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Donnerstag, 14. Februar 2013 – Staunen und Zweifeln

Hello, Freunde der Kinder,

ist das die Möglichkeit? Wenn es den Eltern gut geht, geht’s auch den Kindern gut? Wie lange existiert das Menschengeschlecht schon, um durch eine wissenschaftliche Studie zu erfahren, was jeder Mensch weiß? Ob demnächst die Wissenschaft entdecken wird, dass der Mensch essen muss, wenn er nicht verhungern will? Da hab ich doch glatt die göttliche Pädagogik vergessen, die durch Züchtigen und Amputieren die Kinder in den Himmel bringen will. Glück durch Beschädigen. (Tagesschau)

Dummstellerfragen. Tabula rasa-Fragen. Journalistenfragen. Ich stell mich mal janz doof. Mit Tremolo in der Stimme und existentiellen Körperbewegungen werden im Fernsehen Urfragen gestellt, als seien sie noch nie gestellt worden.

Doch wie? Beginne ich nicht zu erkennen, wenn ich Selbstverständliches als fremd erlebe? Dann beginnt das Staunen. Ich trete von meinem Wissen zurück und entdecke mein Scheinwissen. Es war die Fähigkeit des Sokrates, Fragen nach Dingen zu stellen, die jeder zu wissen glaubte. Was ist Tugend? Was ist Wissen? Was ist Religion?

Sind Journalisten Meister des staunenden Fragens? Sind Wissenschaftler die Meister des staunen-beendenden Antwortens?

Sokrates gilt als Urlehrer der abendländischen Philosophie – und behauptete dennoch ein Leben lang, nie eine Wissenschaft gelehrt, nie eine Schule gegründet, nie jemandem etwas beigebracht zu haben. Zeitlebens blieb er der Nichtwissende. Stellte er sich naiv, um weise zu scheinen? War er ein Ursatyr der Postmoderne mit der Botschaft, Wahrheiten gebe es nicht? Und dafür ist er in den Tod gegangen?

Womit beginnt das Denken? Mit Staunen oder Zweifeln? Die Griechen

waren fürs Staunen, die Abendländer sei Augustin für den Zweifel. Hier trennen sich die Welten.

Descartes zweifelt an allem, an den Wahrnehmungen seiner Sinne, selbst an seinem Zweifeln. Erst wenn er den Zweifel bezweifelt, ist er sich sicher, dass er lebt. Was müssen die Christen für ungeheure Selbstzweifel gehabt haben, dass sie ihre eigene Existenz beargwöhnten?

Mit seinen grandiosen Zweifeln vernichtet der Franzose in Gedanken die Welt. Wir wissen, wie‘s weitergeht. Hat er mit seinen Zweifeln die Welt ruiniert und beinahe sich selbst, dreht er sich um die eigene Achse – und sitzt dem katholischen Gott wieder im Schoß.

Was war der Sinn der scheinradikalen Operation, des Alibizweifels? Die vernichtete Welt kann er aus seinem Ich neu erschaffen. Sein Ich hat sich als gottähnlich erwiesen. Chapeau, Magister Cartesius. Das war eine Weltvernichtungs- und Wiedergeburtsorgie der Extraklasse. Schon sind wir der deutsch-französischen Freundschaft auf der Spur.

(Nur nebenbei: wer hat neulich nach Mitternacht N 24 geguckt? Offensichtlich verstecken die Sender ihre besten Sendungen in tiefer tiefer Nacht, damit sie niemand sieht. Eine Doku zeigte den lässigen Einmarsch der deutschen Siegerrasse in Paris. Lauter körpergestählte Bubigesichter unter schnittigen Helmen, nein, als Bubis nicht mehr unschuldig und naiv genug, als Männer zu konturenlos. Doch sexy. Es gab – ausnahmsweise – strenge Befehle, dass die Sieger sich anständig zu benehmen hätten. Auf einem Plakat sah man einen freundlichen Arier, der sich um ein französisches Waisenkind bemühte. Vergewaltigungen – Standardlohn für Krieger – waren strengstens untersagt. Mit dem erwünschten Erfolg: es gab viele Liaisons zwischen deutschen Besatzern und französischen Frauen. Tränen flossen beim Abschied. Die vielen Bastarde hatten nach dem Krieg ein schweres Leben. Ebenso die Frauen, die sich als Huren den Kopf kahl rasieren mussten und zur Verhöhnung auf Lastwägen durch die Stadt gekarrt wurden. Die deutschen Jungburschen, in messianischer Coolness, gerade eben der Wandervogelbewegung entwachsen, lebten wie Gott in Frankreich, die Franzosen waren nicht unempfänglich für den Sex-Appeal der Macht. Ein verdrängtes Kapitel zur Frage, warum es bis heute in der sterilen Freundschaft zwischen beiden Ländern keine Wärme, Vertrautheit und Neugier gibt: an einem heiklen Punkt der Geschichte war die Freundschaft zu weit gegangen.)

Der Zweifel war auch für Hegel wichtiger als das griechische Staunen.

„Diese Verwirrung hat nun die Wirkung, zum Nachdenken zu führen; und dies ist der Zweck des Sokrates. Diese bloß negative Seite ist die Hauptsache. Es ist Verwirrung, mit der die Philosophie überhaupt anfangen muß und die sie für sich hervorbringt; man muß an allem ((466)) zweifeln, man muß alle Voraussetzungen aufgeben, um es als durch den Begriff Erzeugtes wiederzuerhalten.“

Das Denken beginnt mit Negativem? Mit Verlaub, furchtloser Schwabe, das ist Humbug. Denken erlebt jedes Kind als Faszination. Tatsächlich beginnt seit Augustin in der abendländischen Tradition das Denken mit Abräumen, Säubern und Generalreinigen, mit Herstellen der Tabula rasa.

Seltsam, dass kein Moderner sich die Frage stellte, ob negativ erlebtes Denken mit dem hiesigen Pflichtglauben zu tun haben könnte. Nicht nur im Korintherbrief warnt Paulus vor der Weisheit der Welt (= Philosophie), die vor Gott eine Torheit ist. Im Kolosserbrief wird’s unmissverständlich: „Sehet zu, daß euch niemand beraube durch die Philosophie und lose Verführung nach der Menschen Lehre und nach der Welt Satzungen.“

Griechisches Denken war Betätigen des eigenen Kopfes, just das, was Kant mit seiner berühmten – in seinem Land nie angekommenen – Formel meinte: habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen. Wer hingegen der Offenbarung huldigt, hat seinen Kopf am Portal des Münsters abgegeben.

Vernunft und Glaube sind wie Feuer und Wasser. Aristotelisch verseuchte Papisten lehnen den vernunftfeindlichen Kurs des Paulus, des Augustin und des Doktors Martin Luther ab, der Vernunft zur Hure erklärte, womit er unterschwellig zugab, dass Vernunft weiblich, verführerisch und sinnenfreundlich sei. Begreifen wir also den Uffriss der Vernunft gegen Luther als Kompliment. (Uffriss: gerade in Berlin gelernt.)

Dass die angebliche Reha der Vernunft durch Ratzinger & Co ein schlechter Scherz sein muss, beweist schon die Praxis des Vatikanstaates, der eine totalitäre Despotie ist. Geißler spricht immer beschönigend von absoluter Monarchie, das klingt anheimelnd nach Buckingham-Palace, Pferdepolo und schottischen Herrenröcken.

Vernunft ist die Methode gleichberechtigter und meinungsfreudiger Demokraten, keine Herrschaftsmethode irrtumsloser Greise kurz vor dem sakralen Burnout, die eine Weltsensation dadurch auslösen können, dass sie sich mit 85 frühpensionieren lassen. BILD hat bis heute nicht kapiert, dass die Unfehlbarkeit nichts mit der Privatperson des Papstes zu tun hat, sondern mit dem Stellvertreter Gottes, der in amtlicher Funktion auf seinem heiligen Stuhl (ex cathedra) sitzt und über Skype mit dem Himmel verbunden ist. Der Heilige Geist als lichtgeschwinde Verbindung von allem mit allem war die spirituelle Vorform des materiellen Internets.

Wer unfehlbar sein will, hat mit Ratio, Logos, Vernunft und Verstand nichts zu tun. Die Fähigkeit der Vernunft besteht darin, durch Versuch und Irrtum sich durchs Labyrinth des Lebens zu schlagen. Theoretisch hört dieser Kurs nie auf, praktisch sollte er in unbestechliche moralische Charakterstärke münden.

Nicht Kant, Sokrates war es, der den Unterschied zwischen theoretischer und praktischer Vernunft deklarierte. Theoretisch können wir das Meiste als unbeantwortbar auf sich beruhen lassen. Praktisch aber müssen wir unmissverständlich Stellung beziehen, wie wir mit uns und den Menschen umzugehen gedenken.

Wilhelm Nestle hat es klar beschrieben: „Damit tritt nun trotz des sokratischen Nichtwissens die positive Seite des Denkens und Handelns dieses Mannes ins Licht. So vieles er auch nicht weiß, was andere zu glauben wissen, eines weiß er doch: „dass das Unrechttun und der Ungehorsam gegenüber dem Besseren, sei es ein Gott oder ein Mensch, ein Übel ist, das weiß ich.“ (Vom Mythos zum Logos)

Gut handeln und sich gut befinden, schlecht handeln und sich schlecht befinden war für Sokrates identisch. Obwohl er es nie zu einer scharfen Definition des Guten brachte, wusste er dennoch zweifelsfrei, dass Unrecht leiden besser sei als Unrecht tun. „An dieser Erkenntnis konnte ihn weder der Triumph des Frevlers noch das Leiden des Gerechten irre machen. Das Unrechttun hat aber immer seinen Grund im Trachten nach äußeren Gütern wie Reichtum, Ehre und Macht. Das sind Güter, die die Welt für wertvoll hält. Wer aber für seine Seele sorgen will, der strebt stattdessen nach Wahrheit und Besonnenheit. Wer dies weiß, kann als der wissende Mensch bezeichnet werden.“

Hier sehen wir das Original, dem Jesus nachfolgen wollte. Vielleicht hätte er es geschafft, wenn er nicht auf die Idee gekommen wäre, ein Sohn Gottes zu sein und absurde Forderungen zu erfüllen wie: den Tod besiegen, um am Ende der Allmacht Gottes in die Hände zu fallen. Jesu Seinwollen wie Gott verdarb das Seinwollen wie Sokrates. Kommt ein Gott ins Spiel, ist es aus mit der Humanität.

Der abendländische Zweifel beginnt bei Augustin. Descartes Beginn der Moderne ist nichts als die Fortsetzung des kirchenväterlichen Glaubens. Er zweifelt an sich selber. Gibt es seine Person? Gibt es die Welt? Dieselben „radikalen Zweifel“ sind noch heute der letzte Hit feuilletonistischer Schwadroneure. Würde ein normaler Mensch an seiner Existenz zweifeln, käme er in die Psychiatrie.

Die Frage muss gestattet sein, ob Genie immer am Wahn erkennbar sein muss. Dann wäre die gegenwärtige Wahn-Weltpolitik ein einziger Geniestreich.

Woher kam der absurde Zweifel an der eigenen Existenz? Vom Sieg des Christentums. Wer nicht im Glauben ist, ist vor Gott ein Nichts oder etwas, was nur äußerlich vorhanden ist, tatsächlich aber keine Existenzberechtigung besitzt. Nur der Gottesglaube gibt die Lizenz zum wahren Sein. Alles andere ist Lug und Trug. Das Böse ist nichts als Nichtsein, ein Mangel, ein Beraubtsein an Gutem.

Dem Ungläubigen ermangelt es der göttlichen Berechtigung zum Sein. „Was vor der Welt nichts ist und was verachtet ist, hat Gott erwählt, das was nichts gilt, damit er das, was gilt, zunichte mache, auf dass sich kein Fleisch rühme.“ Sein gibt es nur in Gott. Wer nicht in Gott ist, ist ein Nichts, das nur durch Gott zu Etwas werden kann. Der Gläubige muss bekennen, dass er, bevor er glaubte, ein Nichts war, damit er sich nicht seines bloßen Menschseins rühme. Wer sich rühmt, rühme sich des Herrn.

Aus Nichts erschuf Gott das Sein. Hätte er das Nichts belassen, hätte es keine Chance zum Gutsein gehabt. Durch Zweifeln muss sich die Kreatur zunichte machen, dass sie Gott die Chance gibt, sie zu einem Etwas zu machen.

Christliches Zweifeln hat mit Erkennen nichts zu tun. Es ist eine Selbstauslöschung, um Gott die ehrenhafte Möglichkeit zu geben, die Ver-nicht-ung in eine Er-schaffung umzuwandeln. Jetzt sind wir zur deutsch-französischen Freundschaft zurückgekehrt. Wie Augustin musste der fromme Descartes an allem zweifeln, um seinem katholischen Gott die Ehre zu geben. Sich und die Welt musste er in Gedanken vernichten, um sie im Glauben aus Nichts neu zu erschaffen.

Dass er an seinen Sinneswahrnehmungen zweifelte, begründete er damit, ein böser Dämon könnte ihm alles vorgaukeln, was er zu sehen und zu hören glaubte. Der böse Dämon ist der Teufel, der ihm – wie einst Jesus – die schöne Welt zeigt, um ihn für sich zu gewinnen. Die weibliche Natur galt als sinnlich-verworfenes Reich der Sünde und des Teufels. Das Weib existiert nur im Modus des Nichts und des Zweifels. Erst durch Unterwerfung unter den Mann kann es am vollen Sein teilhaben.

Wie der Franzose die Welt durch faustische Zweifel zertrümmert, zertrümmert Goethes Faust die Welt:

Weh! weh!
      Du hast sie zerstört
      Die schöne Welt,
      Mit mächtiger Faust;
      Sie stürzt, sie zerfällt!
      Ein Halbgott hat sie zerschlagen!
      Wir tragen
      Die Trümmern ins Nichts hinüber,
      Und klagen
      Über die verlorne Schöne.
      Mächtiger
      Der Erdensöhne,
      Prächtiger
      Baue sie wieder,
      In deinem Busen baue sie auf!
      Neuen Lebenslauf
      Beginne,
      Mit hellem Sinne,
      Und neue Lieder
      Tönen darauf!

Faust schlägt mit der Faust – bei Nietzsche war der Hammer – die alte Welt entzwei, um die neue in seinem Busen neu aufzubauen. Neue Lieder tönen herauf. Das ist das Gesetz der Moderne, die die alte Welt vernichten muss – durch Zweifel an ihrer Qualität – um eine neue Natur aus dem Kopf des Menschen zu erschaffen. Singet dem Herrn ein neues Lied. Der neue Mensch, der homo novus, ist Sieger über die alte Natur und schafft ein völlig Neues.

Hegel irrte, wenn er das Denken mit „negativem“ Zweifeln beginnen lässt. Denken beginnt mit dem Enthusiasmus des Kindes, dass die Welt erkennbar und in Worten erfassbar ist. Irgendwann aber kommt jedes Denken ins Stocken. Nämlich dann, wenn es auf Hindernisse stößt.

Im platonischen Dialog Theaitetos hat Sokrates die Probleme beschrieben (Platon versteckte sich fast in allen seinen Schriften hinter dem Namen des verehrten Lehrers. Ab wann seine Meinung von der des historischen Sokrates abwich, muss stets genau überprüft werden): „So aber sind wir einfache Leute und darum wollen wir zunächst ganz schlicht unsere Gedanken für sich daraufhin überprüfen, ob sie uns miteinander übereinstimmen oder ob das gerade Gegenteil der Fall ist.“

Warum gibt es schon lange keine großen Denker mehr? Weil niemand ein einfacher Mensch sein will, der schlicht Widersprüche bemerkt und daraus seine Konsequenzen zieht. Heute muss alles genialisch sein. Genie beweisen, heißt, Widersprüche ignorieren oder schwerelos über sie hinweggleiten. Je mehr Widersprüche, umso genialer müssen die Thesen sein. Der schlichte Satz des Widerspruchs gilt heute nur bei Volltrotteln als Beweis für die Unwahrheit einer Behauptung.

Der Satz des Widerspruchs galt bis zur Aufklärung. Für die Romantiker – ab dem Theologen Hamann, dem Begründer der deutschen Gegenaufklärung – wurden Widersprüche zum Beweis der Wahrheit. Nach dem theologischen Motto: Gott lässt sich nur in Widersprüchen erfassen, musste alles Göttliche und Wahre ein heilloses Sammelsurium von Gegensätzen sein.

Das Widerspruchslose war trivial und substanzlos, Genies gaben sich mit dem Einfältigen und „Unterkomplexen“ nicht ab. Das Gegenteil zum Einfachen war das Komplexe, das Unausdenkbare. Bis heute hat sich das Komplexe als Erkenntnisform der Eliten erhalten. Wer das Einfache will, unterordnet sich den Propheten des Einfachen: den populistischen Rattenfängern.

Die moderne Welt ist für simple Gehirne zu komplex geworden. Deswegen hat es keinen Sinn, ihnen etwas zu erklären. Wenn Merkel nichts erklärt, liegt es nicht daran, dass sie selbst nichts mehr versteht – aber so tun muss, als ob –, sondern an der reduzierten Erkenntnisfähigkeit der Meute, die immer nur „Patentrezepte“ oder „Lösungen“ haben will. Heute gibt es keine Lösungen mehr für nichts. Schließlich muss die unrettbare Welt der einzigen Lösung zugeführt werden, die sich am fernen Horizont zeigt: der ER-Lösung.

Philosophieren beginnt mit Staunen. „Das Staunen ist die Einstellung eines Mannes, der die Weisheit wahrhaft liebt, ja es gibt keinen anderen Anfang der Philosophie als diesen,“ sagt Sokrates im Theaitetos. Das anfänglich naive Staunen des Kindes über die Erkennbarkeit der Welt verwandelt sich in das Staunen des Erwachsenen, der die Widersprüchlichkeit der Welt erkennt und durch strenges Denken die Chance erhält, entweder die Widersprüche zu beseitigen oder mit ihrer Unauflöslichkeit zu leben: hier endet fürs erste die Erkenntnis.

Hier sind wir an die Grenzen unseres bisherigen Erkennens gestoßen. Mag sein, dass andere diese Widersprüche einst auflösen werden. Was nicht bedeutet, dass unsere Erkenntnis grenzenlos ins Unendliche ginge. Die Grenzen unseres Erkennens festzustellen, war ein Hauptmotiv der kantischen Philosophie. Je weiter wir in der Erkenntnis vordringen, je mehr verstricken wir uns in notwendige Widersprüche, die alle gleich gut begründbar sind. Kant nennt diese Widersprüche Antinomien und hält sie für unlösbar.

Als Sokrates und sein Dialogpartner Theaitetos die Widersprüche ihrer Thesen bemerken, gerät Theaitetos ins Verwundern: „Wahrhaftig bei den Göttern, mein Sokrates, ich komme nicht aus der Verwunderung heraus über die Bedeutung dieser Dinge und zuweilen wird’s mir beim Anblick auf sie gerade schwindlig.“ Antwortet Sokrates, dass gerade die Fähigkeit zum Staunen die Fähigkeit des echten Philosophen ausmache. Wer nirgendwo sich wundern könne, der sei ein Hohlkopf oder ein unfehlbarer Stellvertreter Gottes. „Denn gerade den Philosophen kennzeichnet diese Gemütsverfassung, die Verwunderung. Denn dies und nichts anderes ist der Anfang der Philosophie.“

Sind Journalisten Staunende und Philosophierende, wenn sie tun, als hätten sie noch nie etwas von den Urelementen der Gesellschaften gehört? „Was ist los mit dieser Gesellschaft“ Herr XY, „wenn es immer wieder zum Bösen kommt?“ pflegen sie in der Pose der Nichtswissenden die Experten zu befragen.

Wenn sie wirklich staunen könnten, würden sie ein Streitgespräch beginnen, das mit Sicherheit einsdreißig überschreiten würde. Sie würden nicht nur Fragen stellen, sondern müssten auch ihre Meinungen zur Debatte stellen. Ein Staunen, das nicht in gleichberechtigtes Gespräch mündet, ist äffisches Kopieren des Staunens.

Ein heutiges Standard-Interview ist nichts als plapperndes Nachahmen des sokratischen Verwunderns. Der Fragende mimt den Unterlegenen, der tun muss, als wolle er eine Sache unbedingt wissen. Dabei fühlt er sich den Befragten insgeheim überlegen – ohne selbst auf Herz und Nieren geprüft zu werden. Es ist modisch geworden, die „demütige“ Haltung des sokratischen Nichtwissens einzunehmen.

Solange die Kategorien Wahrheit und Gespräch nicht rehabilitiert sind, bleibt journalistisches Fragen ein Haschen nach Wind.