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Donnerstag, 15. März 2012 – Kulturinfarkt

Hello, Freunde des neuen Präsidenten,

Deutschland in Naherwartung der pastoral-politischen Erweckungsrede zur nationalen Einigung und Versöhnung etcetera. Da kann einer zeigen, ob er was gelernt hat.

Ob er ein Herz hat für die Überflüssigen? Hat er natürlich: Einer trage des andern Last. Ob er Verständnis aufbringt für die Letzten? Tut er ganz gewiss: Die Letzten werden die Ersten sein. Ob er den Reichen ins Gewissen predigen wird? Wird er mit Sicherheit: Den Reichen gebiete, dass sie nicht hochmütig seien, noch ihre Hoffnung auf den unsichern Reichtum setzen.

Auf unsichern Reichtum setzen die ganz gewiss nicht, sondern auf krisenfeste Papiere und Schulden, die im Zweifel vom Staat bezahlt werden.

Ob er an die Schwachen denken wird? Denkt er bestimmt: Wir aber, die Starken sind verpflichtet, die Schwachheiten der Ungefestigten zu tragen und nicht uns selbst zu gefallen zu leben.

Er wird uns allen zu Gefallen reden. In Menschen- und in Engelszungen. Mit Liebe obenauf, dass er kein tönend Erz und keine klingende Schelle sei.

„Ich wünschte sehr der Menge zu behagen, Die Pfosten sind, die Bretter aufgeschlagen, Und jedermann erwartet sich ein Fest. Sie sitzen schon mit hohen Augenbraunen, Gelassen da und möchten

gern erstaunen, Ich weiß, wie man den Geist des Volks versöhnt. Wie machen wirs, dass alles frisch und neu, Und mit Bedeutung auch gefällig sei? Denn freilich mag ich gern die Menge sehen, Wenn sich der Strom nach unserer Bude drängt.“ (Goethe, Faust) Nana, Herr Direktor, der Bundestag ist doch keine Würstchenbude.

Da kommt dieser Albrecht Müller daher und hält den Kandidaten für die falsche Wahl, obgleich das Volk herzensmäßig schon abgestimmt hat.

Zur Finanzkrise und zu den unglaublichen Folgen der Finanzspekulationen habe der säkulare Seelenhirte sich nicht geäußert. Er beschönige die Lage und rede unentwegt von hohler Freiheit, er könne sich nicht in die Lage von Menschen versetzen, denen es nicht gut ginge.

Die Protestbewegung der Jungen habe er albern genannt. Die Entspannungsbemühungen der Brandt, Wehner & Co nenne er verächtlich Appeasementpolitik und beleidige damit die ganze frühere SPD, er kritisiere die Anerkennnung der Oder-Neiße-Linie.

Da müsse er noch allerhand lernen, wenn er der richtige Präsident aller Deutschen werden will.

Aber gewiss, derohalben haben die Verfassungsväter das Amt doch erst geschaffen: damit wenigstens der oberste Mensch der Deutschen aus der Geschichte lerne. Die Medien werden ihn jeden Tag abhören, ob er seine Lektion gelernt hat.

Wie unterschiedlich die Temperaturen. Der französische Citoyen Stephane Hessel ruft zur Empörung auf, der Ossipastor fordert die Deutschen auf, sich ihrer wohlgelungenen Nation zu erfreuen. Wenn nicht, hätten sie Freiheit gar nicht verdient. Bei Freiheit müsse man schon großherzig das Übergreifende sehen und nicht mit kleinkariertem Kritteln niedermachen.

 

Wie es die Unterschreiber des Aufrufs tun, die den neoliberalen Fiskalpakt anprangern, den bestimmte europäische Eliten mit aller Gewalt durchdrücken wollten, indem sie eine sozialfeindliche Sparpolitik verordneten, demokratische Selbstbestimmung unterminierten und rassistische Attacken gegen Länder wie Griechenland provozierten. Das sei der vorläufige Höhepunkt einer „autoritären Entwicklung“ in Europa.

Eine der Ursachen der Krise seien die deutschen Niedriglöhne, die den Wirtschaftsstandort Deutschland so mächtig gemacht hätten – auf Kosten anderer. Jetzt solle die Krise gemeistert werden, indem die Vermögen der Wenigen geschont und die Leiden der Vielen erhöht würden. Den Widerstand und die Solidarität der Griechen müsse man bewundern.

Die Krise sei nur die Spitze des Eisbergs. In Wahrheit ginge es um eine Strukturkrise des Kapitalismus. Zu viel Kapital flottiere frei herum auf der Suche nach Profit, doch die Profitraten seien niedrig.

Das Rettungsbündnis aber wolle nur das Weiter so! Die Verluste der Spekulanten sollen von der Bevölkerung bezahlt, die Profite erhöht werden: durch Lohn- und Rentenkürzungen, Abbau der sozialen Leistungen, Privatisierungen und schlecht bezahlte, unsichere Arbeitsplätze.

Solche Rettungsmaßnahmen zugunsten der Reichen und Starken könnten nur über die Köpfe der Demokraten hinweg durchgeführt werden. Etwa nach dem Vorbild des Pinochets-Putsches in Chile und anderer Schockstrategien im Namen des IWF.

Nichtgewählte Regierungen in Italien und Griechenland würden mit Gewalt die Spardiktate männlicher Klüngel durchsetzen, die in Brüssel beschlossen wurden. Angedrohte Strafzahlungen würden demokratische Entscheidungen in den maroden Ländern verhindern. Nicht unähnlich der Wirtschaftskrise in den 30ern kämen faschistische und chauvinistische Kräfte nach oben wie in Ungarn, Österreich und anderswo.

Widerspruch in einem Punkt: die Finanzkrise ist keine Krise im Sinne einer unvorhersehbaren, unerklärlichen Schwäche des Systems. Sie ist der gewollte und absichtlich herbeigeführte Kollaps, um absoluter Herr über die Schulden zu werden.

Nur wer die Weltschulden im Griff hat, die von den Völkern der Welt bezahlt werden, darf sich Master of Universe nennen. Man verdient, indem man die andern durch Geldverleih in Schulden bringt und das Risiko der Schulden durch staatliche Bürgschaften absichern lässt.

Das ist das Risiko der globalen Spieler, die nichts dem Risiko und Zufall überlassen. Am Ende muss es immer heißen: die nichts haben, denen wird noch genommen, was sie haben.

Das religiöse Spiel: Und vergib uns unsere Schuld, ist zum weltbeherrschenden Ökonomiespiel geworden. Gott lässt seine abhängigen Kreaturen auf Kredit leben, den sie lebenslänglich durch Unterwerfung und Anbetung zurückzahlen müssen.

Altes Testament > 1. Mose 8,21 /http://www.way2god.org/de/bibel/1_mose/8/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/1_mose/8/“>1.Mose 8,21) Das Schlagen wird vertagt, der Mensch erhält eine Chance, seine lebenslange Schuld durch Gehorsamsverhalten zu tilgen.

Schuldig ist immer, wer die unendliche Schuld zu tragen hat. Selbst der göttliche Vermittler und Schuldenberater, der sich anbietet, die Schuld auf sich zu nehmen, um die Schulden an den Himmel stellvertretend zu tilgen, erpresst sich damit die Liebe und Freundschaft der Schuldiger: „Ihr seid meine Freunde, wenn ihr tut, was ich euch gebiete.“ ( Neues Testament > Johannes 15,14 ff / http://www.way2god.org/de/bibel/johannes/15/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/johannes/15/“>Joh. 15,14 ff)

Das sind die besten Freundschaften, die auf Unterwerfung der Schwächeren beruhen. Damit niemand auf die Idee kommt, dieses Weisungsverhältnis ein Herr- und Knechtschaftsverhältnis zu nennen, fährt der Große Freund fort: „Ich nenne euch nicht mehr Knechte, denn der Knecht weiß nicht, was sein Herr tut; euch aber habe ich Freunde genannt, denn alles, was ich vom Vater gehört habe, das habe ich euch kundgetan.“

Wenn das keine Antwort auf Aristoteles ist, der Freundschaft nur unter Gleichberechtigten anerkennen kann.

Damit niemand daran zweifele, wer die Freundschaft gesucht hat, weil er sich von der Welt ungeliebt fühlt, sagt der Freundschaftsexperte: „Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt.“ Natürlich kann er nicht sagen: ich brauche eure Freundschaft, nicht ihr die meine, also bin ich abhängig von euch und eurem Wohlwollen.

Sondern die eigene Schwäche wird in Hoheit umgemünzt: Ich habe euch erwählt. Seid froh, dass ich euch meine Freundschaft aufgenötigt habe. Ab jetzt seid ihr von mir abhängig, in diesem und jenem Leben.

Solche Freundschaften auf Nötigungs- und Erpressungsbasis kennt man in Süditalien seit Jahrhunderten.

 

Deutschland ist eine Kulturnation, auf die Dichte ihrer Orchester, Theater, Bibliotheken und Museen sind wir stolz. Nur, wer ist wir? Alle können es nicht mehr sein.

Es drohe ein Kulturinfarkt, so der Buchtitel mehrerer Autoren, wenn im Bereich des Schönen und Wahren nicht schnell abgeholzt werde. Der ganze Kulturbetrieb sei zu teuer, zu kleinteilig, zu weltfremd und zu undemokratisch. Es gehe nur noch um den Erhalt eines selbstverliebten Systems.

Die Diagnose: Deutschland stehe vor dem Infarkt, von allem gebe es zuviel und nahezu überall das Gleiche. Schätzet, wie viele Museen wir allein haben. Nur schlappe 5000. 140 Stadt- und Staatstheater, 8500 öffentliche Bibliotheken und 1000 Musik- und Volkshochschulen.

Für all diese Kostbarkeiten bezahle die öffentliche Hand – ist das die deutsche Ausgabe der Unsichtbaren Hand? – neun Milliarden Euro pro Jahr.

Die Autoren beklagen die Orientierung des deutschen Kulturschaffens an Friedrich Schillers ästhetischer Erziehung, einem vordemokratisch-aristokratischen Konzept. Die Kulturzuständigen forderten immer mehr Geld, dabei ginge es lediglich um Macht. Der ganze Apparat sei unbeweglich und autoritär geworden und würde „gnadenlos ausgrenzen.“

Was tun? Hier hülfen nur drastische Einschnitte, um freigewordene Mittel in innovative Projekte zu stecken. Die Parole „Kultur für alle“ müsse fallen. Stattdessen mehr Individualität, Laienkultur und Subsidiarität (Hilfe zur Selbsthilfe).

Die kulturelle Selbstbeweihräucherung ist keine Kultur für alle, sondern das Feierabendvergnügen oberer Schichten, die sich als Schatzbewahrer der deutschen Kulturüberlegenheit über andere Nationen betrachten.

Wenn wir schon auf den Titel des Exportweltmeisters verzichten müssen, wollen wir wenigstens die meisten Musikhochschulen besitzen, auch wenn immer weniger deutsche Künstler die Weltspitze erklimmen.

Die Jugend will sich künstlerisch nicht plagen, um schneller Geld zu verdienen. So devot folgen sie den Direktiven ihrer Eltern, die es mit Macht in die Liste der wichtigsten Clans der Republik drängt.

Deutschland wird monochromatisch-ökonomisch. Die Markenzeichen der Dichter und Denker, der Bach und Beethoven, werden schon in den Schulen aussortiert. Kein Lehrer, der auf sich hält, will geniale Versager und Hungerleider produzieren, man will Arbeitsplatzbeschaffer und Umsatzmillionäre auf der Liste seiner Ehemaligen entdecken.

Wenn Kultur kein Bedürfnis ist, wird es keine Bürokratie schaffen, sie durch finanzielles Aufblähen oder Abspecken zu reanimieren.

Wenn bereits die Kinder mit Chinesisch, Ballett und Klavier genervt werden, kann es keine geistige Atmosphäre geben, die sich in ästhetischer Leidenschaft in irgendeiner Weise zu ent-äußern wagt.

Ab der Wiege ist das Leben verplant und nichts hasst der funkensprühende Geist mehr als private oder öffentliche Planwirtschaft.

Der Sozialismus ist angeblich überwunden, in Wirklichkeit ist er heimlich in den kapitalistischen Kulturbereich eingewandert, um uniformen Großverdienern das Gefühl zu verleihen, die besten Freunde der Kunst und Wissenschaft zu sein.

Marx ist nicht untergegangen, er hat sich subversiv durchgesetzt: das materielle Sein bestimmt uneingeschränkt den Geist und das Bewusstsein.

Der ferngelenkte Überbau hat die Botschaft vernommen und ist dabei, sich wegen Überflüssigkeit selbst zu demontieren. Bei solch diktatorischem Unterbau ist die beste Kultur diejenige, die sich aus dem Staube macht.

Wo kein Hunger herrscht, kommt niemand auf die Idee, ein Menu zu zaubern. Parlieren, Lesen, Denken, Singen, nächtelang Streiten, sich Zeit lassen: wenn unreglementierte Vitalität nicht mehr zugelassen wird – wird es niemanden mehr geben, der die Frage: was willst du später werden, Kind? in gebotener Arroganz beantworten wird: ich will Schiller, Brahms oder Nietzsche in den Schatten stellen. Niemand hat die drei Namen in der Schule je gehört.

Es kann kein Zufall sein, dass Jürgen Kaube von der FAZ im Fachbuchbereich dieselbe Ödnis entdeckt wie die Entdecker des Kulturinfarkts.

Es herrsche kein Zweifel, dass in den vergangenen Jahrzehnten die Frequenz des Vorbildlichen abgenommen habe. Früher habe es in wenigen Jahren Bücher von Foucault, Habermas, Derrida, Luhmann, Adorno gegeben. Heute blähe jeder Dozent seine magere Vorlesung zu einem Buch auf, das er in die Liste seiner Veröffentlichungen aufnehmen kann, auf eine Leserschaft könne er nicht mehr hoffen. Die Zeit der großen Erzählungen sei vorbei.

Wo liegt die Ursache? Kaube, der die Vergangenheit idealisiert, versteckt seine Antwort mitten im Text: Es gebe keine Diskussionen mehr. Auf Tagungen widerspreche man sich nicht. Es gebe keine Texte mehr, die sich ernsthaft einer Debatte stellten.

Der FAZ-Autor fragt nicht nach den Gründen der Geistesabwesenheit. Diskutieren kann man nur, wenn man in einer diskutierenden Familie, in einer dialogischen Schule aufgewachsen ist.

Für solche energieverschleudernden Formen des sozialen Lernens ist heute kein Platz mehr. Das aber trifft für Gazetten, die diesen Umstand beklagen, in gleichem Maße zu.

 

Arno Widmann hat die Ausstellung „Axel Springer und die Juden“ besucht. Die Aussöhnung mit Israel war dem Vater einer jüdischen Tochter ein Herzensanliegen.

Jeder Springer-Redakteur musste einen Vertrag unterschreiben, wonach er sich einsetzen würde für das „Herbeiführen einer Aussöhnung zwischen Juden und Deutschen; hierzu gehört auch die Unterstützung der Lebensrechte des israelischen Volkes.“

Bis heute wird diese Formel als blinde Gefolgschaft exekutiert und ihr Sinn ins Gegenteil verkehrt. Wer Israel unterstützen und fördern will, muss deutlich seine kritische Stimme erheben. Unter dem beherrschenden Einfluss der Springerpresse wurde Freundschaft in duckmäuserisch-vorauseilenden Gehorsam verwandelt und Kritik als feindselige Attacke diffamiert.

Zum Schluss eine vorzügliche Analyse des iranisch-israelischen Konflikts von David Grossman in der FAZ. Die Befürworter eines Militärschlags würden diesen mit dem Argument rechtfertigen, dass ein potentieller Albtraum verhindert werden soll.

„Aber hat irgendein Mensch das Recht, so viele Menschen zum Tode zu verurteilen, nur weil er Angst vor einer Situation hat, die vielleicht nie eintreten wird?“

Israel scheint in einer kollektiven Grundsatzkrise. Fast niemand glaubt an eine friedliche Koexistenz mit den arabischen Nachbarn.

Viele befürchten das Schlimmste und setzen sich in andere Länder ab. Vornehmlich junge Menschen bevorzugen ausgerechnet das Land der Täter und lassen sich in Berlin nieder. Etwa 10 000 Israelis würden in der quirligen Hauptstadt leben, schätzt die israelische Botschaft.

Quo vadis, Israel? Deine besten Freunde in Deutschland ignorieren deine Probleme, an denen du schwer zu tragen scheinst.

Das Volk der Juden, seit mehr als 2000 Jahren unter die Völker der Welt emigriert, um ihnen ein Licht zu sein, hat zunehmend Schwierigkeiten, an seine eigene Sesshaftigkeit zu glauben. Es verpanzert sich hinter der aggressiven Melancholie, die neidische Welt liebe es nicht, weil es der Liebling Jahwes sei.

Gleichwohl kann es nicht zugeben, dass es selbst unter dieser Ablehnung leidet. „Die Juden gehörten nicht zur Umwelt, in der sie leben, fühlten sich selbst als Fremde und würden auch so von ihrer Umwelt betrachtet. Das sei keine normale Existenz“, sagt der scharfe Kritiker Jeshajahu Leibowitz in dem Buch: „Gespräche über Gott und die Welt.“

Zwischen der Last der Auserwähltheit und der Sehnsucht nach Normalität ist das kollektive Innenleben des jungen Landes zerrissen. Die bedrückende Dominanz des Militärs, die emotionale Ablehnung der Welt strapaziert das nationale Nervenkostüm.

„Israel ist kein Staat, der eine Armee unterhält, es ist eine Armee, die einen Staat besitzt. Die Welt bringt heute dem Staat Israel keinerlei Achtung und Wertschätzung mehr entgegen, von aufrechter Sympathie erst gar nicht zu sprechen, wie es in den ersten Jahren nach der Staatsgründung in weiten Kreisen üblich war.“

Das sagte Leibowitz, der scharfsichtige Talmudist und enzyklopädische Gelehrte, bereits 1994. Sollte er Recht haben, ist es umso skandalöser, wie die deutsche Öffentlichkeit das angebliche Freundesland ignoriert und mit seinen schwerwiegenden Selbstzweifeln alleine lässt.