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Tagesmail

Donnerstag, 13. September 2012 – Schirr-Stein

Hello, Freunde der Zahlen,

wie viele Milliarden hat die deutsche Wiedervereinigung gekostet? Über eine Billion Euro. Konnte die Bonner Republik sich die marode DDR leisten?

Der bisherige Schaden der Euro-Krise hingegen dürfte 300 Milliarden nicht übersteigen. Also abschirren, empfiehlt Ulrike Herrmann in der TAZ. Italien und Spanien könnten ihre Schulden selbst bedienen, wenn die Zinsen nicht auf 7 % steigen.

Wie wär‘s, die Griechen und Portugiesen als Ossis zu betrachten, bei denen es auch nicht hieß, sie würden die BRD ruinieren?

Wird Europa noch einmal lernen, sich als politisches Projekt zu verstehen? Ist der Crash gebannt, müssen die Banken allerdings an die kurze Leine.

Der eigentliche gesamteuropäische Konflikt werde erst im Spätjahr von Karlsruhe verhandelt, schreibt Christian Rath. Darf die EZB mehr tun, als den Euro stabil zu halten? Darf sie unbegrenzt „Geld drucken“, um Not leidenden Staaten zu Hilfe zu kommen?

 

Israel erwägt offenbar, den Iran mit elektromagnetischen Waffen anzugreifen oder in großer Höhe über dem Land eine Atombombe zu entzünden, um das ganze Kommunikationsnetz und das iranische Atomprogramm elektronisch zu zerstören.

Zwischen Washington und Jerusalem bahnt sich ein erheblicher Konflikt an. Netanjahu will sich

von Obama nicht hineinreden lassen, Obama will seinen Wählern kein neues militärisches Abenteuer zumuten.

Die zunehmende Entfremdung zwischen den beiden symbiotischen Staaten sei brandgefährlich, meint Damir Fras in der BZ. „Sie könnte geradewegs in einen Krieg führen, den der eine nicht gewinnen und der andere nicht gebrauchen kann.“

 

Die Welt wird durch die Klimakatastrophe neu verteilt. Was auf der Welt-Karte in der WELT rötlich bis rot ist, ist am meisten gefährdet. Was grünlich bis grün ist, lebt in geschützteren Gebieten.

Am schlimmsten wird es die Südsee-Paradiese und fast ganz Afrika treffen. Wenn man deutschen Landwirten folgt, wird eine kleine Erwärmung den hiesigen Ernten sogar nützen.

Unter den prekären Staaten die beiden Giganten Indien und China. Ihre ökonomische Aufholjagd wird ins Straucheln kommen, wenn sie keine radikalen Ökomaßnahmen ergreifen. Im Innern Chinas geschieht schon sehr viel, dennoch ist die offizielle Linie noch immer Aufholen um jeden Preis.

In den deutschen Berichten – immer an minderer Stelle platziert, um die Nerven der Leser zu schonen – wird viel über Südseeinseln geschrieben, aber so gut wie nichts über Afrika, wo ganze Landstriche durch unerträgliche Hitze unbewohnbar geworden sind.

Europa wähnt sich weit vom Schuss, aber immer mehr Flüchtlinge drängen in Richtung Norden, in jene gemäßigten Zonen, wo der umweltfeindliche Kapitalismus am ungemäßigsten und die größte Schuld am Elend trägt.

Die Zerstörung der Öko-Systeme verschärft die Gefahr von Umweltkatastrophen. Da empfiehlt es sich, von der aggressiven Mutter Natur zu sprechen, die dem Menschen nur Böses will, besonders, wenn man all ihre Schutzmaßnahmen aus Habgier zerstört hat. Wer sich um Naturgesetze nicht kümmert, darf sich nicht wundern, wenn Naturgesetze voraussehbar zuschlagen.

Europa baut sich in Erwartung der Flüchtlingsströme zur Festung aus. Deutschland will nicht mal syrische Menschen als Asylanten aufnehmen, die vor Assads Schergen fliehen.

Israel ist besonders betroffen von illegalen Immigranten aus Somalia und Äthiopien, die über die Sinai-Halbinsel eindringen. Die illegalen Einwanderer seien ein „Krebsgeschwür in unserem Körper“, sagte eine Likud-Abgeordnete und versprach alles zu unternehmen, „um sie dorthin zurückbringen, wohin sie gehören.“

Netanjahu spricht vom Problem der „Eindringlinge“, das man lösen müsse. Nur ein höherer Polizist schlug vor, den Flüchtlingen Papiere zu geben und sie arbeiten zu lassen. Eine Tageszeitung nennt ihn den „einzig weisen Mann innerhalb der xenophoben Regierungskreise“. (Susanne Knaul in der TAZ)

 

Die standardisierte Problemlösung der Moderne besteht darin, das Problem zu belassen und es mit einem zusätzlichen Problem zu bemänteln. Man denke an einen sichtbaren Tumor, den man pittoresk mit einem Tattoo bemalt und mit weißer Salbe bestreicht.

Seriöse Wissenschaftler haben den Vorschlag gemacht, die Folgen des Klimawandels durch „geo-engineerung“ zu dämpfen. Man könnte bestimmte Substanzen in den Äther schießen, die die Einstrahlung der Sonne abmildern.

Man weiß zwar nicht, ob das hülfe, schon gar nicht, welche unbeabsichtigten Folgen das für die Erde haben könnte. Was man aber mit Sicherheit weiß, ist, dass solche Hilfsmaßnahmen das Elend in den jetzt schon gefährdeten Gebieten verschlimmern wird. Also bestens geeignet aus der Sicht gemäßigter Zonen, die sich um Folgen in weit entfernten Gebieten nur kümmern, wenn lukrative Reiseziele gefährdet sind.

Die Rede vom Fortschritt ist aus den Gazetten gewichen, nur noch auf den Wirtschaftsseiten spricht man unentwegt vom grenzenlosen Wachstum.

Alles schaut angestrengt in die Zukunft, soll in Zukunft alles besser geworden sein? Selbst Pädagogen und Philosophen wollen fortschrittlich in die Zukunft schauen und reden verächtlich über das Wissen der Vergangenheit. „Wir überhäufen die Kinder mit einem Wissen, das aus der Vergangenheit stammt“, hat Richard David Precht seiner ersten Sendung vorausgeschickt.

Gibt es ein Wissen, das aus der Zukunft stammt? Alles Wissen sind Erfahrungen, die der Vergangenheit angehören – oder der Gegenwart, wenn wir das Wissen erlernt und gespeichert haben.

Lernen in der Schule soll den Zusammenhang mit der Vergangenheit hüten, schreibt Kerstin Decker in der TAZ. Deshalb könne es nicht nur Spaß machen. Einmal von der Vergangenheit gehört zu haben, das sei vielleicht die Basis jeder Kultur. Es könne Terror bedeuten, wenn ein Kind unablässig seine Kreativität entdecken und die Schule zum Labor der Selbstfindung umfunktionieren müsse.

Seit dem Creator ex nihilo wissen wir, dass Wissen in der Zukunft liegt, denn Schöpfer kennen keine Vergangenheit. Jeder kreative Knirps muss ein kleines Abbild seines großen Erschaffers sein, darf nicht nach hinten schauen, um nicht zur Salzsäule zu erstarren und muss bei „Jugend forscht“ Peterchens nächste Mondfahrt programmieren.

Warum Decker Vergangenheit mit Unlust und Zukunft mit terroristischer Lust assoziiert, bleibt ein Rätsel, denn jedes Erkennen ist ein freier und lustvoller Akt, während Kreativsein mit Einsichten erwerben nichts zu tun haben muss.

Nach Platon kann es gar nichts Neues geben. Denn Erkennen ist Anamnesis, Erinnern der Wahrheiten, die schon immer in uns vorhanden sind und die wir nur zum Bewusstsein bringen müssen. Etwas völlig Neues entdecken ist danach ausgeschlossen. Denn jede Erkenntnis bezieht sich auf zeitlose Wahrheiten, die wir höchsten variabel neu zusammensetzen können.

Das Neue ist nur die Variation des Alten. Für Christus nicht, der das Alte vernichten muss, um das ganz und gar Neue – das Göttliche und Messianische – aus dem Nichts zu zaubern. Selbstfindung mit terroristischer Kreativität in Verbindung zu bringen, wie Decker es tut, muss als aparte Neuheit angesehen werden.

Da zeitgenössische Erwachsene immer mehr gewillt sind, sich nie mehr zu kritisieren oder kritisieren zu lassen, kriegen ihre Kinder stellvertretend das Fett ab. Ihr seid nichts Besonderes, bellte ein amerikanischer Lehrer die Absolventen seiner Schule an. Ein aufmunternder Motivationsschub für zukünftige Lehrer und Erzieher. Die Besonderen werden von der Wallstreet erwartet.

Auch Decker stimmt das Lied vom Durchschnitt an und hält die Schule für einen Ort, wo „Mittelmaß optimiert“ wird. Bleiben nur noch britische Internate, wo besondere Schichten ihre Bälger zu kreativen Zockern bei immer geöffneten Fenstern und frischer Meeresluft am Spalier ziehen lassen.

 

Techniker und Naturwissenschaftler können keine Besonderen mehr sein, sonst würde Frank Schirrmacher – das ist der, der uns allen sagt, was wir denken sollen, so Jakob Augstein – nicht die gekränkte und enttäuschte Frage stellen, warum man uns alle Versprechen gebrochen hat, die man uns damals gegeben hat. (Frank Schirrmacher in der FAZ: Das Drama einer Enttäuschung)

Damals bezieht sich auf die erste Mondlandung der Menschheit mit lauter amerikanischen Kopernikussen.

Wo ist der Sieg über den Krebs, wo billige und risikolose Energie, wo das versprochene Ende der Arbeit, wo die fliegenden Autos, die waschenden Roboter?

Berechtigte Fragen, Schirrmacher hat nur vergessen, die Namen dieser Versprecher zu nennen, damit wir sie vor das Tribunal stellen: Versprochen, gebrochen: die Scharlatane der Menschheit.

Man fragt sich, welche Irrwische sich genötigt fühlen, solche haltlosen Versprechen in die Welt zu setzen? Natürlich wird sofort auf Roger und Francis Bacon verwiesen, die schon vor Jahrhunderten allerlei Tand versprachen, der heute leider Wirklichkeit geworden ist. Wie U-Seeboote, Laserkanonen und sonstige Erfindungen zum Ergötzen des Publikums.

„Ich verspreche dir“, ist heute eine stehende Sentenz in amerikanischen Serien, also muss sie etwas zu bedeuten haben. Da in Amerika sich alles um das Seelenheil dreht, haben wir auch schon den Großen Versprecher am Kragen, der nichts weniger als das Ende der schlechten alten Welt, die Erfindung einer nagelneuen, den zweiten Garten Eden und – die Hölle für Glaubensfeinde versprochen hat.

Hat Er bislang irgendwas gehalten? Nö. Da gibt es so ein verdammtes neues Fremdwort, das haargenau auf das Verhalten des Versprechers passt: Prokrastination, das man dringend allen Predigern ins Gebetbuch schreiben sollte. Es heißt so viel wie Manjana: komm ich heute nicht, komm ich morgen – oder an Matthäi am Letzten, ein Termin, der vom Volk in St. Nimmerleinstag umgetauft wurde.

Der Schöpfer ist ein Prokrastinator, der schon immer das Blaue vom Himmel versprochen hat, er hat‘s nur nie gehalten. Vermutlich hat sich Willy Brandt vom blauen Himmel inspirieren lassen, dass er, lang, lang ist‘s her, den Ruhrpottlern einen blauen Himmel über ihrem Kohlendreckschleuderrevier versprach. Willy hat Wort gehalten, der Schöpfer nie. Weshalb es eine Beleidigung wäre, Willy auf eine Stufe mit dem Schöpfer zu stellen.

Natürlich ist die Wortwahl in der heiligen Schrift viel gewählter. Man spricht nicht von Versprechen und Brechen, sondern von Verheißung und Erfüllung, wobei wir alle auf den Tag der Erfüllung warten und warten.

Wenn der Herr mal wieder sein Versprechen gebrochen hat, sagt man in prokrastinatorischen Pastorenkreisen: er verzieht mit seiner Verheißung. Womit wir auch gleich wissen, was verzogene Bälger sind: Kinder, die viel versprochen, aber nichts gehalten haben. Also gottgleiche Kinder.

„Dass erfüllet würden die Schriften“. Wenn etwas eingetroffen ist, was verheißen war, gilt das in frommen Kreisen als unschlagbarer Gottesbeweis. Das gilt natürlich nur für die Guten. Wenn ein Vater seinen Sprössling anherrscht, dass er, wenn er so weitermache, zu einem Fallott und Verbrecher werde, könnte man eher von einem Teufelsbeweis sprechen.

Seitdem die Deutschen der Welt das Heil versprochen, aber nicht gehalten haben, sind sie zum Zweckpessimismus übergegangen. Wenn die Chose schief ausgeht, haben sie Recht gehabt, wenn nicht, freut sich jeder und macht ihnen keinen Vorwurf.

Die Amerikaner sind ziemlich naiv im Vergleich zu den mit allen Wassern gewaschenen deutschen Zweckpessimisten. Noch immer tun sie, als seien sie zwecklos-optimistisch. Spätestens, wenn China sie überholen wird, werden sie zum deutschen Zweckpessimismus überlaufen.

Schirrmacher – und das hat nicht mal sein Sprecher Augstein bemerkt – ist tief enttäuscht und hat eine Heidegger‘sche Kehre vollzogen. Hat er noch vor Wochen das Silicon-Genie Kurzweil als Messias gepriesen, den hier keine Sau kenne, obgleich jener alles, was er versprochen, auch gehalten habe – pardon, was er verheißen, auch erfüllet habe –, so muss er nun, wie jene Adventisten, die an einem bestimmten Termin auf einen Berg ziehen, mit weißen Kleidern gewandet, um den Herrn zu erwarten, tief enttäuscht vom Verzug der Kurzweil-Parusie sprechen. Keine sprechenden, fühlenden, selbständig agierenden Computer und Roboter weit und breit! (Harald Staun in der FAZ)

Ja, in den 60er Jahren, so Schirrmacher, der ständig auf der Suche nach Genies oder solchen, die es werden wollen, sein muss, also in den 60ern hat es ein Genie gegeben, das sogar Einstein betört habe. Das unbekannte Universalgenie hatte den Begriff Cyborg erfunden (= cybernetic organism), ein Fabelwesen aus Natur und Kunst, wie Goethe formuliert hätte.

Gemeint war eine Mensch-Maschine-Einheit, die in „feindlichen Umwelten“ das blühende Leben mit einer Maschine verschmolz. „Ich dachte“, so der Urvater aller Cyborgs, „es wäre gut, ein Konzept zu entwickeln, das es Menschen ermöglicht, sich von den Beschränkungen ihrer Umwelt in dem Ausmaß zu befreien, wie sie es wünschten.“

Solche Cyborgs gibt’s in deutschen Märchen massenhaft, die zumeist mit der Verheißung beginnen: Drei Wünsche hast du frei. Selbst deutsche Märchen sind realistischer als amerikanische Genies. Am Schluss der Märchen pflegt die Erfüllung der Verheißung in den niedlichen Wörtchen zu bestehen: „Pauz. Perdauz, da liegen zwei, Genie und Cyborg nebenbei.“

In dem Bemühen der Menschheit, sich von den Beschränkungen der Natur zu befreien, in diesem Bemühen ist die Menschheit schon weit vorangeschritten. An der Dreisam sieht man immer mehr seltsame Mischwesen laufen, perfekte Centauren aus Turnschuhen, Handys und Ohrenstöpseln. Die Centauren waren übrigens Tier-Mensch-Symbiosen und ziemlich natürliche Vorläufer der Cyborgs.

Auch die deutschen Medien haben bereits einen Cyborg, der das Zeug dazu hat, den Deutschen das Denken und Fühlen auf Jahrzehnte hinaus vorzuschreiben, pardon, zu erleichtern. Das symbiotische Ding heißt Schirr-stein, eine meisterhafte Verschränkung aus Schirrmacher und Augstein.

Doch, liebe Brüder und Schwestern, wir wollen versöhnlich und heiter schließen. In seinem Gedicht „Natur und Kunst“, brachte Olympier Goethe hellsichtig-vorwegnehmend die heilige Hochzeit der weiblichen Natur mit der männlichen Maschine in klassische Reime:

 

„Mensch und Maschine, sie scheinen sich zu fliehen,

Und haben sich, eh man es denkt, gefunden,

Der Widerwille ist auch mir verschwunden

Und beide scheinen gleich mich anzuziehen.“

Hier müssen wir noch auf einen gewaltigen Unterschied zwischen Goethe und Silikon-Valley hinweisen. Die Cyborgs wollen alle natürlichen Beschränkungen überwinden. Doch der weise Meister des Zauberlehrlings befindet:

„Wer Großes will, muss sich zusammenraffen,

Nur in der Beschränkung zeigt sich erst der Meister,

Und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben.“

Nach seiner Kehre ist Schirrmacher auf dem besten Weg von der amerikanischen Entschränkung zur deutschen Beschränkung. Nachdem er nach vielen Dezennien ökonomischer Verwüstungen den Kapitalismus in die Schranken verwies, ist zu befürchten, dass er nach vielen Jahrhunderten der Naturzerstörung auch – die Ökologie entdecken wird.