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Donnerstag, 12. Juli 2012 – Kant und Vernunftreligion

Hello, Freunde Kants,

je mehr Menschen den Seelenhirten entfliehen, je stärker scheint die Macht der christlichen, jüdischen und muslimischen Kleriker zu werden. Wer ihre Auftritte in den TV-Kanälen verfolgt, bemerkt schon die veränderte Körpersprache. Da sitzen keine beifallsheischenden Virtuosen der Lindigkeit, wie noch vor wenigen Jahren. Da sitzen tele-theo-kratische Fürsten des Lichts, die den Ungläubigen den Weg zum ewigen Glück geigen.

Bei Anne Will saß ein Rabbiner, der sich strikt weigerte, über das angesagte Thema zu sprechen, sondern nur über die religiöse Bedeutung der Beschneidung predigen wollte. Ob es dabei um Körperverletzung und Rechtsverletzung geht – nicht sein Thema. Hätte ein weniger gewichtiger Herr derart selbstherrlich das Forum zur eigenen Propagandakanzel umfunktioniert, hätte Will ihm die rote Karte gezeigt. (Dazu Tim Slagman in der WELT)

Doch wenn zwei das Gleiche tun, ist es noch lange nicht dasselbe. Auch in den Medien herrscht das Vor-Recht des Außerordentlichen über das Recht des Gewöhnlichen und für alle Verbindlichen.

Dem Juristen Putzke stellte Rabbiner Ehrenberg die Frage, ob er besser wisse, wie man jüdische Kinder – sprich: männliche Kinder, das Thema Frauen kommt gar nicht vor – glücklich mache, als die Juden selbst. Das hätte auch

von Huber und Zollitsch kommen können. Die Religionen reklamieren wieder ganz offiziell das Monopolwissen über alleinseligmachende Wege zum Glück.

Wobei der Begriff Glück für Erleuchtete nur ein vorläufiger Hilfsbegriff ist, um das säkulare Publikum nicht sofort zu vergraulen. Sie meinen die Seligkeit. Glück ist ein Begriff der heidnisch verseuchten Philosophie.

Im Alten Testament kommt er vor, solange die Hebräer nicht daran dachten, ans Jenseits zu glauben. Erst seit das Leben nach dem Tode wichtiger wurde als das Leben davor, das Christentum sich allmählich ankündigte, wurde Glück als irdische Hybris verbannt.

Die ewige Seligkeit räumt das irdische Glück beiseite. Im Neuen Testament hätte kein Evangelist den Satz schreiben können: und Jesus starb alt, lebenssatt und glücklich. Im ganzen Neuen Testament kommt das Wort Glück nicht vor. Ein Leben vor dem Tode gibt es nicht mehr. Statt Glück auf Erden nur noch Seligkeit im Himmel. Das wird die Losung vom Untergang Roms bis zur Renaissance.

Die Demokratien konnten erst entstehen, als die Europäer der Neuzeit sich nicht mehr mit der Seligkeit im Jenseits zufrieden gaben, sondern bereits auf Erden ihr Glück finden wollten.

Gottesstaat oder Volksherrschaft: das war der Urstreit zwischen fremdbestimmter, jenseitiger Seligkeit und irdischer Autonomie und Autarkie. Zwischen Priesterherrschaft und Demokratie. Wenn Religionen sich die Alleinherrschaft über das Glück der Menschen zurückerobern, kann die Demokratie einpacken.

Die Himmelsvertreter sind gerade dabei, das verloren gegangene Gelände anzupeilen und die Demokraten vor sich her zu treiben. Die Intellektuellen wie immer auf der Seite der von oben gestützten siegreichen Mächte. Ist es doch viel interessanter, in den Tiefen des Numinosen zu erschauern, als die langweilige profane Demokratie zu verteidigen.

Wenn man nicht nachgewiesen hat, dass man die Aura des Heiligen bis zum sadomasochistischen Orgasmus des Messerschnitts verinnerlicht hat, zählt man zum Vulgär-Rationalismus, so der von Auftritt zu Auftritt numinoser werdende Navid Kermani.

Da hat er ins Schwarze getroffen. Vulgär kommt noch immer von vulgus, was auf Lateinisch dasselbe wie demos auf Griechisch heißt. Eine vulgäre Vernunft wäre die Vernunft des Volkes oder die herrschende Vernunft der Demokratie. Da wollen wir doch mit Lust Vulgärrationalisten heißen und uns ausgezeichnet fühlen, wenn die geschmähte Vernunft der Kern der Demokratie sein soll.

Wenn wir uns einen Titanen der philosophischen Demokratie anschauen, so heißt es an kundiger Stelle über ihn, er sei felsenfest davon überzeugt gewesen, dass der gute Mensch stärker sei als der böse.

Das kann man von unseren staatlich anerkannten Religionen nicht sagen. Von der Macht des Bösen sind sie so überzeugt, dass man die verruchten Kreaturen ein Leben lang an die klerikale Leine legen muss.

Woraus die Herrschaft des Papstes und alle modernen Totalitarismen entstanden sind, Platon hatte den unverrückbaren Glauben seines Lehrers an die Dominanz des Guten aufgegeben und den Grundstein gelegt für alle glückserzwingenden Faschismen des Abendlandes.

Über seinen Lehrer heißt es, dass seine Ethik „von jeder Art des Unsterblichkeitsglaubens unabhängig und rein diesseitig“ orientiert war. „Diese Ethik ruht auf den beiden Pfeilern der Autonomie und Autarkie. Hier handelt es sich um keine göttlichen Gebote, die befolgt werden müssten. … Wer sie befolgt, der ist der wirklich starke, freie und tapfere Mensch, der nichts, auch den Tod nicht fürchtet und unabhängig von allen Menschen und Dingen, sich selbst genügend, fest und sicher im Sturm des Lebens steht.“

Diese Ethik habe Sokrates weniger gelehrt als gelebt. Es ist die Ethik der Demokratie.

Wie konnten deutsche Gelehrte auf die Idee kommen, den Lehrer Platons mit seinem Schüler zu verwechseln? Nur Popper hat diesem Unsinn entgegengewirkt und darauf hingewiesen, dass Sokrates im idealen Staat Platons hingerichtet worden wäre.

Doch Popper wurde von deutschen Platonikern der totalen Vergessenheit übergeben. Die deutschen Graecomanen waren Aristokraten und Bewunderer starker Männer. Mit Vulgär-Demokratie hatten sie nichts am Hut.

Der Althistoriker Christian Meier fand es vor wenigen Wochen noch für richtig, die moderne Demokratie könne vom Athener Original nichts lernen. Der Name Sokrates fiel kein einziges Mal. Offensichtlich kann man Demokrat sein, wenn man einmal in vier Jahren an die Urne geht.

Dass man demokratische Fähigkeiten mitbringen muss, die schon von Kindesbeinen an durch Vorbild der Erwachsenen gelernt werden könnten, davon hat Emeritus Meier noch nie gehört. Ein paar äußerliche Regeln beachten, bei Rot nicht über die Ampel, im Übrigen die Obrigkeit walten lassen, das muss genügen. Selbst ein „linker“ Soziologe wie Franz Walter glaubt nur an die Verlässlichkeit von Institutionen.

Auf den wankenden Faktor Mensch will sich niemand mehr einlassen. Das wäre ja Moral und von dieser anrüchigen Ware distanziert sich jeder, der nicht von gestern sein will.

Demokratie ist langweilig, denn sie sagt immer dasselbe: machs Maul auf, denk mit deinem Kopf und behandle andere, wie du selber behandelt werden willst. Da gibt’s kein Tremendum und Faszinosum, da gibt’s keine postmoderne Neuerungssucht, keine denkerische Originalitätswut, keine abenteuernde und alles aufs Spiel setzende Eventmanie.

Die Haltung des überzeugten Demokraten lässt sich mit einem dürftigen und unansehnlichen Satz wiedergeben: „Die Philosophie sagt immer dasselbe, nämlich die Wahrheit, dass es nur ein wirkliches Unglück gibt, schlecht oder ungerecht zu handeln, und nur ein wirkliches Glück, gut oder gerecht zu handeln.“

Um dieses Glück geht es in der Demokratie und um keine Seligkeit im Himmel. Wem das bisschen schwankende und nie garantierbare Glück auf Erden nicht genügt, der mag aufs Jenseits hoffen. Das ist seine Privatsache, wenn er einer windigen Seligkeits-Zusatzversicherung bedarf – solange diese private Ideologie nicht das Glück der Demokratie gefährdet und sich überhebt, das autonome Gesetz zugunsten exzeptioneller Gesetze zu unterminieren.

Eben dies probieren jetzt die sich zusammenschließenden Religionen und wagen es, sich kraft angemaßter Sonderkompetenz über die herrschenden Vulgärgesetze hinwegzusetzen. Sie bevorzugen ihre im Offenbarungsfieber erdachten theonomen Gesetze.

Wie vieler Kämpfe bedurfte es, um die Herrschaft der Seligkeitsmonopolisten zu brechen? Wie viele Opfer mussten Vulgär-Aufklärer bringen, um Opfermesser, Hexen- und Ketzerfeuer den gesalbten Händen der Priester, Rabbiner und Mullahs zu entreißen?

Erstaunlich, in welchem Maß unumschränkte Herren über die Glieder ohnmächtiger Söhne, über Kindertaufen und Einsegnungen, völlig die Gefahr beschweigen, sie könnten mit ihrer irrationalen Haltung die Demokratie ins Wanken bringen.

Da ist kein Jota Problembewusstsein zu erkennen. Haben sie kein Interesse am Erhalt der Demokratie? Haben sie vom Himmel die Lizenz, nach Belieben mit der Demokratie das Experiment durchzuführen: wie viel Sonderrechte und Parallelgesellschaften verträgt eine doofe Demokratie, bis sie endlich ihren Geist aufgibt?

Wo sind eigentlich unsere bestallten Schützer der Kinderrechte? Kommen sie in den gleichgeschalteten Medien nicht zu Wort? Zu keiner Debatte war ein Kinderrechtler oder Erziehungswissenschaftler geladen. Das Thema Rechte der Kinder wird nicht mal erwähnt. Zwar gibt es eine UN-Charta für Kinderrechte. Doch die scheint für die Katz, wenn im Tremolo uralte Schriften memoriert werden.

Dann sollte man vielleicht konsequent sein und in den Öffentlich-Rechtlichen nicht nur James Joyce rund um die Uhr vorlesen, sondern das ganze Buch der Bücher und danach das Volk befragen, ob es sich noch immer christlich nennen will.

Auch die Frauenfrage im Zusammenhang mit der rein männlichen Beschneidung wird mit keiner Silbe erwähnt. Den professionellen Feminismus scheint‘s gar nicht mehr zu geben.

Vor Jahren polemisierte Alice Schwarzer noch vehement gegen den Verschleierungszwang der Musliminnen. Dass durch ein körperfeindliches Ritual die Macht der Patriarchen auf ewige Zeiten – ohne die geringste Chance der Humanisierung des Rituals – abgesegnet werden soll, findet sie heute nicht mal erwähnenswert.

Jüdische Frauen bleiben weiterhin zweitrangig, von einem Bund Gottes mit ihnen ist im Alten Testament nichts zu lesen. Ihre beschnittenen minderjährigen Söhne stehen Jahwe näher als sie.

Nicht zu glauben, aber in einer wehrhaften Republik gibt es sogar das Selbstbestimmungsrecht der Demokraten, das jedes religiöse Selbstbestimmungsrecht in die Schranken weist. In Schranken, die von jener Vernunft diktiert werden, der Kant in einem seiner letzten Werke ein Denkmal gesetzt hat.

Es ist jene, die die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft festhält, damit sie keine Gräuel mehr anrichten kann, die jeder kennt, wenn er in ein Geschichtsbuch schaut. In diesem Buch wendet sich Kant gegen die Anmaßungen einer „statutarischen Religion“, deren Gebote durch bloße Autorität gelten sollen.

Wo sind die heutigen Gentleman-Kantianer wie Otfried Höffe, die verhindern, dass der Königsberger den Priestern ausgehändigt wird?

Wirklich moralisch können nur jene Gebote sein, so Kant, die sich durch reine Vernunft erkennen lassen. Reine Vernunft ist allgemeine Vernunft aller Menschen, unabhängig von Religion, Rasse und Geschlecht.

Kant hat nicht das Wissen eingeschränkt, um irgendeinem Glauben Platz zu schaffen, sondern einer Vernunftreligion, die man daran erkennen kann, dass sie jeden blinden Glauben überwindet und allein auf dem Fundament der Vernunft ruht. Den Glauben an eine Offenbarungsweisheit nennt Kant Religionswahn und Afterdienst.

Der heutige Streit zeigt, was die Deutschen unter ihrer Synthese aus Glauben und Vernunft verstehen. Im Zweifelsfall hat die Vernunft sich dem afterdienstmäßigen Offenbarungsglauben zu beugen.

„Himmlische Einflüsse in sich wahrnehmen zu wollen, ist eine Art Wahnsinn …, der aber immer doch eine der Religion nachteilige Selbsttäuschung bleibt.“ „Alles, was außer dem guten Lebenswandel, der Mensch noch tun zu können vermeint, um Gott wohlgefällig zu werden, ist bloßer Religionswahn und Afterdienst Gottes.“ So Kant.

Wenn die vereinigte Christen & Juden & Muslime-KG auf ihren steinzeitlichen Blutritualen beharrt – auch die christlichen Kirchen haben sich den Beschneidungsbefürwortern angeschlossen –, muss ihnen klar sein, dass sie nicht nur Kant, sondern die gesamte jüdische Aufklärungsphilosophie aus der deutschen Geschichte hinwegfegen.

Waren Moses Mendelssohn, Salomon Maimon, Joseph Hirschfeld, Lazarus Bendavid, Spinoza, Leopold Zunz keine Juden? Wer heute sich anmaßt, im Namen des Judentums zu sprechen, ohne diese Denker auch nur zu erwähnen, muss als hiesiges Sprachrohr der Ultraorthodoxen betrachtet werden.

Dasselbe gilt analog für alle drei Erlöserreligionen, die sich daran machen, die mühsam errungene Demokratie in Stücke zu schneiden. Womit sie sich als Helfershelfer der Neoliberalen entlarven, die ohnehin die Macht der gewählten Regierung entrissen und den Finanzmärkten übergeben haben.

Nicht zum ersten Mal in der Geschichte, dass Weihrauch und Zaster sich zusammentaten, um die Macht über den vulgären Vulgus im Himmel und auf Erden zu verewigen.

Anne Will hielt es für richtig, das letzte Wort Rabbiner Ehrenberg zu geben, der sich an seine Gemeinde wandte mit der Beschwörung, die Beschneidungen nicht im Krankenhaus, sondern zu Hause oder in der Synagoge durchzuführen, wie die Thora es wortwörtlich vorschreibt: „Wir machen weiter.“

Damit ist im Namen der Religion der Kampf gegen das demokratische Gesetz angesagt.