläubig gehen sie davon aus, dass die Kirchen sich von untragbaren Dogmen gelöst hätten.

Die meisten Christen, die gottlob keine sind, bekleben sich feige mit einem falschen Etikett. Zwar spielen Kirchen das Anpassungsspiel an menschliche Humanismen perfekt mit, doch ihre grauenhaften Dogmen werden sie im Traum nicht aufgeben.

Kommen andere Zeiten, wird wieder ein anderer Wind wehen. Die Waffen gegen die Natur werden nicht zerschlagen und entsorgt, sie werden im Keller vergraben, wo man sie nach Belieben wieder reaktivieren kann.

Noch vor einer Dekade gaben sich die Kirchen samtpfötig, allesverstehend und allesverzeihend. Seit drei oder vier Jahren wird ihr Auftreten in der Öffentlichkeit zusehends herrischer, militanter und unduldsamer. Sie wittern Morgenluft und fallen zurück in jene Zeiten, wo Ketzer und Andersdenkende bedroht wurden, als sie sich ihnen widersetzten.

Ihre Gekränktheitspolitik wird aggressiver. Der harmloseste Gegenangriff gegen ihren universalen Hass wird als Majestätsbeleidigung und Blasphemie dem staatsreligiös-willfährigen Justizapparat übergeben.

Thron und Altar verwachsen wieder zur Einheit, cäsaropapistische Tendenzen in allen Erlöserreligionen häufen sich. Die Kriege der Nationen gehen nicht nur um knapper werdende Ressourcen, sie gehen um den finalen Entscheid der Religionen beim Kampf um die Macht über den gesamten Globus. Kriege gehen immer um Macht, die entscheidenden Mächte der Welt sind Welterlöserreligionen.

Religionen sind keine Anstalten belanglosen, privaten Glaubens, sie sind zu allem entschlossene Machteroberungsmaschinerien im harmlosen Gewand innerlichen Fürwahrhaltens. Keine Religion, die auf sich hält, beschränkt sich auf den Austausch folgenloser Innerlichkeit. Die Innerlichkeit ist nur das unsichtbare Waffenlager, der Ort der Truppensammlung, das Basislager, von dem aus die Innerlichen losschlagen und das Äußerliche überwinden.

Womit wir noch nicht beim entscheidenden Punkt angekommen wären: der Verwandlung innerlicher Glaubenssätze in neutrale, glaubensindifferente, säkular maskierte Strukturen der modernen Gesellschaften.

Man muss kein Christ sein, um Natur zu verschandeln. Wir alle sind längst praktizierende Christen geworden, indem wir täglich Auto fahren, übermäßig konsumieren und apathisch zusehen, wie wir nichts Grundsätzliches und Radikales unternehmen, um diesen Planeten als lebensfreundlichen Ort unseren Kindern zu hinterlassen.

Praktisch, strukturell, politisch und ökonomisch sind wir alle vereint in selbsterfüllender Naturzerstörung. Gleichgültig, ob wir Baptisten, Gottlose, autonome Philosophen oder Offenbarungsempfänger sind. Längst hat sich das Tun vom Glauben gelöst, weil es den Glauben in seine innerste Struktur verwandelt hat.

Der Glaube hat sich materialisiert, ökonomisiert und politisiert. Auf windige Glaubensbekenntnisse ist es nicht mehr angewiesen. Wenn wie durch ein Wunder alle Christen kollektiv aus ihrem Alptraum erwachten und Vernunft annähmen – nichts wäre gelöst. Wenn keine Choräle und Gebete mehr zum Himmel aufstiegen – nichts wäre gewonnen.

Erst wenn wir den verdinglichten, den zum Gesetz der Welt gewordenen, den zu wirtschaftlichen und politischen Zwängen versteinerten Verhältnissen den Kampf ansagten, dann würde der Glaube sich in seinem genialen Versteck entdeckt und entlarvt fühlen. Der Glaube hat sich verwandelt in die Sachzwänge der Moderne.

Max Weber irrte vollständig. Nicht die Sache, nicht die Sachzwänge haben den Glauben überwunden. Der Glaube hat sich in die Sache eingefressen und ist apokryph mit ihr zur Einheit verschmolzen.

Er hat eine Metamorphose durchgemacht, versteckt sich hinter Wirtschaftswachstum, Konkurrenzdruck, Selektion der Bevorzugten, Ausscheiden der Schwachen, wissenschaftlichen Phantasien einer neuen Schöpfung, hinter der Idee eines Verlassens des Planeten und Auswanderns in ferne Welten, der Idee einer technokratischen Wundererfindung, die alle Probleme mit einem messianischen Donnerschlag lösen wird.

Mit Erlösungsaura wurde jede neue Technologie gefeiert: die Eisenbahn, das Telefon, die Atombombe, jetzt das Internet – und aus Silicon Valley kommt die nächste und allerneuste Erlösergarde.

Alles, was Natur schändet, ist technokratisch infizierter Glaube. Alles, was uns dem Ende näher bringt, ist weltpolitische Eschatologie. Wir müssen keine Glaubensbekenntnisse mehr ablegen, es genügt, dass wir täglich zur Arbeit fahren. Jeder neue Auftrag für den Betrieb, jede Umsatzsteigerung, ist der unhörbare Stoßseufzer: ach Herr, komme bald. Wir können und wollen nicht mehr. Wir müssen nur noch. Wir sind dieser Schöpfung müde. Wir hassen uns und alles, was uns umgibt. Wir wollen etwas gänzlich Neues: und das bist DU.

Die menschheitsgefährdende Blasphemie, der naturlästerliche Frevel: sie sind zur via dolorosa für die Natur und zur via triumphalis für eine glaubensbesoffene Menschheit geworden. Glaubt die Menschheit. In Wirklichkeit wird die ganze Welt ans Kreuz genagelt.

Und niemand wird davonkommen, da kann er beten und fluchen wie er will. Denn nicht mehr tun wir unsere Taten, die Taten tun uns. Die Strukturen der Moderne sind steingewordene, kategorische, gehorsamserzwingende, geschriebene und ungeschriebene Befehlsgewalten geworden.

Spottet nimmer des Kinds, wenn noch das alberne,

Auf dem Rosse von Holz herrlich und viel sich dünkt

O, ihr Guten, auch wir sind

Tatenarm und gedankenvoll.

Aber kommt wie der Strahl aus dem Gewölke kommt

Aus Gedanken vielleicht, geistig und reif die Tat?

Folgt die Frucht, wie des Haines

Dunklem Blatt, der stillen Schrift?

Schon lang nicht mehr, oh bester Hölderlin. Es hat sich alles auf den Kopf gestellt. Wir sind tatenreich und gedankenlos geworden. Unsere Taten sind uns täglich von morgens bis abends vorgeschrieben. Durch Sachzwänge und Strukturen. Wir tun, was wir müssen.

Wir leben in freien Demokratien, frei in belanglosesten Dingen. Im wesentlichen Kern unseres Daseins sind wir gefesselt und gebunden. Nicht unsere Triebe und sündigen Interessen zwingen und treiben uns, unser Äußeres, unsere Arbeitswelt, die politischen und ökonomischen Zwänge des Naturzerstörens und Menschenschindens beherrschen den Großteil unseres Lebens.

Obgleich wir die meisten unserer Sach-Imperative verwerfen, müssen wir tun, was sie verlangen. Niemand befiehlt uns – nur die Sache. Niemand beherrscht uns – nur die Struktur.

Verweigern wir uns der Sache, wird sie uns kühl entsorgen. Verweigern wir uns der Struktur, wird sie uns still und unpersönlich beiseite räumen.

Jahrtausendelang hat unser Glaube Berge versetzt, nun werden wir von den Bergen versetzt. Der Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat. Nicht mehr durch kraftloses Wort, sondern durch Sache gewordenes Dogma.

Das Wort ward Fleisch, Ding, Geld, Macht und Gewalt. Und siehe, die Welt hat‘s begriffen. Die Welt ist zum sachlichen Glauben geworden.

Der Messias muss nicht mehr kommen, als Sache hat er sich längst eingeschlichen. Und wir dienen ihm, im Glauben, unserer Sache zu dienen.