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Donnerstag, 18. Oktober 2012 – Abenteuer

Hello, Freunde des Gottesringens,

Beatrice von Weizsäcker hat die Disziplin des Gottesringens nicht erfunden, aber sie ist süchtig danach, sie wird immer mit ihrem Gott ringen. Normale Männer sind ihr keine Gegner mehr, über ordinäres Wrestling ist sie hinaus. Gottesringen ist die oberste Liga des Ringens derer, die ihren Glauben durch Zweifel am Glauben bestätigen müssen. Ich zweifle, um zu glauben. Deshalb hat Gott den Zweifel auch erschaffen, dass er dem Glauben diene.

Zweifeln ist anstrengend, doch nur das Anstrengende ist Lebenselixier für den unterforderten modernen Menschen. In die Steilwand gehen, aus dem Himmel durch die Schallmauer auf die Erde springen, die eigenen Grenzen erkunden, sie überschreiten: das sind kleinere Ableger des Gottesringens.

Das normale Leben bietet keine Herausforderungen für den ehrgeizigen Menschen mehr. Hat jemand alles erreicht im Leben, Penthaus, Kind, Frau und ein zusammenklappbares Fahrrad für das Ökoauto, kommt unversehens des Nachts die Frage über ihn: soll das alles gewesen sein? Bin ich verdammt zur präsenilen Zufriedenheit, zu unerträglichem Glück, zu einem undymanischen Biedermeier- und Spießerdasein, das nicht mehr sucht, sondern glaubt, gefunden zu haben?

Der Mensch will nur arkadisches Schäferglück, doch Gott weiß es besser. Er reißt ihn los von teuflischen Sattheits-Versuchungen und fordert den Menschen auf,

  mit ihm zu ringen. Noch in der Nacht stand Jakob auf, nahm seine beiden Frauen und ging über die Furt. Den zwanzigsten Jänner ging Lenz durchs Gebirg. Da fingen die Stimmen wieder an:

„Lass in mir die heilgen Schmerzen,

Tiefe Bronnen ganz aufbrechen;

Leiden sei all mein Gewinst,

Leiden sei mein Gottesdienst.

Beatrice ist die Tochter eines nicht unbekannten Edelmanns, der in jungen Jahren Kirchentagspräsident war und öffentliche Predigten hielt. Und dann muss etwas geschehen sein, das kein STERN, kein SPIEGEL aufgriff, ja, noch nicht mal wahrgenommen hat. Richard versank im Schweigen, wurde religiöser Mutist. Hatte auch er das Gottesringen herausgefordert und – undenkbar – den Kampf verloren? War er weniger tüchtig als Jakob, der mit Gott und Menschen gestritten und obsiegt hatte? Ein Mensch hatte Gott im Ringen besiegt! Er war nicht nur Gott gleich, er war ihm und allen Menschen überlegen! Ein größerer Triumph im Universum war nicht denkbar.

Kann Beatrice mit diesem Vater über ihren Glauben reden? „Wir sind eine sehr diskrete Familie. Solche Fragen stellen wir einander nicht. Wir sind offen immer füreinander da. Aber indiskret nachbohren? Das kam bei uns nie vor. Mit meinem Vater spreche ich über politische und kirchliche Dinge. Ob er aber gläubig ist, weiß ich nicht.“

Wo sind noch Literaten, die dicke Bücher über ein solches Familiendrama schreiben können? Wenn nicht mal in höchsten Kreisen die vertrautesten Menschen mehr über das Wichtigste im Leben reden: über die ewige Seligkeit, was wundern wir uns über den Fluch der Menschen auf der Straße, die sich keine Fragen mehr stellen?

Ist es nicht gotteslästerliche Tat, einer Tochter aus ranghöchster evangelischer Dynastie die Frage zu stellen: „Sind Sie in einem gläubigen Elternhaus aufgewachsen?“ Noch seltsamer die Antwort, dass der Ritus anfänglicher Kindergebete von der Mutter abgestellt wurde, weil sie „den Eindruck gewann, das würde die Kinder stören“. Tun sich hier Abgründe auf zwischen Vater und Mutter?

Wer dieses Familienrätsel versteht, für den kann Deutschland kein Rätsel mehr sein. Sie sind offen zueinander, aber sie halten es für indiskret, über Glaubensfragen zu sprechen. Getreu der Maxime: „Wes das Herz voll ist, des läuft der Mund über“. Diese Familie wird dem Staat, gleich welcher Art, noch viele tüchtige Diener schenken.

(Interview von Felix Brumm mit Beatrice von Weizsäcker in der FR)

Sind Deutsche geborene Abenteurer? Dann könnten sie sich in ihrer alltäglichen Haut nicht wohl fühlen. Was sie auch nicht tun. Sie sind Gottsucher und also Gottes Hasardeure. Das Wort kommt von Adventura, Advent, die Ankunft des Herrn. Wer dem Herrn entgegengeht, erlebt Ungeheures und ist ein Wagehals. Mit Göttern und Teufeln muss er ringen, um die Straße grade zu machen für die Ankunft des Herrn.

Wenn sie im brasilianischen Urwald die Indios verjagen und mitten in den Dschungel die schnurgrade Landebahn für die Flugzeuge der Missionare und Holzhändler schlagen, bereiten sie ihrem Herrn den Weg.

Abenteurer sind Gottessucher. Wer hinterm Ofen bleibt, misstraut der Zusage des Herrn, den Frommen durch alle Versuchungen und Gefahren wie auf Fittichen zu geleiten. Spießer erlauben sich die hybride Frechheit, befriedet zu sein.

Zu Unrecht werden Deutsche als Heimatverwurzelte beschrieben, die es nicht in die weite Welt triebe, um Romane und Abenteuer zu bestehen. Sind die besten Deutschen nicht nach Osten, in den Südosten, in den Westen gegangen, um die russische und amerikanische Kultur auf Vordermann zu bringen? Was wäre Stalin ohne Hitlerpakt, Gorbi ohne Kohl, Putin ohne Schröder, Reagan ohne die deutsche Mauer, Ohio ohne Lutheraner, Kissinger ohne den Fürther Fußballverein? Wurde die Welt, nach einem Bestseller, nicht von zwei Deutschen vermessen? War der Vater der amerikanischen Weltraumfahrt nicht ein ganz besonderer Deutscher?

Heimat ist etwas, was die Deutschen verlassen mussten:

Nun ade, du mein lieb Heimatland,

es geht nun fort zum fremden Strand,

Gott weiß, zu dir steht stets mein Sinn,

Doch jetzt zur Ferne ziehts mich hin,

Bist traurig, dass ich wandern muss,

Da grüß ich dich zum letzten Mal.

Wer hier nicht heult, heult nimmermehr, wie das arme Germanien von den Besten verlassen wurde, denen Profit und schnödes Glück in der Ferne wichtiger waren als an der Mühle oder unterm Lindenbaum mit der Liebsten zu sitzen, welche er rücksichtslos verlassen wird, um in New York das Waldorf Astoria zu eröffnen. Da würde die bezopfte Wirtstochter aus der deutschen Provinz nicht hineinpassen.

„Es ist bestimmt in Gottes Rat,

Dass man vom Liebsten, was man hat,

muss scheiden, muss scheiden.“

„Muss i denn, muss i denn, zum Städtele hinaus,

und du mein Schatz, bleibst hier.“

Man klagt heute über die hohe Single-Quote, als sei das ein dekadentes Phänomen der Neuzeit. Dabei war die Liebste schon immer ein Klotz am Bein und eine Karriereblockade, die man mit süßlichen Liedern abspeisen musste, um sie loszuwerden.

Doch Liebchen war auch nicht von schlechten Eltern:

„In einem kühlen Grunde, Da geht ein Mühlenrad

Mein Liebchen ist verschwunden, das dort gewohnet hat,

Sie hat mir Treu versprochen, sie hat die Treu gebrochen,

Hör ich das Mühlrad gehen, Ich weiß nicht, was ich will,

Ich möchte am liebsten sterben, da wärs auf einmal still.“

(von den Comedian Harmonists göttlich gesungen)

Ich weiß nicht, was ich will, ich möchte am liebsten sterben, da wärs auf einmal still: die apathisch-ruhelose, todessehnsüchtige Utopie der Deutschen, die noch immer in irgendeiner Weise die Welt erobern müssen, weil sie auf Erden noch nicht angekommen sind. Da ist die wahre Heimat, wo es keinen höllischen Lärm mehr gibt. Es ist die Heimat im Himmel, schon jetzt in irdischen Tagen vorweggenommen. Die frommen Pietisten sind die Stillen im Lande, die sich aus der bösen lärmenden Welt in den stillen Winkel zurückziehen.

Politik ist Sache der Eitlen und Dreisten, von denen sich gläubige Untertanen fernhalten und sich den von Gott gegebenen Obrigkeiten beugen müssen. Freche Gottlose reden unfreundlich über die „Stillen im Lande“, wie schon der Psalmist zu melden hatte. (Ps 35,20)

Goethe überträgt die göttliche Stille auf die Natur, für Fromme eine ruchlose Tat, die irdische Natur zu vergöttlichen. Der Dom auf dem Marktplatz verwandelt sich in den Dom der Bäume, zur Kathedrale derer, die den Gott im Walde suchen.

„Über allen Gipfeln ist Ruh,

In allen Wipfeln spürest du kaum einen Hauch;

Die Vöglein schweigen im Walde.

Warte nur, balde ruhest du auch.“

Warum schweigen die Vöglein? Sind selbst Naturlaute störende Elemente, wie heute Kinderlärm für kinderfeindliche Pinkel im Szenecafe? Warte nur, balde ruhest du auch, klingt wie eine Drohung vor dem Sensenmann. Der Tod ist keine Heimkehr in die Natur wie bei den Griechen, sondern die Wartezeit bis zum Jüngsten Gericht.

Vöglein und alle Tiere schwiegen für lange Zeit auf jenen Südseeinseln, auf denen die ersten Atombomben explodierten. Ruhe wird zur Friedhofsruhe. Auf die Untertanenpolitik übertragen: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht. Noch heute ist es ein Höllensturm, ein shitstorm, wenn der Plebs seine Stimme erhebt.

Eliten sind immer forciert gelassen und artikulieren wohltemperiert. Mutter Merkel ist alternativlos, weil sie die Kunst der Besonnenheit, ja der Abgeklärtheit meisterlich demonstriert.

Ihr Gegenspieler ist ein Radaumacher mit großen Sprüchen und Beinfreiheit, um besser um sich zu treten. Es ist das einzige Proletenhafte, was er bei jenen zur Schau trägt, die ihn für seinen rauen Charme beim aalglatten Dozieren über alles, was gut und teuer ist, tüchtig bezahlen.

Wo es mir gut geht, da ist meine Heimat. Was nicht bedeutet, dass es mir und den Meinen in der Heimat gut geht. Die Flüchtlingsströme, die vor Steinigungen, Kalaschnikows und der Klimakatastrophe abhauen, werden und werden nicht geringer. Die Erde als Heimat schrumpft.

Gelingt es den Flüchtlingen, in ein sicheres Land zu kommen, stehen sie vor inneren Mauern, die man hier Residenzpflicht zu nennen pflegt.

Es gibt auch handfeste Mauern, die die Gutbetuchten um ihre mondänen Villen ziehen, damit sie nicht von Wohlstandverweigerern und Leistungsnihilisten belästigt werden.

Die Gutbetuchten haben Heimat überall auf der Welt, wo es am schönsten ist. Eine Wohnung auf Ibiza, in New York, in Paris und allmählich in Berlin.

Doch wo es ihnen am allerbesten geht, da ist die Heimat der Christen: im Jenseits. Auch dort gibt’s eine unübersteigbare Mauer für alle Vater-Leugner und Sohnes-Spötter. Das beginnt schon im Alten Testament beim allmählichen Übergang von der althebräischen Erdenheimat in den prächristlichen Himmel: „Ich bin ein Gast auf Erden“. (Ps. 119,19) Im Hebräerbrief die endgültige Absage ans Irdische: „Wir haben hier keine bleibende Stadt, die zukünftige aber suchen wir.“

Paul Gerhardt bringt den Gast auf Erden in Reime:

„Ich bin ein Gast auf Erden und hab hier keinen Stand;

Der Himmel soll mir werden, das ist mein Vaterland.“

Bernhard Schlink assoziiert Heimat mit Utopie, was bedeutet, der Mensch hat keine Heimat mehr, denn U-Topie ist ein Nicht-Ort. Deshalb bleibt die Sehnsucht nach Heimat ein bloßes Gefühl, eine Hoffnung im Exil. Seit der Mensch das Paradies leichtsinnigerweise verspielt hat, lebt der Mensch lebenslänglich im Exil (= in der Fremde).

Das ist das Lebensgefühl der christlichen Milliarden: sie leben in der Fremde, als Gäste auf Erden gerade geduldet. Das verbindet Christen mit Juden, die allerdings auf biblischen Boden ihre wahre Heimat gefunden haben, während die gesamte Politik des christlichen Westens sich redlich bemüht, sich in die himmlische Heimat hochzukatapultieren, indem sie hinter sich die Sintflut loslassen – oder die verbrannte Erde.

Wenn Hayek das „idealistische“ Utopisieren als totalitären Versuch brandmarkt, will er die wahre Heimat dem Jenseits vorbehalten. Der Mensch soll auf Erden nicht zu sich kommen. Es ist vermessen, das Privileg Gottes dem jämmerlichen Tun des Menschen auszuliefern.

Selbst der griechen- und erdenfreundliche Hölderlin konnte sich nicht entschließen, den Himmel des Menschen auf Erden zu entdecken: „Immer hat das den Staat zur Hölle gemacht, dass ihn der Mensch zu seinem Himmel machen wollte.“ Wohlgemerkt nur den Staat, die Natur erschien ihm göttlich. Doch wie kann der Mensch allein in der Natur überleben ohne eine gewisse Form der „staatlichen“ Vergemeinschaftung? Die Kluft zwischen Natur und zoon politicon war bei dem holden Schwaben unüberbrückbar.

Wer Abenteurer sein will, muss sein Leben zum Roman machen und die jenseitige Heimat im Irdischen suchen und vorwegnehmen. Was Amerikaner in ihrem göttlichen Land als konkrete Politik betrieben, versuchten die Deutschen im Raum des Romans, der Märchen und der Poesie. Auch die Romantiker waren Entdecker unbekannter Welten – in der Tiefe ihres Gemüts.

Was Amerikaner handfest in Geld und Macht materialisierten, erlebten die Romantiker in ihrer frei schweifenden Phantasie. Amerika, du hast es besser, du hast keine Burgen und Schlösser? Das konnte so nicht stehen bleiben. Goethes Nachfolger ließen Burgen und Schlösser als mittelalterliche Trutzburgen ihrer Heimatsuche wiederauferstehen. „Dies Romanhafte ist das wieder … zu einem wirklichen Gehalte gewordene Rittertum“, sagte Hegel. Und Ritter suchten und fanden den parsifalischen Gral, den heiligen Meteoriten, der direkt vom Himmel hernieder geflogen kam.

Abenteurer sind Sinnsucher und finden ihn nicht im Alltäglichen, Trivialen und Erdengebundenen. Für Hegel waren die Kreuzzüge Abenteuer, aber noch uneigentliche, die den Zweck ihrer Suche noch nicht gefunden hatten, sondern in vergangenen Mythen des christlichen Credos zu finden hofften, während er, Hegel, den Sinn der Suche mit der Erde versöhnt haben wollte. Das Ziel der Geschichte ist bereits erschienen: in Preußen, in Berlin.

Die mittelalterlichen Schwärmer hatten noch nicht das Diesseits erfasst und liebäugelten mit einer untergegangenen Phantasiewelt: „Die Kreuzzüge können wir das Gesamtabenteuer des christlichen Mittelalters nennen, ein Abenteuer, das in sich selbst gebrochen und phantastisch war, geistiger Art, doch ohne wahrhaften geistigen Zweck und in Beziehung auf Handlungen und Charaktere lügenhaft.“

Mit anderen Worten, der wahre geistige Zweck des abenteuernden Weltgeistes ist die Einwurzelung in dieser Erde, nicht in einem lächerlich märchenhaften Illusionsraum, wie bei den Romantikern, die zwar keine realen Kreuzzüge unternahmen, aber sich immer noch nicht ins Konkrete, Politische und Weltliche einwurzeln und schicken wollten.

Hegels Synthese aus Griechentum und Christentum endete konkret: im Hier und Jetzt. Abenteuer beendet. Zu Hause angekommen. Doch leider nur – im Denken.

Das war Marx zu wenig, er wollte wirklich und wahrhaftig konkret ankommen und das war materiell. Doch die materielle Realisierung der totalen Synthese aller menschlichen Wünsche und Sehnsüchte musste er wieder auf den Sankt Nimmerleinstag verschieben, die Realität der Ausgeschlossenen und Ausgebeuteten war zu schrecklich.

Das 1000-jährige Reich war der bisher letzte Versuch, die Adventura, die Wiederkehr des Herrn zu konkretisieren, durch finale Vernichtung des bösen Erzfeindes, der letzten Station vor Erreichen des chiliastischen Endreiches.

Seit dem – nicht ganz freiwilligen – Übergang der Deutschen in den amerikanischen Paradigmenraum haben sie ihre rote historische Linie aufgeben müssen, sind aber dafür eingetaucht in den nicht völlig fremden Geschichtsstrom des vorweggenommenen Garten Edens auf Erden, aufgebaut in Macht und Money.

Da sitzen sie nun zwischen Baum und Borke. Der Baum ist das ultimative Reich auf Erden, das ist ihnen wohlvertraut. Die Borke: aber mit Mammon und Coca Cola?

Auch Beatrice von Weizsäcker ist noch eine Abenteurerin von altdeutschem Schrot und Korn, indem sie sich auf ein lebenslanges Ringen mit ihrem Herrn und Heiland einlässt. Hegel würde sagen, das Ziel ihres Abenteuers ist noch gebrochen und phantastisch. In Wirklichkeit ringt sie mit ihrem konkreten Vater auf Erden, der sich durch Flucht in die Stummheit weigert, ein wahrer Vater zu sein. Er will nicht anerkennen, dass seine Tochter, mit dem überirdischen Vater ringend, den irdischen Vater zu erreichen sucht.