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Donnerstag, 12. April 2012 – Broder (I)

Hello, Freunde der Psychoanalyse,

seitdem die therapeutische Psychoanalyse tot ist, ist sie als politische Kampfdisziplin glänzend auferstanden. Jeder benutzt sie, niemand spricht über sie. Auch hier muss das selbstverschuldete Verschweigen unnachsichtig gebrochen werden.

Die Anwendung der Psychoanalyse teilt sich in zwei Fraktionen: in die Analytiker im Sessel, die nie über sich reden und nicht gesehen werden wollen, und die Patienten auf der Couch, länglich hingestreckt, die nur über sich reden, die Augen geschlossen oder an die Decke starrend.

Blickkontakt zwischen beiden gibt es nicht. Es herrscht Bilderverbot, was die Autorität betrifft, die von den Patienten als gottähnlich empfunden wird, solange sie die Autorität in der Anfangsphase bewundern, später eher als teufelähnlich, wenn sie innerlich nachgereift sind, um ihre neuen Vater- oder Mutterfiguren symbolisch ans Messer zu liefern.

Einen Dialog kann man nicht nennen, wie die beiden miteinander sprechen. Jedenfalls keinen auf gleicher Augenhöhe, denn die Augen der Patienten befinden sich notgedrungen weit unter denen der Analytiker, ganz abgesehen davon, dass sie sich gar nicht in die Augen schauen.

Wenn Menschen Priester werden wollen, müssen sie sich bäuchlings auf den Boden legen, um den Segen zu erhalten. Der Fachbegriff klingt von weitem wie Prostitution, sagte mal ein Bösewicht, heißt aber Prostration.

Die Patienten liegen umgekehrt und schauen nach oben, wenn auch meist ins Leere, dennoch sollten wir

uns nicht scheuen, von einem eminenten Fortschritt der Evolution zu sprechen, wenn wir unser Antlitz vor lauter Sünd und Schand nicht mehr verstecken müssen.

Wenn man Segen symbolisch nimmt, könnte man sagen, auch die Patienten erwarten den Segen der Autorität, die ihnen sagt, ob sie trefflich an sich arbeiten, sich erinnern, nichts mehr verdrängen, alle Dämonen ihrer Kindheit zulassen, sie bewusst und damit unschädlich machen.

Ihre seelische Entwicklung wurde in der Kindheit durch Unverständnis und pädagogische Unfähigkeit der Eltern gestoppt, äußerlich wuchsen sie zu normalen Erwachsenen heran, innerlich verharrten sie auf jener Stufe der Entwicklung, die durch kränkende Intervention von außen blockiert wurde.

Die seelische Wunde, das Trauma, lässt sich mit einem Blutgerinnsel vergleichen, das die neuronalen Adern des Kindes verstopft. Bestimmte Erlebnisse werden dadurch eingekapselt und können sich durch ungehindertes Empfinden, Mitteilen und Bewusstmachen – durch Lernen – nicht mehr weiterentwickeln oder selbstkritisch, klug und weise werden.

Richtiges, sachgemäßes Reden kann heilen und die stumme Verkapselung aufbrechen. Die Wunde, an die der Patient sich gewöhnt hat, sodass er sie kaum noch spürt, muss erneut aufbrechen, wenn sie frei gelegt werden soll. Der Erinnernde spürt den Schmerz, den er als kindliches Opfer erlebt hat, ein zweites und bewusstes Mal und wehrt sich vehement, obgleich ihm klar ist, dass ohne Wiederholung des Erlittenen die neu blutende Wunde nicht ausheilen kann.

Der Patient erlebt die Autorität wie seine Eltern, die ihm die Wunde applizierten und rebelliert gegen den aggressiv, ja feindlich empfundenen Analytiker. Rebellieren war bei seinen Eltern strikt verboten, unterstrichen mit der sakralen Bedrohung, wenn er Vater und Mutter nicht ehrt, wird es ihm schlecht gehen im Lande seiner Väter.

Der Patient gilt als geheilt, wenn er seine blockierte Kindheit aufgebrochen und die seelische Entwicklung zum Fließen gebracht hat, den Mechanismus der Übertragung versteht, den Analytiker nicht mehr mit seinem Vater verwechselt, ihn nicht mehr als unterdrückende Erziehungsinstanz seiner frühen Jahre, sondern als wohlwollend-empathische, wenn auch strenge, Person erlebt.

Man könnte sagen, wie eine echte Autorität, die ihre Zöglinge wachsen lässt und nicht länger unterdrücken muss, aus Angst, der Heranwachsende könnte sie in Selbstbewusstsein und freier Intelligenz überflügeln.

 

Wer sind in der Grass-Affäre die selbsternannten Analytiker, wer wurde auf die Couch verwiesen, ob er will oder nicht? Mit einem Dialog haben wir‘s jedenfalls nicht zu tun.

Wehrt sich der Patient gegen eine Deutung, die er als peinlich oder kränkend empfindet, tut er das, indem er den Experten für borniert oder unfähig erklärt. Der hingegen lässt sich auf eine etwaige Theoriedebatte nicht ein, sondern erklärt den Widerstand als sachgetarnte Abwehr gegen die Deutung, die einen Nerv getroffen haben muss: nur getroffene Hund bellen.

Die Ähnlichkeiten der momentanen politischen Debatte mit einer öffentlichen Therapie liegen auf der Hand, doch weder Analytiker noch Patienten bekennen sich zu ihrem unfreiwilligen Rollenspiel, schon gar nicht zum Zweck, das verfahrene Scharmützel aus der Sackgasse zu befreien und voran zu bringen.

Die erhitzte Art der Debatte ähnelt selbst einem verkapselten Trauma. Fast alles klingt déjà vu. Wenn die beidseitigen Schlag-Rituale unter Wiederholungszwang stehen, muss man schließen, dass die zugrunde liegenden Verwundungen kein bisschen verheilt sind.

Die lindernde Wirkung bewusstmachenden Besprechens hat sich nicht eingestellt oder sollen wir sagen: sie soll sich auch nicht einstellen?

Sind die Kontrahenten auf archaische Feindbilder einer bis heute nicht aufgearbeiteten deutsch-jüdischen Symbiose fixiert, ähnlich geschiedenen Eheleuten, denen es auch lange nach der Trennung nicht gelingt, ihre früher verdrängten Konflikte so anzusprechen, dass sie sich einer Verständigung, vielleicht einer Versöhnung annähern?

Sind Verständigung und Versöhnung überhaupt gewollt? Hier schon trennen sich die Geister. Die Deutschen haben Schuld-, die Juden Rachegefühle. Hier stock ich schon.

Unisono ist von jüdischer Seite zu hören, dass sie keine Rache kennt. Bevor der israelische Premier ermordet wurde, hielt das ganze Land es für unmöglich, dass ein Jude einen Juden ermorden könne, als sei dies noch nie vorgekommen.

Die Deutschen reden nicht von ihren Schuldgefühlen – höchstens in Festtagsreden –, die Juden leugnen ihre Rachegefühle.

Die Juden, die die Rolle der Analytiker eingenommen haben, vermissen die elementarsten Eingeständnisse der auf der Couch liegenden Deutschen und werfen ihnen die Deutung an den Kopf, sie würden an ihrer Schuld würgen: gebt doch endlich zu, dass ihr tatsächlich Schuldgefühle habt und nicht nur pathetische Feiertagspredigten halten könnt.

Die Folgerungen liegen auf der Hand. Wenn diese Diagnose stimmt – wofür vieles spricht -, sind Deutsche aus mangelnder Fähigkeit, Schuldgefühle einzugestehen, in der Gefahr, erhebliche Fehlleistungen zu begehen. Man schlüpft unversehens in die Rolle der Opfer, überidentifiziert sich mit ihnen, allezeit bereit, die „Kosten“ der Überidentifikation in Form von Aggressionen an den Opfern loszuwerden. Die Opfer, heißt es dann, seien noch schlimmer als die Täter.

(Diesen Bruch konnte man nach dem 6-Tage-Krieg der Israelis bemerken. Die zumeist im CVJM und in den Kirchen sozialisierten Jugendlichen waren hellauf begeistert über die soldatischen Qualitäten der ehemaligen Memmen und berauschten sich an den phänomenalen Erfolgen der Wüstenkrieger, Moshe Dajan mit Augenklappe reüssierte zum neuen Rommel.

Doch kurz danach sank alles ab, als die ersten kritischen Nachrichten über den neuen Imperialismus der zionistischen Helden in die hiesigen Medien drang. Die Supermänner begannen allmählich sich ins Gegenteil zu verkehren. Hierzulande war man verblüfft, dass die nur als Opferjuden bekannten Kinder Israels zu solchen Schandtaten gegenüber den ohnmächtigen Palästinensern fähig waren).

Durch diese Retourkutsche verringert sich der Druck, allein auf der Welt die bösen und verachtenswerten Täter zu sein. Wenn alle böse sind – auch die eigenen Opfer –, lässt der Druck der Schuld nach. Jeder Schuldige will rehabilitiert werden und in den Schoss der Normalität zurückkehren.

In der Religion ist der Mechanismus der Schuldverringerung oder -vergebung klar: der Sünder muss seine Sünden bekennen, bereuen, seine Strafe akzeptieren – wenn er katholisch ist. Nach der symbolischen Strafe ist er sündenfrei und kann sich fröhlich trollen.

Ist er protestantisch, muss er in seinem Kämmerlein alles allein mit seinem Gott ausmachen. Ob der himmlische Vater ihm vergibt, ist nicht so klar wie bei den katholischen Stellvertretern des Himmels. Er muss es glauben. Ist sein Glaube nicht mehr taufrisch, bleibt er auf seinen Schuldgefühlen sitzen.

Da die deutsche Intelligenz zumeist aus protestantischen Pastorenfamilien stammt, liegt die Vermutung nahe, dass sie ihre Schuld mangels totgesagtem Gott nicht loswerden.

Da es im politischen Bereich keine Priester gibt, die die Rolle der Strafenden und Vergebenden übernehmen – was geschieht stattdessen? Man stilisiert die Opfer zu Ersatzpriestern, hält sie kompensativ für bessere Menschen, entdeckt dann aber „enttäuscht“ – in Wirklichkeit erleichtert, denn Menschen, in deren Schuld man ist, die einem in fast alle Bereichen überlegen sind, hält man im Kopf nicht aus, man muss sie aufs eigene Maß reduzieren – die Schurkenseite der bisherigen Idole.

Zwischen Idolisierung und Dämonisierung ihrer ehemaligen Opfer schwanken die Deutschen bis heute in kaum berechenbarem Maß. Eine kollektive Selbsttherapie findet nicht statt.

Die unerträglichen Weihrauch- und Erinnerungsrituale versteinerter Politiker tun ein Übriges, um die Nation, die glaubt, ihre Vergangenheit aufgearbeitet zu haben, wenn sie die Anzahl der KZs herbeten kann, im Status untergründiger Täter-Traumata zu fesseln.

Das trifft in bestimmter Hinsicht auch auf die nachfolgenden Generationen zu, die zwar keine Schuld auf sich geladen haben, dennoch die Schuldgefühle ihrer Eltern verinnerlichten.

Das psychoanalytische Gründerpaar Mitscherlich befasste sich noch mit tiefenpsychologischer Erforschung der deutsch-jüdischen Beziehung. Schon bei H.E. Richter verlor sich diese Spur, der sich mit den emotionalen Begleitumständen der 68er-Bewegung befasste.

Aus heutiger Sicht waren die Ergebnisse der Mitscherlich-Formel: Die Unfähigkeit zu trauern, alles andere als erhellend und weiterführend. Kein Täter betrauert seine Opfer. Will er seine Taten verstehen, muss er sie – verstehen lernen. Muss er herauskriegen, welche Motive ihn zur bösen Tat nötigten.

Die Erforschung der kausalen Beweggründe überließ das Analytikerpaar den Historikern, die sich bis heute noch nicht darauf einigten, ob die Taten der Schergen überhaupt gewollt und intendiert waren (Intentionalisten) oder ob sie nur im Chaos des Krieges und mangelnder Koordinationsfähigkeiten irgendwie passiert sind, um das über den Kopf wachsende Desaster einer drohenden Niederlage durch Überbietung des Grauens zu reduzieren (Strukturalismus).

Dass der Strukturalismus überhaupt salonfähig werden konnte und wegen absoluter Verharmlosung und Relativierung nicht sofort in Grund und Boden gestampft wurde, bleibt ein Rätsel.

Die Nazis verübten schlimmste Verbrechen – ohne gewollte, bewusste und geplante Gründe zu haben? Ist vielleicht der Teufel irgendwie in der Nacht über sie gekommen? Vielleicht ein Inkubus?

Die Deutschen wollten nicht in toto schuld sein. Karl Jaspers, halbwegs unbescholten davongekommene philosophische Autorität (er ließ seine jüdische Frau nicht im Stich und hielt sich – im Gegensatz zu seinem Freiburger Kollegen Heidegger – mit der Bewunderung der Nazis zurück) lehnte die Kollektivschuld ab, als seien nicht 99,9% aller Deutschen mit wachsender Emphase mitgelaufen.

Ein Kollektiv ist nirgendwo die komplette Gesamtheit einer Population, sondern jene Mehrheit, die das Geschehen agitiert und mitmacht – oder aber sich nicht zur Wehr setzt. Die Widerständler kann man bekanntlich an einer Hand abzählen und das bei vielen 100 000en von Menschen. Wenn das kein Kollektiv ist, gibt’s keine Kollektive auf der Welt.

Schnell einigten sich die Deutschen auf die „Opferformel“, sie seien verführt worden, sie seien nur Mitläufer, aber keine überzeugten Endlöser und Judenfeinde gewesen. Über Nacht gab‘s fast nur noch Widerständler und Judenretter.

(Als sich kürzlich herausstellte, dass der Nachkriegswissenschaftler und Friedensapostel C.F. von Weizsäcker ein fanatischer Naziideologe war, verschwand die Nachricht blitzschnell im Papierkorb. Keine einzige Persönlichkeit von Rang wollte das Image des Bruders des ehrwürdigen Ex-Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker in den Dreck ziehen.)

Der Kreis der Übeltäter schrumpfte schnell auf einen ausländischen Führer mit seinen zwölf Aposteln. Als Goldhagen den deutschen Dissimulanten die Leviten las und ihnen einige kollektive Tatsachen ihrer Vergangenheit unter die Nase rieb, gab‘s Klassenkeile von Augstein sen. bis Mommsen und Nolte, der sogleich noch eins drauf setzte und die deutschen Untaten auf dem Mist eines gewissen Stalin wachsen ließ.

Gleichzeitig machten sie brav ihre Hausaufgaben, errichteten Museen, führten Gedenktage ein, hielten pathetische Schuld- und Schamreden, die gut gemeint, aber von keiner Einsicht getrübt waren.

Eine kontinuierliche Auseinandersetzung fand nicht statt, man klopfte sich auf die Schulter und ließ sich mal wieder bescheinigen, wie man in weltmeisterlicher Qualität seine Vergangenheit aufräumt: wie die Feuerwehr eine schwelende Messibude. Mit dem Schlauch reinhalten, alles auf die Straße spülen, dann nichts wie weg.

Die Grass-Affäre zeigt, in welchem Maß hinter den ehrbaren Fassaden sich die Abgründe auftun. Uralte Fronten tun sich auf, es wird zunehmend schärfer geschossen.

Niemand fragt sich, warum ein harmloses Gedicht es schafft, die Illusionen der Annäherung zwischen Tätern und Opfern mit einem Schlag in ein Fast-Nichts zu zerstäuben.

Man kann inzwischen etwa drei Kombattantengruppen unterscheiden.

Da sind zuerst jene, die Moshe Zuckermann die deutsch-jüdische Intelligenz nannte. Es sind jene Juden, die sich zur Aufgabe gesetzt haben, mitten im Lande der Extäter nach dem Rechten zu schauen, ständig in realen oder demonstrierten Ängsten, die Ungeister der Vergangenheit könnten wieder ausbrechen.

Also schreien sie wie übereifrige und furchtsame Kinder beim geringsten Anlass Feuerio. Die kleinste Analogie zu Nazi-Vorgängen ist für sie der Schlüsselbeweis, dass der deutsche Leviathan sich wieder rührt. Sie suchen sich Verstärkung bei prominenten amerikanischen Juden, zu denen sich heute auch der Franzose Henry Levy gesellte.

Da ist die zweite Gruppe der nüchternen Israelis, die nicht den nagenden Selbstvorwurf kennen, sie würden ihre neue Heimat durch „bequemes“ Diasporaleben zu wenig patriotisch unterstützen. Sie sind stolz auf das Wunder der Staatswerdung ihrer neuen Heimat, an der sie leidenschaftlich beteiligt waren. Ihr hart erarbeitetes Selbstbewusstsein macht sie souverän und fähig, ihren Staat illusionslos-selbstkritisch zu sehen.

Da ist die dritte Gruppe des offiziellen Deutschlands, das glaubt, sich feige raushalten zu können, als ginge das merkwürdige Gezänk um ein Gedicht sie nichts an.

Deutsche Juden reagieren gereizt und aggressiv, wenn sie den Eindruck haben, die Täternation stiehlt sich aus ihrer Vergangenheit, als habe sie mit ihr nichts mehr am Hut. Das kann man ihnen nicht verdenken.

 

Rüpel Broder ist das Paradebeispiel für solche prophylaktischen Beißzwänge. Er, der privat ein zuvorkommender und freundlicher Mann sein soll, ist jemand, der seine Ängste nicht zu benennen weiß und lieber mit spätpubertierenden Hämeformeln attackiert, auch wenn’s unter die Gürtellinie geht.

Nicht verwunderlich, wenn die Angegriffenen im selben Stil zurückpöbeln. Das hatte mal einen gewissen Unterhaltungswert, inzwischen hat die Methode affektiven Wadlbeißens ihren Charme verloren.

Broders Angriffe sind stereotype Formulare, die sich schematisch nicht ändern, sondern stets nur mit neuesten schändlichen Beispielen der antisemitisch verseuchten Deutschen aufgefüllt werden.

Antisemitismus hält er für das angeborene Böse der Gojim, das unerklärbar überall und jederzeit ausbrechen kann.

Zu Recht traut er keinem Deutschen über den Weg und scheint sich wie ein Undercoveragent in einem äußerlich vertrauten, aber im Grunde feindlichen Land zu fühlen.

Argumente kennt er keine, ja, er lehnt sie nach dem Nietzsche-Motto ab, wer argumentiert, hat‘s nötig. Er begnügt sich mit bloßem Zitieren, von dem er sich magische Wirkungen erhofft.

Seine Deutungen der schwarzen deutschen Seele hält er für so überzeugend, dass vermutete Motivationen für ihn beweiskräftiger sind als belegbare Taten. Damit begibt er sich auf das tiefenpsychologische Allwissenheitsniveau der Bergpredigt, die verborgene Gedanken für schlimmer als begangene Untaten hält.

Fühlt Broder sich bedroht, schlägt er zu, als sei wissenschaftlich erwiesen, dass er real bedroht worden sei. (In Amerika können Menschen erschossen werden, wenn man sich von ihnen bedroht fühlt.)

Seine psychoanalytischen Deutungen hält er unbeirrbar für der Weisheit letzten Schluss. Da befindet er sich in bester Gesellschaft anderer Seelendeuter wie Joffe und Schirrmacher, die ihre Antisemitismus-Fündlein nicht als Möglichkeiten betrachten, sondern als offenbarte Wirklichkeiten.

Jeder erfahrene Analytiker weiß um den Vermutungscharakter seiner Deutungen, die, auch wenn sie noch so richtig wären, keinerlei Aufklärungswirkungen haben, wenn sie der andere nicht durch eigene Wahrnehmung bestätigt.

Man kann Freuds Erkenntnisse nutzen, um neurotische Menschen über sich selbst aufzuklären. Man kann sie allerdings auch zur emotionalen Vernichtung des Gegners benutzen, als sei man dazu vom heiligen Geist legitimiert.

Gleichwohl ist Broder ein gewitzter und partiell scharfsichtiger Zeitgeistbeobachter, dem man das schreckliche Schicksal nicht ersparen kann, wenigstens un peu verstanden zu werden. Nicht alles ist falsch, was er von sich gibt, auch wenn er das Richtige und Wertvolle durch viel obligates Feldgeschrei gut zu verstecken weiß.

Er spricht von Strafbedürfnissen der Deutschen, die nie auf ihre Kosten gekommen seien. Ohne Strafe aber, so meint er, könne es keine Resozialisierung geben. Hier verwechselt er humane Pädagogik mit dem Alten Testament: wen Gott liebt, den züchtigt er. Sollte dieses Prinzip aber wahr sein, warum gilt es nicht für Israel, das sich nicht wenig gegen Menschenrechte versündigt?

Die kleinste Kritik am heiligen Land versenkt Broder als verkappten Antisemitismus. Freundschaftsbekundungen fallen bei ihm generell unter Heuchelverdacht. Offenbar hält er den Haggadah-Satz für richtig, dass die vereinigten Gojim in jeder Generation aufstehen, um die Juden auszulöschen.

Es ist die genaue Parallele zu säkularen Ex-Christen, die sich längst nicht mehr als Gläubige betrachten und dennoch dringt ihnen Biblisches aus allen Knopflöchern.

(Betrachtet man die Grass-Affäre unter psychoanalytischen Kriterien, fällt einem ins Auge, dass die deutsch-jüdischen Analytiker sich wie eine weiße Leinwand benehmen, die nur über andere reden, nie über sich selbst Auskunft geben. Professionelle Analytiker begründen diese Einseitigkeit – oder Anmaßung – mit dem Hinweis, sie seien durch eine Lehranalyse hindurchgegangen und besäßen keine dunklen Ecken mehr.

Das hat zur Folge, dass immer über deutsche Defizite, nie über jüdische gesprochen wird. Völlig anders bei „selbsthassenden“ Israelis wie Uri Avnery, Moshe Zuckermann oder Gideon Levy, die in schärfster Form jüdische Selbstkritik üben.

Das unerfüllte Strafbedürfnis der Deutschen führe zur „German Angst“, so Broder, die überall Weltuntergang befürchte – oder aber Täter und Opfer, Ursache und Wirkung, vertausche. So erklärt sich Broder das anstößige Grass-Gedicht.

Dass dies eine reelle mögliche Gefahr ist, kann man schlechterdings nicht bestreiten. Doch Möglichkeit ist nicht Wirklichkeit, das ES ist kein ICH, unbewusstes potentielles Probehandeln ist noch lange keine reale Verunglimpfung des Staates Israel.

Vor allem ist zwischen Motiven und Argumenten streng zu unterscheiden, worauf Freud nicht müde wird, hinzuweisen. Das „falscheste“ Motiv ist kein Beleg für ein falsches Argument. „Idioten“ können hellsichtiger sein als hochkulturierte Verdränger und Rollenspieler.

Ob Grass Recht hat mit seiner kritischen Sicht auf Israel, kann dem Kaffeesatz seines Unbewussten nicht entnommen werden. Fortsetzung folgt.

[Die Fortsetzung kann unregelmäßig sein, die Kommentierung der Tagesereignisse hat Vorrang.]

Gesamtkommentar zur Grass-Affäre siehe: Kontroversen – Günter Grass – Israel-Gedicht