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Donnerstag, 22. November 2012 – Carl Schmitt

Hello, Freunde der Hölle,

Anne Will debattierte in ihrer Runde, ob es ein Leben nach dem Tode gibt. Sind Nahtoderfahrungen ein Beweis für die Richtigkeit der christlichen Religion?

Doch das eigentliche Thema des christlichen Dogmas, die Weltbeherrschungsabsicht, blieb verborgen.

Das Christentum ist nicht irgendeine Religion, sondern eine rabiate Politik hinter der Maske einer Religion. Ihre Glaubensinhalte verwandelt sie in imperiales Tun. Sage mir, was du glaubst und ich sage dir, welche Politik du betreibst.

Erstaunlicherweise kam auch die Hölle zur Sprache, die sonst unter der Decke gehalten wird. Rund ein Drittel der EuropäerInnen glaubt an eine Hölle, in Deutschland sind es 15%.

Solange die Hölle eine private Veranstaltung wäre, könnte man die Sache auf sich beruhen lassen und die Qualen der Selbstpeiniger bedauern. Doch Höllen haben die unangenehme Eigenschaft, sich nicht auf das Revier ihrer Gläubigen zu beschränken. Ihre liebsten Happen scheinen diejenigen zu sein, die nicht an sie glauben.

Höllen gibt es in vielen Religionen, in den meisten sind sie nur vorübergehende Nacherziehungsanstalten mit zeitlich begrenzten Strafen. Nur in den Erlösungsreligionen sind sie unendlich, haben sich von pädagogischen Zwecken befreit und sind zum Selbstzweck geworden.

Aufgeklärt sein wollende Kirchen schämen sich ihrer, nicht aber die katholische Großkirche und die biblizistischen Sekten. Benedikt hat nach einer Phase der Deeskalierung die alte Hölle wieder aus dem Sack gelassen, ein sicheres Zeichen, dass der Papismus wieder an Macht gewachsen ist und sich

von dem modernen Süßholzraspeln (nein, es gebe keine Hölle, das müsse man als Bild für das Maß der Gottesentfernung halten) nicht länger beeindrucken lassen will.

Kirchenvater Origenes konnte Hölle mit einem liebenden Gott nicht vereinbaren, weshalb er an die finale Erlösung aller Menschen glaubte. Die Bösewichter mussten nur ein zeitlich limitiertes Straflager absolvieren, dann kam das endgültige happy End. Doch damit hatte er zuviel Liebe für die verdorbene Menschheit bewiesen, weshalb er selbst mit der ewigen Hölle bedroht wurde. „Wenn einer sagt oder meint, die Bestrafung der Dämonen und der gottlosen Menschen sei zeitlich und werde zu irgendeiner Zeit ein Ende haben, der sei ausgeschlossen.“

Auch die Evangelen wollen nicht als droh- und strafvergessene Weicheier gelten und formulieren Sätze wie Donnerhall: Auch wird gelehrt, dass unser Herr Jesus Christus am jüngsten Tage kommen wird, zu richten, und alle Toten auferwecken, den Gläubigen und Auserwählten ewiges Leben und ewige Freude geben, die gottlosen Menschen aber und die Teufel in die Hölle und ewige Strafe verdammen. Derhalben werden die Wiedertäufer verworfen, so lehren, dass die Teufel und verdammten Menschen nicht ewige Pein und Qual haben werden.

Papst Benedikt lässt immer mehr die fundamentalistische Katze aus dem Sack und hat die gute alte Hölle diplomatisch rehabilitiert.

Wie kann man die Entstehung von Höllen erklären? Welches Bedürfnis der Menschen hat sie geschaffen? Zweifellos der verletzte Gerechtigkeitssinn der Menschen, der es aufgegeben hat, auf Erden für gleiche Verhältnisse zu sorgen und auf jenseitige Rache- und Vergeltungsphantasien ausweichen muss. Je schrecklicher die erfundenen Jenseitsqualen, je ungerechter müssen die Höllenerfinder die irdischen Verhältnisse erfahren haben.

Religionen sind Kompensationsleistungen all jener, deren Bedürfnisse nach Akzeptanz mit Füßen getreten wurden. Man macht es sich zu leicht, sie als willkürliche Wahnsysteme oder lächerliche Produkte der Dummheit zu betrachten, wie Atheisten zu höhnen pflegen.

Wer den Menschen verstehen will, kann auf die Analyse der Religionen nicht verzichten. Was die Einzelneurose über das Individuum verrät, verraten Massenneurosen über die Kollektivseele von Kulturen.

Gegen die Höllenbesessenheit ihres Papa Christianorum hört man von katholischen Laien so gut wie keine Kritik.

Bei Anne Will saß ein protestantischer Theologe bärbeißig-lutherischen Angesichts, der markig verkündete, der Kirche sofort Ade zu sagen, wenn sie das grauenhafte Ammenmärchen von der Hölle noch lehren sollte. An diesem Punkt haben‘s die Evangelen einfacher als der von Rom zentral regierte Katholizismus. Bei Luthers Nachfahren predigt jeder Hirte, was er will. Seine gesammelten Einfälle hält er für den letzten Schrei auf dem Markt der Deutungseitelkeiten.

Expastor Eggert wird der Kirche erhalten bleiben, denn dort ist die Hölle schon im Glaubensbekenntnis retuschiert. Aus dem Artikel niedergefahren zur Hölle, wurde bereits das zeitgeist-verträgliche: niedergefahren in das Reich des Todes.

Die Protestanten sind ein wahrheitsliebendes Völkchen. Wenn sie die Hölle in ihrem Credo verneinen, müssen sie nicht lügen: sie müssen nur neu übersetzen und interpretieren. Würde man ihre ständigen Neuinterpretationen als Lügen dechiffrieren, hätten sie als notorische Lügner schon längst in der Hölle, pardon im Reich des Todes angekommen sein müssen.

In der Dante‘schen Hölle gibt’s keine Lügner, sondern nur Heuchler, die in die achte Hölle fahren. Zusammen mit Verführern, Schmeichlern, Huren, Zauberern, Wahrsagern, Dieben, Räubern, falschen Ratgebern (oh weh, ihr fünf Wirtschaftsweisen), Häretikern und Zwietrachtstiftern (o weh, Luther und Calvin und alle Andersgläubige). Das hängt damit zusammen, dass im Dekalog kein klares Verbot des Lügens steht.

Im achten Gebot steht: Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten. Erst Luthers Kommentar hat das „falsche Zeugnis ablegen“ mit „Lügen“ identifiziert, damit kein cleverer Konfirmand auf die Idee kommt, im Namen Gottes nach Lust und Laune herumzuschwindeln. „Wir sollen Gott fürchten und lieben, dass wir unsern Nächsten nicht fälschlich belügen, verraten, afterreden oder bösen Leumund machen, sondern ihn entschuldigen, Gutes von ihm reden und alles zum besten kehren.“

Afterreden ist Ohrenblasen oder Splitterrichten. Alles klar? Ohrenblasen ist verleumden, Splitterrichten ist den Splitter im Auge des andern, nicht den Balken im eigenen sehen.

Von Kritik ist keine Rede bei Luther. Zum Nichtlügen gehört das Gebot, nur Gutes vom Nachbarn zu reden. Woran sich Merkel in ihrer Beziehung zu Israel auch tapfer hält.

In der lutherischen Auslegung der 10 Gebote kann man deutlich erkennen, wer den deutschen Sonderweg erfunden hat. Die Romantiker haben auf jenen nur zurückgegriffen. Es war Meister Martinus von Wittenberg, der alle Gebote nur auf den Nächsten bezog, getreu dem Wortlaut des Neuen Testaments, seinen Nächsten zu lieben wie sich selbst. Nicht seinen Fernsten, nicht die Menschheit, sondern den Volks-, Glaubens- und Blutgenossen soll man lieben. Das ist das Gegenteil einer universellen Ethik.

Der fromme Katholik Carl Schmitt verachtete die universelle Menschheit, er hatte sein Neues Testament genau gelesen: „Wer Menschheit sagt, will betrügen“. Es geht immer nur um den konkreten Nächsten, im Gegensatz zum abstrakten Fernsten, den man nicht gar lieben kann, weil man ihn gar nicht kennt.

Aus demselben Grunde wollen deutsche Denker des Konkreten auch keine abstrakten Steuern bezahlen. Mit kalten staatlichen Verteilungsmethoden könne man keine persönliche Liebe und Wertschätzung überbringen. Aus diesem Grund will Peter Sloterdijk seine Oboli per individueller Gnadengeste austeilen.

Wenn das Liebesobjekt konkret bekannt sein muss, kann es keine globale Menschheitsliebe geben. Weshalb die Menschheit sich auch nie zu einer sich achtenden, respektierenden oder liebenden Einheit zusammenfinden kann. Das könnte sie nur im Himmel und auch da könnte sie es nicht, denn dorthin kommen nur die Erwählten.

Lazarus ist im Himmel, der Reiche in der Hölle. Keine Feindesliebe des Lazarus wird den gottverfluchten Reichen in den Himmel bringen. „Kind, gedenke daran, dass du in deinem Leben dein Gutes empfangen hast und Lazarus gleichermaßen das Böse; jetzt dagegen wird er hier getröstet, du aber leidest Pein.“

Gottes Liebesangebot ist begrenzt und reicht nur für die Frommen. Die Verdammten in der Hölle kann und soll man nicht lieben. Das Gebot „Liebet eure Feinde“ bedeutet mitnichten, dass man sie durch Liebe in den Himmel bringen könne. Das kann nicht mal Gott.

Hier sehen wir die religiösen Ursprünge der partikularen Moral, dem genauen Gegenteil einer universellen Moral. Hans Küng ist ein charmanter Traumtänzer, wenn er mit einer partikularen Christenmoral ein universelles Weltethos basteln will. Die Scheidung der Menschen in Gute und Böse wird ewige Folgen haben.

Liebet eure Feinde heißt auch nicht, verwandelt durch Liebe eure Feinde in Freunde. Gläubige haben keine Freunde. Der beste Freund kann ein Verworfener sein und in die Hölle wandern. Selbst die ganze Familie erhält kein Kollektivbillet ins Reich, wo Milch und Honig fließen. Alle Familien und Nestgemeinschaften werden zerrissen, im Himmel gibt’s nur Singles, die auf ihre Liebsten verzichten müssen.

Wohl hat das Evangelium den nationalen Sonderweg der Juden verschmäht, indem Paulus zum Missionar der Völker wurde. Doch das war nur ein Scheinuniversalismus. Die Botschaft erging jetzt an alle, doch nur zum Schein, denn Gott hatte die Seinen bereits vor Erschaffung der Welt ausgewählt.

Mit anderen Worten, wenn wir wirklich an eine humane Menschheit glauben, müssen wir uns von der Liebe als expressivem Nah-Event abwenden und uns zur tätigen Empathie der Distanz weiterentwickeln. Es wäre Unsinn, von einem globalen Dorf zu sprechen, von einer Welt, die durch Internet zusammengeschrumpft ist, wenn wir nicht in der Lage wären, das Schicksal der weit entfernten Menschen ebenso nachzuempfinden wie die Situation unseres Nachbarn – der emotional oft weiter entfernt sein kann als das Opfer im syrischen Bürgerkrieg.

Die christlich temperierte Globalisierungsbewegung der Europäer ruht auf wackligen Sonder-Bevorzugungen unserer nationalen und europäischen MitbürgerInnen. Hier prallen universelle und partikulare Moral unversöhnlich aufeinander.

Christen brauchen Feinde, um ihnen glühende Kohlen aufs Haupt zu sammeln. Man liebt sie um Jesu, nicht um ihrer selber willen. Sie selbst bleiben uninteressant und sollen im Status der Feinde verharren. Einige Fromme haben schon ihre Angst geäußert, dass ihnen beim zunehmenden Menschheitsgefasel die Feinde ausgehen könnten.

Auch hier war der gläubige Katholik Carl Schmitt vorbildlich, der das Freund-Feind-Denken als notwendig und unersetzbar betrachtete. Feindschaft ist nach Schmitt „die seinsmäßige Negierung des andern Seins“. Ohne militärischen-politischen Kampf auf Tod und Leben kann das irdisch-sündige Dasein nicht auskommen. Zur Vereinigung der Volksfreunde wie zur Bestimmung der Feinde braucht man einen Führer, der den Seinen sagen muss, wem sie in Nächstenliebe die Kehle durchschneiden sollen.

Wenn Carl Schmitts Katholizismus sich in der NS-Ideologie wiedererkannte, kann sein Glaube mit dem Credo des Führers nicht unverträglich gewesen sein. Der scharfsinnig glühende Katholik hatte erkannt, was seine gläubigen Brüder bis heute leugnen: die Grundlagen der NS-Staatslehre waren nichts als verweltlichte, umgetaufte theologische Begriffe:

„Alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre sind säkularisierte theologische Begriffe. Nicht nur ihrer historischen Entwicklung nach, weil sie aus der Theologie auf die Staatslehre übertragen wurden, sondern auch in ihrer systematischen Struktur, deren Entwicklung notwendig ist für eine soziologische Betrachtung dieser Begriffe.“

Interessant, wie Schmitt das Gebot der Nächstenliebe deutet, um nicht einer pazifistischen Feigheit anheim zu fallen. Man müsse zwischen privatem und öffentlichem Feind unterscheiden. Der private Feind müsse geliebt, der öffentliche vernichtet werden.

Für Schmitt war der Mensch von Natur aus böse, riskant und gefährlich. Weil er nie gut werden kann, muss es unausweichlich zu Feindschaften kommen. Politik ist der Bereich, wo zwischen Freund und Feind unterschieden werden müsse. Letztlich läuft‘s in der Weltpolitik darauf hinaus, den Kampf zwischen den Guten und den Bösen apokalyptisch auszufechten.

Das war auch die Grundüberzeugung des missionarischen Dabbelju-Imperialismus. In der Tat waren die neokonservativen Gedankengeber der Bush-Junior-Politik Schüler des Leo Strauss, der wiederum ein gelehriger Schüler von Schmitt war. Hier sehen wir die unterirdischen Parallelen zwischen einem NS-Chefdenker und der biblizistischen Außenpolitik des demokratischen Amerika, die von allen deutschen Medien mit Schweigen bedeckt wurden.

Bedenkt man den außerordentlichen Einfluss des Carl Schmitt auf die gesamte intellektuelle Nachkriegsepoche in der BRD, kommt man um die Schlussfolgerung nicht herum, dass der bedrohliche Rechtsextremismus nicht von den Rändern in die Mitte der Gesellschaft einsickerte. Es ist umgekehrt: die Mitte der Gesellschaft hat sich nie von den Sirenenklängen eines verführerischen NS-Denkers gelöst und in unendlich vielen Kanälen, von der Politik über Geschichte bis ins Rechtsdenken, die heutigen Eliten beeinflusst.

Der Rechtsextremismus ist unbearbeitetes Erbe der NS-Ideologie, das aus der Mitte der Gesellschaft an die Peripherie der Gesellschaft schwappt. Die Auseinandersetzung um Carl Schmitt – Münkler hält ihn bewundernd für einen Klassiker des soziologischen Denkens – fand in abgeschotteten Uni-Zirkeln statt. Vieles haben die Medien übernommen, ohne über die Herkunft ihrer vernunftfeindlichen Ideen Rechenschaft abzulegen.

Der Nürnberger Chef-Ankläger Kempner konnte Schmitt nicht wegen konkreter Taten anklagen. Schmitt war nur ein „intellektueller Abenteurer“, wie er sich selbst bezeichnete. Als Kempner ihn fragte: „Wenn aber das, was Sie Erkenntnissuche nennen, in der Ermordung von Millionen von Menschen endet?“ antwortete er, ohne mit der Wimper zu zucken: „Das Christentum hat auch in der Ermordung von Millionen von Menschen geendet. Das weiß man nicht, wenn man es nicht selbst erfahren hat.“

Wie Heidegger hat er nie ein Wort des Bedauerns oder gar der Reue über den Holocaust gefunden. Seinen Antisemitismus legte er auch nach dem Krieg nicht ab. 1947 schrieb er: „Denn Juden bleiben immer Juden. Während der Kommunist sich bessern und ändern kann. Das hat nichts mit nordischer Rasse zu tun. Gerade der assimilierte Jude ist der wahre Feind. Es hat keinen Zweck, die Parole der Weisen von Zion als falsch zu beweisen.“

Carl Schmitt ist ein herausragendes Bespiel für einen christlichen Denker, der im Nationalsozialismus die wirksamste Umsetzung seines Credos in politische Realität sah.

Von Anfang an war das Christentum nie unpolitisch gewesen. Schon das Kind in der Krippe war der zukünftige wahre Herrscher der Welt, der die römischen Kaiser zuschanden machen würde. „Ich bin nicht gekommen, Frieden auf Erden zu bringen, sondern das Schwert.“

Das tolerant scheinende Wort: Gebet dem Kaiser, was des Kaisers, Gott aber, was Gottes, diente nur einem taktischen Stillhalteabkommen. Würde Jesus als Messias wiederkehren, wird er Pantokrator (Allherrscher) des Universums werden und die ganze Erde seinen Füßen untertan machen. „Über jede Gewalt und Macht und Kraft und Hoheit und jeden Namen, der genannt wird nicht allein in dieser Welt, sondern auch in der zukünftigen. Und alles hat er seinen Füßen unterworfen.“

Der Satz „Mein Reich ist nicht von dieser Welt“ bedeutet nicht – wie Peter Scholl-Latour immer behauptet – eine Absage an die Macht über die Welt. Die Legitimation seiner Macht ist nicht von dieser Welt, also vom teuflischen Herrn dieser Welt, sondern direkt vom Vater.

Völliger Unfug, ab Konstantin den Sündenfall der Kirche in eine pervertierte Machtanstalt zu sehen. Die Kirche war von Anfang an ein politisches Machtgebilde, das sich streng an die jesuanische Erfolgsformel hielt: Die Letzten werden die Ersten sein, Gott ist in den Schwachen mächtig.

Christliche Religion ist keine folgenlose Erbauung für private Gemüter. Sie ist Welteroberungspolitik im Namen des Allmächtigen.

All diese Kernpunkte hat Anne Wills Talkrunde, die gestern über das Wesen des christlichen Dogmas debattierte, verfehlt. Die Teilnehmer besprachen das Christentum als beliebige Religion unter Religionen. Doch Religionen an sich gibt es nicht. Naturreligionen dienen der Verherrlichung der Natur, Erlösungsreligionen dem gegenteiligen Zweck.

Das Politische wurde von den Gesprächsteilnehmern stets als Missbrauch des Religiösen gedeutet, doch im Christentum ist die apolitische Privatisierung eine Sünde wider den Geist. Christentum ist die Summe aller Sätze des Alten und Neuen Testaments, wie sie sich politisch in der Geschichte des Abendlandes konkretisierten.

Subjektive Definitionen des Christentums sind humanisierende Fortschreibungen inhumaner biblischer Thesen und unverträglich mit dem klaren Wortsinn der Schrift.

Im Grunde gab es gestern Abend keinen einzigen Christen in der Runde. Selbst die Frömmsten wetteiferten miteinander, die Inhalte der Schrift in humane Sätze zu transformieren.

Christen sind nicht diejenigen, die sich selbst so nennen, sondern diejenigen, die sich an den klaren Sinn der Schriften halten und ihn in politische Taten umsetzen.

Die meisten Christen stehen schon längst nicht mehr auf dem Boden der Schrift. Moralisch haben sie die Droh- und Höllenbotschaften der Bibel hinter sich gelassen. Nur Gefühle ängstlicher Pietät hindern sie daran, den Titel „Christen“ wegzuwerfen.

Im Denken der meisten Menschen ist die Macht der Religion gebrochen, der Abgrund zwischen ihrem Denken und den Aussagen der Schrift bleibt ihnen jedoch verborgen. Zwischen Selbstbenennung und mentaler Wirklichkeit herrscht eine große Kluft, die von den Menschen schmerzlich gespürt, aber noch nicht durchschaut werden kann.

In völliger Dunkelheit liegen die christogenen Strukturen unserer technischen, ökonomischen und politischen Welt. Die Moderne vollstreckt die eschatologische Erfüllung christlicher Verheißungen durch Schaffung eines Garten Edens für Erwählte und eines höllischer Zustands für Verworfene. Die alte, verworfene Natur muss peu a peu vernichtet werden, um einem neuen Himmel und einer neuen Erde Platz zu schaffen.

Ein Drittel aller Europäer glaubt an die Existenz der Hölle, zwei Drittel aller Amerikaner glauben an die Wiederkunft des Herrn zu ihren Lebzeiten. Eine gewaltige Menge an christlichen Motivationen, die zur Gestaltung der Politik im Geist der Endzeit drängen.

Wie absurd und in sich zerrissen das Verhältnis der Christen zu ihrer Geschichte ist, zeigt die Selbstbezeichnung Carl Schmitts als „Aufhalter des Antichristen“. Christen müssen das Böse bekämpfen und es gleichzeitig willkommen heißen. Denn bevor Christus kommen kann, muss der böse Antichrist erschienen sein.

Um die Ankunft des Herrn zu ermöglichen, muss der Gläubige seinen satanischen Widersacher unterstützen. Um gut zu sein, muss der Fromme böse werden.

Hier trifft Hölderlins Analyse zu: wer auf Erden den Himmel einrichten will, muss die Hölle schaffen.