Kategorien
Tagesmail

Donnerstag, 16. Februar 2012 – Freundschaft und Kapitalismus

Hello, Freunde der Freundschaft,

man trifft sich, findet sich nett, stellt sich eine Frage – allerdings nicht mehr, sonst macht man sich verdächtig –, schon ist man befreundet. Ein Freund ist, wer einem nichts Böses will, vielleicht sogar nützt. Wer in New York mit einem wildfremden Menschen den Fahrstuhl benützt, hat oben einen Freund fürs Leben gewonnen.

So war’s bisher im oberflächlichen Amerika, so wird’s nun bei uns. Dank politischer Partys, dank Facebook. Im Netz kannst du Freunde haben, die du noch nie in natura gesehen hast.

In Deutschland hat man nur wenige Freunde. Freundschaft hält man für das Ergebnis mühseliger Arbeit oder das Glück seltener, kostbarer Seelenverwandtschaft bei langen Gesprächen und inniger Freude des Zusammenseins. Amerikanische Freundschaften wären bei uns kaum Kameraderien.

Das amerikanische System ist eine Mischung aus zu viel Hobbes und zu wenig Adam Smith. Der Kapitalismus kennt nur den Konkurrenten, der dem Konkurrenten ein Wolf ist. Ganz anders bei dem angeblichen Begründer des Kapitalismus, der seinen Aristoteles kannte und in seinem ersten Buch schrieb, echte Freundschaften können nur

unter tugendhaften Menschen bestehen, denn nur sie „können gegenseitig jenes völlige Vertrauen in das Verhalten und Benehmen des anderen empfinden, welches ihnen allezeit die Versicherung zu geben vermag, dass sie niemals den anderen beleidigen, noch von ihm beleidigt werden können.“ (Adam Smith: „Theorie der ethischen Gefühle“)

Doch wie steht’s mit Kritik unter Freunden? Für die einen ist jedes kritische Wörtchen Majestätsbeleidigung, für andere ist Freundschaft ohne Kritik unaufrichtiger Seelenbrei.

Der ganze Privatbereich ist zu einer einzigen Reaktionsbildung gegen das unaufhörliche Bewertet- und Eingestuftwerden des täglichen Lebens geworden. Den Zensuren und Rankings in allen Dimensionen (Wie küsst der Bätscheler? Wie war’s im Bett mit Bully Herbig? so oder so ähnlich klingen die Lieblingsfragen der BILD) entkommt niemand.

Also will man wenigstens in der allerheiligsten Privatnische immun und über allen Tadel erhaben sein. Während die öffentliche Seele unaufhörlich benotet, abgewertet und gedemütigt wird, will die wahre Seele die Tür verrammeln und sich für unfehlbar erklären.

Selbst die Psychotherapie wagt es nicht mehr, die „Peitsche knallen zu lassen“ und begnügt sich mit lauen Empfehlungen und Ratschlägen auf BRIGITTE-Niveau. Die Menschen sind gespalten in ökonomische Würstchen und privatistische Päpste.

Sokrates betrachtete seine unbestechliche Kritik an Mensch und Polis als notwendigen Freundschaftsdienst, denn ohne gegenseitige Überprüfung schliddere das Gemeinwesen in kollektiven Wahn, was man damals Unwahrheit nannte. „Ein unüberprüftes Leben ist nicht lebenswert.“

Nur gegenseitiges Prüfen, einst gemeinsames Wahrheitssuchen genannt, kann zur Reifung der Beteiligten beitragen, dem lernenden Wachsen in Weisheit.

Alles rote Karten für eine Gesellschaft, die Wahrheit und Weisheit für totalitarismusverdächtige Begriffe hält, weil sie objektive Kriterien subjektiv-unvergleichlichen Lebensentwürfen vorschreiben will.

Doch die grenzenlose Subjektivität hat spätestens ein Ende, wenn Raucher auf den Balkon müssen, weil sie anderen die Lebensqualität verderben. Oder wenn Krankenkassen aufgefordert werden, Dicke, Skifahrer und Extremsportler mehr zu belasten oder rauszuschmeißen, weil sie ihr gefährliches und ungesundes Verhalten auf Kosten der Gemeinschaft ausagieren.

Oder wenn eine Vierzehnjährige ihre Nachbarsfreundin verstümmelt, um rauszukriegen, wie sich das anfühlt. Oder wenn in England verwahrloste Jugendliche Geschäfte plündern, die neuesten TV-Geräte abschleppen und „ratlose“ Eltern, „entsetzte“ Politiker und unfassbar „bestürzte“ ZDF-Moderatoren die Frage stellen (mit diesem unnachahmlichen Tremolo in der Stimme): Was ist denn los mit unsrer Jugend? In welcher Gesellschaft leben wir denn „eigentlich“?

Womit sie sagen wollen, dass sie in einer ganz anderen Welt leben als dieser Unterschichtenabschaum und kein Verständnis aufbringen für vandalistische Beschädigungen – neuester Konsumprodukte und Wertschöpfungen.

Dieselbe Fragestellung in derselben existentiellen Aufgewühltheit bei Bankenzusammenbrüchen, Wirtschaftsverbrechen oder griechischen Länderbankrotten hört man vergeblich.

Plötzlich sind dieselben Beobachter vertraut mit dem machiavellistischen Bösen in der Welt, höhnen gar über jene, die in die andere Richtung fragen und sich als naive Gutmenschen und Idealisten entlarven: Was ist denn eigentlich los mit Ackermann, Greenspan, den Lebensmittelspekulanten? Was ist denn los mit einem System, das allen, wenn auch in sehr unterschiedlichen Quanten, Wohlstand bringen soll, aber täglich unzähligen Kindern das Leben kostet?

Jean Ziegler habe ich noch nie in den Tagesthemen gesehen. Komischerweise haben Vorgesetzte was dagegen, wenn ihre Abhängigen allzu oft die eingebildeten Kranken mimen. Und warum machen Frauen so selten Karriere? Weil sie sich noch immer den Luxus erlauben, schwanger zu werden, selbst wenn sie dabei „Humankapital“ produzieren, das dermaleinst die Rentensysteme im Umlaufverfahren finanzieren wird.

Wer gegen unverbrüchlich evolutionäre Gesetze des ökonomischen Systems seinen eigenen subjektiven Lebensentwurf zu stellen wagt, gilt als realitätsuntauglicher Narr, wenn nicht psychiatrieverdächtig.

Womit ich sagen will, die postmoderne Beliebigkeit darf sich dort breit machen, wo es um nix geht. Wo es um etwas geht, herrscht der Knüppel des geldwerten Erfolgs. Da ist alles wie in der Kirche dogmatisch festgezurrt und alles andere als beliebig oder unübersichtlich.

Und wo geht’s um nix? In jenem Bereich, den man Kultur zu nennen pflegt. Literatur, Kunst und das ganze Gedöns. Dort dürfen Freigeister sich in Beliebigkeit, Außerordentlichkeit und genialer Grenzenlosigkeit austoben, auf dass niemand auf die Idee komme, Kunst und Realität könnten sich gegenseitig bedingen und irgendwas miteinander zu tun haben.

Keine Buchrezension ohne Hinweis, der Autor habe keinen moralischen Zeigefinger erhoben und vorbildlich das Scheitern des Helden in leckeren Worten dargestellt. Das hören die Tycoons gern: keine Moral bitte und dauergescheiterte personelle Durchschnittsware, die garantiert nicht auf die Idee kommt, den Chef durchzuprügeln, wenn er wieder subkutane Giftspritzen gesetzt hat, um die nächste Gehaltsabstufung vorzubereiten.

Die sogenannte Hochkultur ist mitnichten der kritische Gegenpol zur bösen Wirtschaft, sie ist deren sich mimosenhaft gebender Begleitschutz, der dieselben knallharten Bandagen anlegt wie ihr materielles Alter Ego: wir wollen das Außerordentliche, das Grenzenüberschreitende, vor allem kein Mittelmaß.

So sprechen auch Clement, Münte und alle Personalchefs beim Bewerbungsgespräch: Wir wollen nur die Besten. Der Schriftsteller Matthias Polyticki reitet eine Philippika gegen den jämmerlichen Durchschnitt: Der „mündige“ Bürger sei nur eine Mediokrität, was auf Deutsch abgeschmackte, banale und austauschbare Mittelmäßigkeit bedeutet.

Da hilft nur, sich aufzurappeln und sich auf hohe Fahrt in die Welt zu begeben. Aber nicht, um fremde Menschen zu verstehen und kosmopolitische Gesinnung zu lernen, sondern um sich, in Abhebung zur standardisierten Weltläufigkeit, wieder in der – Heimat zu verankern. Das könnte man Dialektik deutscher Spießbürgerei nennen.

Wie die romantischen Helden das Leben ihrer Eltern im Werkeltag als unzumutbar empfanden und sich auf Wanderschaft begaben, um am Ende ihrer Tage dort zu landen, woher sie kamen, so heute die Literaten, die das uniforme Aldi-Leben verfluchen, doch kein Tüttelchen zu ändern gedenken, um am Ende ihres exzeptionellen Ausbruchs unverändert in der alten Spießerwelt untertauchen.

Diesen romantischen Geist haben die PR-Agenten der Wirtschaft längst auf ihre Mühlen geleitet. Jedes Produkt ist ein extravaganter Hauch aus der Ferne und Fremde, die seltene Blaue Blume, gerupft im Jenseits aller Begrenzungen, jede Akkordleistung ist der Versuch, dem nervtötenden Mittelmaß zu entkommen und aufzubrechen zu neuen Ufern der Rekorde und des – Profits.

Alles, was der Literat im Ausbrechen und Zurückkehren ins Heimische an unvergleichlicher Welterfahrung erhofft, verspricht die Werbeagentur Saatchi und Saatchi mit ihren „Love Marks“, einem Begriff, der gewissen Marken „regelrecht romantische Qualitäten“ zuspricht wie das „Geheimnis, die Sinnlichkeit und die Intimität“.

Diese Marken sind keine schnöden Konsumprodukte, sondern fähig, Sinn zu stiften. Das waren einmal die Hauptaufgaben von Religion und Philosophie. „Sogenannte Meaningful Brands, sinnstiftende Marken, begreifen diese Bedeutungen als eine neue Dimension der Maslowschen Bedürfnispyramide, die über die materiellen Notwendigkeiten und die Selbstverwirklichung hinausgeht“.

Ganz langsam jetzt. Das Ganze bedeutet, auch wenn jeder gesättigt ist bis obenhin, soll er weit über alles Materielle hinaus shoppen und kaufen. Denn es gibt noch übermaterielle Bedürfnisse, die man nur mit exquisiten Marken befriedigen kann. Man könnte den Ökonomen Stigler zitieren: „Was das mit Verstand begabte Individuum vor allem will, ist nicht die Befriedigung der Bedürfnisse, die es hatte, sondern mehr und bessere Bedürfnisse.“

Das Vaterunser um das tägliche Brot heißt heute: Und gib uns täglich unser neues Bedürfnis, dass wir nicht mittelmäßig bleiben, sondern ständig zu neuen Ufern aufbrechen und uns unvergleichlich vorkommen, obgleich jeder das Objekt seiner Bedürfnisse erwerben kann, indem er einen banalen Geldschein zückt.

So werden wir in unserer Mittelmäßigkeit grandioser und die Produktion des Außerordentlichen geht fließbandmäßig ins Unmäßige. Kunst und Ökonomie sind identisch geworden. Hab ich den neuen Bestseller gelesen, den alle Welt liest, hab ich alle Grenzen gesprengt und bin ein individuum ineffabile consumens geworden, das ist ein Fabeltier aus Löwe und Bettvorleger.

Was hat dieser sinnstiftende Unsinn mit Freundschaft zu tun? Er ist ein Beleg, dass Kapitalismus und Freundschaft inkompatibel sind.

Warum? Das höchste Maß der Freundschaft, sagt Aristoteles, der Meister der Freundschaft, gleiche der Liebe, die man zu sich selbst habe. Wer jetzt nicht an Agape denkt, die christliche Nächstenliebe, sollte sich sein Schulgeld zurückbezahlen lassen. Man sieht hier deutlich, wo clevere Urevangelisten abgeschrieben haben, um die heidnische Vorlage mit Hilfe des Heiligen Geistes himmelweit zu übertreffen.

Wie kann der Christ, der sich selbst nicht lieben darf, sondern sein sündiges Ego hassen muss, um sich für die Liebe Gottes zu präparieren, seinen Nächsten lieben wie sich selbst? Es ist ausgeschlossen. Wenn es wenigstens geheißen hätte: Liebe deinen Nächsten, wie Gott dich liebt, dann wäre es wenigstens logischer gewesen.

Die Voraussetzung einer echten Freundschaft ist, dass man sich liebt und selbst ein Freund wird. Das geht nur, wenn man seine lieblosen Eigenschaften wahrnimmt und durch lernendes Reifen und Weisewerden überwindet. Man könnte auch von Selbstbewusstsein sprechen.

Nur selbstbewusste Menschen können sich lieben und sind freundschaftsfähig. Wer sich liebt ohne Selbstbewusstsein, ist narzisstisch in sich verliebt, was das genaue Gegenteil zur reifen Selbstliebe ist.

Der Kapitalismus lebt davon, dass in seinem weltweiten Einflussbereich der kleinste Ansatz von Selbstbewusstsein ausgemerzt wird. Die Funktion des Satzes: wir wollen nur die Besten, besteht darin, jedem zu suggerieren, er kann so gut sein, wie er will – da draußen in der Welt gibt es immer noch andere, die besser sind als er.

Indem jeder zum mediokren, abgeschliffenen, ausgebrannten Din A 4-Malocher zugerichtet wird, sucht er den verlorenen Sinn seines Lebens in der Gegenwelt zum Ökonomischen, in der geschützten privaten Idylle oder in der Freundschaft.

Doch wessen Freund kann er sein, wenn er sich selbst nicht Freund sein kann? Hier sind Amerikaner den Deutschen weit voraus. Solche überdrehte und überkandidelte Freundschaften suchen sie schon lange nicht mehr. Längst wissen sie in ihrem postcalvinistischem Gemüt, dass es keine Freundschaften geben kann, wo jeder den andern verbellen und verbeißen muss.

Hier hinken die Deutschen dem Weltgeist hinterher und versuchen, wirtschaftliche Rivalität mit altdeutscher Seelenfreundschaft zu verbinden.

„Wem der große Wurf gelungen, eines Freundes Freund zu sein, wer ein holdes Weib errungen, mische seinen Jubel ein. Ja, wer auch nur eine Seele sein nennt auf dem Erdenrund, Und wers nie gekonnt, der stehle weinend sich aus diesem Bund …“

Seht ihr die freundesunfähigen Massen sich weinend aus dem Bund stehlen? Habt ihr kein Mitleid mit denen, die keinen einzigen Freund errungen, ihr holdes Weib als Überersatz für fehlende Freunde idolisieren und überfordern müssen (und vice versa)?

Natürlich seht ihr sie nicht – sie sind gar nicht zu sehen. Sie verstecken nämlich ihr Heulen und Zähneklappern, sie verbergen ihr mangelndes Selbstbewusstsein, indem sie arbeiten und konsumieren gehen. Indem sie einen Job und eine Mastercard besitzen, um sinnstiftende Marken einkaufen, glauben sie, selbstbewusste Leute zu sein.

Wie sagte der Neoliberale Ludwig von Mises? Mit Geld kann ich mir alles kaufen, auch menschliche Emotionen, ohne mich von jenen abhängig zu machen, von denen ich sie kaufe.

Selbst wenn sie freundschaftsfähig wären, könnten sie sich Freundschaften gar nicht leisten. Denn emotionale Bindungen sind klebrig und streben nach Dauer. Das aber ist Gift für allzeit bereite mobile und flexible, überall einsetzbare und verwendbare Atome der unentrinnbaren wirtschaftlichen Allgewalt.

Man sehe sich nur die Zahl der wachsenden Distanzbeziehungen an, die Zahl der zunehmenden Singles, die steigende Zahl der Scheidungen: alles gescheiterte Freundschaften, die keine sein durften.

Auch Politiker suchen nach haltbaren Freundschaften, fühlen sich magisch von jenen angezogen, die ihnen dieses Gefühl wenigstens für einen Partyabend lang vermitteln können. Wie ein gewisser Herr Schmidt, dem schlauen Gastgeber aller Promis der höchsten Etage.

Nur so kann man unseren kleinen freundschaftssuchenden Wulffi verstehen, der keinem betörenden Lockruf widerstehen konnte und sich ein Netzwerk voller Freunderl zulegte, ohne zu bemerken, dass er selber ausgenommen wurde: so hungrig war er nach Liebe und Anerkennung.

In Bruder Wulff können wir uns erkennen, wenn wir von großzügigen, verständnisvollen und warmherzigen Freunden träumen und, da sie nicht von den Bäumen fallen, uns in Kälte und Beziehungsunfähigkeit verbarrikadieren.

In diesem Moment triumphieren die Love Marks im nächsten Konsumtempel, denn nur Kalten und Beziehungslosen können sie minderwertige Ersatzwärme und Sinn-Illusionen vorgaukeln.

Der calvinistische Kapitalismus lebt vom Tod der Freundschaft. Wer Gott lieben muss, darf die Welt nicht lieben. Freundschaft mit der Welt ist Feindschaft zu Gott – wer will sich schon den Herrn der Hölle zum Feind machen? „Wisst ihr nicht, dass die Freundschaft mit der Welt Feindschaft wider Gott ist? Wer also Freund der Welt sein will, der erweist sich als Feind Gottes.“ (Das war die freundschaftstötende Antwort der Urevangelisten auf die griechische Preisung der Freundschaft. Der Herr der Heerscharen regiert die Welt, indem er teilt und herrscht. Teilen und Herrschen zerstört alle Freundschaft, denn Freundschaft verbindet die Menschen.

In sündiger Welt ist Freundschaft der teuflische Versuch, ohne Erlösung auszukommen.